9 Existentielle und morphologische Ansätze

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9.1 Existentielle Ansätze

9.17 Ziele/Perspektive

1. Dem existentiellen Literaturforscher hat es nur um die Grundfragen von Existenz zu gehen, und zwar so, wie sie sich im jeweiligen Objekt präsentieren, aber die eigene Substanz des Forschenden muß mit im Erkenntnis- oder besser: Erlebnisprozess veranlagt sein. Die existentielle Untersuchung richtet sich auf die Fundamente allen Lebens, jeder realen Existenz. (Maren-Grisebach, 54)

2. Durch den existentiellen Bezug werden Leser und Literatur enger als bisher zusammengeschlossen. Ja, wenn möglich so eng, dass das sogenannte Subjektive des Lesers von dem sogenannten Objektiven des ihm gegenüberstehenden Werkes nicht mehr zu trennen ist und beide ineinander aufgehen. (Maren-Grisebach, 56)

3. Anhaltspunkt für das „Entbergen“ des Wesentlichen sind immer dort zu finden, wo Themen, die die Existenzphilosophie in den Vordergrund stellt, wortlich ausgedrückt oder aus dem Stil destillierbar erscheinen: Angst, Bedrohung, Sorge, Tod, Einsamkeit. Kierkegaards Angstphilosophie hat in der Literaturwissenschaft ebenso gewirkt wie Heideggers Proklamationen vom „Sein zum Tode“. Der Literaturwissenschaftler hat diese Züge aufzudecken, und das auch in Werken, die, oberflächlich gesehen, derartig Substantielles nicht zu beherbergen scheinen. “Eine legitime existentielle Literaturwissenschaft bestrebt sich [...], alle idealistischen Sublimierungen zu durchschauen und alle Illusionen des ‘Man’ als solche zu entlarven“ (Lunding 1958, 13f.). Der Begriff des „Man“ ist von Heidegger übernommen. (Maren-Grisebach, 61f.)

4. In der existentiellen Literaturwissenschaft kommt es z.B. zur Verfinsterung des Stifter-Bildes. So sieht Lunding die Einsamkeits- und Todesmotive, die Angst- und Wahnsinnselemente als die entscheidenden und bestimmenden in Stifters Erzählungen. (Maren-Grisebach, 62)

5. Für das literaturwissenschaftliche Arbeiten ergibt sich aus der Ambivalenz hinsichtlich der Geschichte: Von dem geschichtlichen Ort eines Werkes, von den stofflichen Bedingungen soll abstrahiert werden, soweit es sich um bloße Faktizität handelt, im Aufbereiten von Faktischem verstelle man sich den Zugang zum Eigentlichen, und durch Bewusstmachen der historischen Dimension verstelle man sich das unmittelbare Verständnis. Die zeitliche Entfernung, die zwischen Betrachter und Werk liegt, gilt es zu tilgen, und dafür muss das, was an dem Werk zum bloß Vergangenen eines Stoffwissens gehört, verworfen werden. Aber die Zeit, das heißt die Geschichtlichkeit in Form der Gegenwart, ist für den Betrachter eminent wichtig; „‘existentiell’ darf darum nur eine Wissenschaft heißen, der die im Werk begegnende Existenz Gegenwart wird“ (Dehn 1937, 40). Nur aus einer unmittelbaren Gegenwärtigkeit springt das unmittelbare Verständnis. Und dies nimmt seinen Weg über die alle Menschen gleich anrührenden Existenzfragen; der Umgang mit jederzeit Gegenwärtigem ermöglicht ein Verstehen des zeitlich Entfernten. „So muß jedes Gefühl, jede Gebärde aus ihrer zeitgebundenen Form erlöst und in meine Zeitform überführt werden, damit in ihr das Ewigmenschliche aufleuchte“ (Spoerri 1951, 20). Aber auch „meine Zeitform“ bezeichnet etwas Zeitgebundenes, daraus erwächst die Pflicht für den so Denkenden, Dichtung immer neu zu rezipieren. Jeder, der Dichtungserkenntnis sucht, muß diese mittels eines je neuen Kontaktes neu herstellen, denn das Verstehen muss ein ursprüngliches sein, kein geschichtlich sich einfühlendes. Die Ungeschichtlichkeit, die der Methode so häufig vorgeworfen wird, besteht also darin, dass sie ein Verstehen des Werkes als eines historischen nicht intendiert, sondern dass sie die Probleme von Existenz aus den Dichtungen extrapolieren will. Der Bezugspunkt der Untersuchung ist dadurch zwar ungeschichtlich, aber andererseits ist er nur geschichtlich erfahrbar. (Maren-Grisebach, 65f.)


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