9.1 Existentielle Ansätze9.18 Vorgehensweise
1. Der Forscher hat eine Identifikation mit der ins Werk
gesetzten Existenz vorzunehmen. Der eigene Einsatz wird gefordert, eine
subjektive Ergriffenheit statt einer distanzierten Zuschauerhaltung. „Der
Forscher muß seine eigene Existenz in die Waagschale werfen, muß geistig Partei
ergreifen, muß sich in unmittelbarer, gegenwärtiger gegenwärtiger Begegnung mit
dem Forschungsobjekt selber existentiell entscheiden“ (Lunding 1946, 139). Der
Dialog mit dem literarischen Werk zum Zwecke der Existenzerhellung soll vor
sich gehen. Eine Art „Parteilichkeit“, aus ethischen, religiösen, politischen
Kriterien genährt, kennzeichnet die Arbeitsweise. (Maren-Grisebach, 54) 2. Der Gefahr eines völlig willkürlichen Gefühls wollen
die Existentiellen damit vorbeugen, dass sie erläutern, das Gefühl müsse seinen
Beweggrund, seinen Anstoß in der jeweiligen Literatur haben. Als begründende
Akte einer literaturwissenschaftlichen Arbeit gelten zwar das subjektive
Sich-Einlassen mit der Dichtung und das seelische Wahrnehmen, aber „diese
Wahrnehmung abzuklären zu einer mitteilbaren Erkenntnis und sie im einzelnen
nachzuweisen, ist die Aufgabe der Interpretation“ (Staiger 1955, 15). Damit ist
eine Tendenz zum Verifizieren vorhanden, die vom subjektiven Gefühl zur
objektiven Richtigkeit verläuft. Aber auch für dieses Zum-Ziel-Laufen ist das
Gefühl zuständig. Ist dann der Nachweis durch Rückgang auf Einzelheiten der
jeweiligen Dichtung gelungen, müsste sich beim Meta-Reipierenden dasselbe
Gefühl einstellen. (Maren-Grisebach, 57) 3. Bei der Betrachtung von Literatur sei darauf zu achten,
wie man gestimmt ist oder wird, was das Werk an Stimmung in einem auslöst, was
es an vorhandener Stimmung umfärbt, das gibt wesentlichen Aufschluss. „Man wage
es nur getrost, gestimmt zu sein“ – lässt sich ein Wort Kierkegaards abwandeln. Dadurch ist auch die subjektive Art der Auslegung
gerechtfertigt. Auslegung ist nach Heideggers Ansicht „nie ein
voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen“ (Heidegger 1960, 150). Da ihm
Stimmung zusteht, ist der Auslegende bereits durch eine ihm eigene Vorstruktur
gezeichnet, und diese ist so stark, dass sie das Gegebene verändert, indem sie
es an die eigene Gefühlslage assimiliert. (Maren-Grisebach, 58f.) 4. Im Literatur Aufnehmenden muss sein “Ursprung“ aktiv
werden, und das bedeutet seine Empfindungswelt, die durchsetzt ist von
Emotionen, Sym- und Antipathien, Wünschen und Wertungen. Bei einem solchen
Verstehen vom Ursprung her hat die rationale Analyse keinen Platz mehr. (Maren-Grisebach, 60) 5. Existentielle Literaturwissenschaft darf nicht im
Bezirk des rational durchführbaren Sachwissens bleiben. Die
literaturwissenschaftliche Darstellung hat nicht erklärend und zergliedernd
vorzugehen, sondern das Ganzheitliche einer Dichtung gegenwärtig zu halten,
indem die existentiellen Ursprünge aufgedeckt werden, diejenigen im Dichter
ununterschieden von denjenigen im Leser. Existentielle Grunderfahrungen, aus
der Dichtung gewonnen, müssen sich auch im Stil der literaturwissenschaftlichen
Darstellung spiegeln. (Maren-Grisebach, 60) 6. Der Dichter könnte zwar die existentiellen Triebkräfte
verschleiern, beiseite schieben und überlagern, aber der Forscher hat sie dann
aufzustöbern, um so den Urproblemen neues Gewicht zu geben. Um eine
wahrheitsgemäße Fundierung dieser Urerfahrungen zu erkunden, seien dann die
philosophischen und weltanschaulichen Äußerungen des Dichters „auf innere Dynamik
und Ergriffenheit hin zu prüfen“ (Lunding 1958, 203). Wieweit diese Äußerungen
Teile eines Dichtwerkes sind oder wieweit nur private Überzeugungen eines
Autors, ist unwesentlich, da Leben und Werk hinsichtlich ihrer untrennbar,
beide von den gleichen Triebkräften bewegt werden. (Maren-Grisebach, 61f.) 7. Die Werke eines Autors lassen sich mit Hilfe der
Kriterien existentielle Tiefe beziehungsweise logische Flachheit in
zusammengehörige Gruppen ordnen. Dies sind zugleich Wertmaßstäbe. Irrationales, das ein
Signal für Tiefe ist, führt Substanz und damit Wert mit sich, einsehbare
Handlungen bedingen eine „wesentliche Verdünnung“. Existenzhaltiges und
Existenzleeres verhalten sich wie Wesentliches und Unwesentliches, wie Dichtung
und bloße Unterhaltung. (Maren-Grisebach, 63) |