9.1 Existentielle Ansätze9.1B Kritik
1. Bei extremer Handhabung kann die existentielle Methode
in privater Meditation entlang der Literatur gipfeln, um in Windungen immer
weiter ins eigene Selbst zu führen. (Maren-Grisebach, 54f.) 2. Zu sehr werden das Sachliche, das dem Betrachter
Gegenüberstehende und das spontan aus dem Subjektiven Hinzutretende miteinander
vermengt. (Maren-Grisebach, 56) 3. Die existentielle Literaturwissenschaft steht in einem
Grenzgebiet zwischen exakter Wissenschaft im derzeitigen Sinne und erlebnishafter
Welterfahrung. Unterscheidet man mit Jaspers zwischen dem Erkennen der
objektiven Wissenschaften und dem „Innewerden“ der philosophischen Haltung, so
wäre existentielle Literaturwissenschaft eher eine „Philosophie“ als eine
Wissenschaft. (Maren-Grisebach, 59) 4. Unter der nationalsozialistischen Diktatur widerfuhr
der existentiellen Methode ein scheinbar reiches Leben. Innerhalb der
herrschenden Ideologie wurde der Existenzgrund gedreht und gewendet, um als
„mütterlicher Urgrund“, als „Sippengrund“ gefeiert werden zu können. Von diesen
Gründen stieg man auf in das Volksgefüge, in die Gemeinschaft aller, in der dem
einzelnen keine Verantwortung mehr obliegt. Damit aber befand man sich in
Gegensatz zu den existentiellen Anfängen. Neben dieser bewussten Abtrünnigkeit
vom ursprünglichen Existenzdenken behielt man die willkommenen Elemente bei, so
vor allem das des Irrationalen und Dunklen. Gegen die Formbetrachtung stellte
man sich mit Hilfe des existentiellen Ansatzes, aber nur, um damit gegen den aus
ganz anderen Gründen verachteten Formalismus der Kunst überhaupt zu
argumentieren; und für die Existenz plädierte man, indem man diesen Begriff zum
Leben und zur „Lebenskraft“ umbog, nur so konnte Existenz als
scheinphilosophische Begründung für das Leben der Blut-und-Boden-Kunst benutzt
werden. Aber der Missbrauch einer Methode besagt noch nichts gegen die Methode
selbst, und dass Keime zum Missbrauch in den Grundgedanken angelegt sind, hat
diese Methode mit anderen gemein. (Maren-Grisebach, 67) 5. Je mehr man sich auf das Absolute, die letztmögliche
Aussagekraft, beschränkt, desto mehr Welt entgleitet einem. Und so bleiben denn
bei dieser radikalen Abwendung von den historischen Fakten schließlich nur
abstrakte Begriffsskelette übrig, mit denen man die Kunst als den Ausdruck des
„Selbst“ oder als sprechendes „Sein“ zu charakterisieren versucht. (Hermand,
128) 6. Bei Heidegger findet sich eine bewusst mystifizierende
Sprachgebung, die in ständiger Wortwiederholung um Begriffe wie das „Seiende“
und das „Wesende“ kreist, um so dem Leser den Eindruck des Grundsätzlichen,
Essentiellen, ja unwiderleglich Absoluten zu geben. Entwicklungsgeschichtlich
könnte man diese Phase als spätexpressionistische „Wesenswissenschaft“
definieren. Es ist daher kein Wunder, dass sich kurz nach 1933 auch im
Rahmen der „völkischen“ Literaturwissenschaft eine deutliche Neigung zu den
Heideggerschen Seinsspekulationen beobachten läßt. Die Existenzphilosophie
wurde zu einer edelfaschistischen Weltanschauung, zumal auch Heidegger in diesen
Jahren von seiner Aufgeschlossenheit für alles „tathaft“ gesteigerte Leben kein
Hehl machte. Existenz, Wesentlichkeit, Aufbruchstimmung und völkische Ursprünge
verschwammen bei seinen Anhängern schnell zu Synonymen. Überhaupt wurde
zwischen Tat und Wissenschaft – im Gegensatz zu jeder strengen Objektivität –
in diesen Kreisen kaum noch ein Unterschied gemacht. In beiden Bereichen
forderte man plötzlich dieselbe Verantwortung dem Sein gegenüber. Hingewiesen wird auf die Werke von Clemens Lugowski,
Gerhard Fricke und Hermann Pongs, in denen sich das Existentielle fast bruchlos
mit dem „Völkisch-Politischen“ verschwistert. (Hermand, 130f.) 7. Nach dem allgemeinen Zusammenbruch von 1945 war auch
auf literaturwissenschaftlichem Gebiet erst einmal eine tabula rasa geschaffen.
Doch anstatt sich wirklich umzubesinnen, behalf man sich entweder mit einer
leichten Kaschierung des Überlieferten oder versuchte, allem
Ideologieverdächtigen überhaupt aus dem Wege zu gehen. Kein Wunder also, dass
es noch einmal zu einer auffälligen Blüte des Expressionismus kam. Indem man
nämlich die nationale Komponente einfach wegließ, erwiesen sich gerade
Heideggers Schriften als die ideale Philosophie der ideologischen
Ausweglosigkeit. Nichts war leichter, als das entstandene Vakuum lediglich mit
„Sein“ zu füllen. Hierbei blieb man schön abstrakt, kam dem Nihilismus dieser
Jahre entgegen und befriedigte zugleich die alte deutsche Neigung zum
irrational Vernebelten. (Hermand, 132) 8. Das existentialistische Vokabular wurde zum Jargon. Besonders
in den Interpretationen der Jahre zwischen 1948 bis 1955 liest man überall von
„Seinserhellung“, vom „Existenzwunder der Dichtung“, der „seinshaften Bindung
an das Du“, dem literarischen „Gespür“, dem existentiellen „Anliegen“ oder dem
„menschlichen Angerührtsein“. Eine unglaubliche Prätention des „Betroffenseins“
verbreitet sich. Alles wird zum undurchdringlichen „Geheimnis“, das sich nur in
gleichnishaft-verschlüsselter Sprache ausdrücken lässt. Wo man früher den
Verstand gebraucht hatte, scheint jetzt bloß noch das existentielle
„Ergriffensein“ zu regieren. Doch seit einigen Jahren mehren sich zum Glück die
Zeichen, daß dieser „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) wieder im Rückgang
ist. Auch das „Essentielle“ wird einmal fade, wenn man es immer in unverdünnter
Form genießen muss. Dasselbe gilt für die fatale Neigung zum Sakralen, wie sie
im Umkreis Heideggers herrscht. Wer glaubt schon noch an diese Unmittelbarkeit
des Schöpferischen, diesen gottentstammten Ursprung des Kunstwerks, mit dem man
sich jeder zeitgenössischen Verantwortung zu entziehen versucht? Die Herrschaft der Existenzphilosophie über die
Geisteswissenschaft blieb daher eine Episode. (Hermand, 134f.) 9. Formalistische und existenzielle Kunstauffassung
scheinen sich zu widersprechen: hier der Text als Produkt einer artifiziellen
Konstruktion, deren Prinzipien und Bauformen durch die wissenschaftliche
Textanalyse aufgedeckt und bewusst gemacht werden; dort das Werk als Chiffre
des Seins, dessen Wahrheit der Interpret durch einfühlendes, partizipierendes
Verstehen erkennen will. In Wirklichkeit wird dieser Gegensatz verdeckt; das
analytisch diskursive Erkenntnisinteresse des Formalismus wird durch seine
Integration in die Tradition der deutschen ‘wesens’-philosophisch orientierten
Philosophie aufgehoben. (Hauff, 39f.) 10. Kritik an Heideggers Philosophie: Die Rationalität der
Aufklärung mit ihrer rücksichtslos herrischen, instrumentalisierenden Haltung
gegenüber der Natur muss zugunsten
eines demütigen Lauschens auf Sterne, Himmel und Wälder verworfen werden, ein
Lauschen, das mit den bissigen Worten eines englischen Kritikers alle Merkmale
eines ‘verdummten Bauern’ trägt. Der Mensch muß dem Sein Platz machen, indem er
sich ihm völlig überlässt Die Erhabenheit des Bäuerlichen, die Abwertung der
Vernunft zugunsten des spontanen ‘Vor-Verstehens’, das Zelebrieren der weisen
Passivität – all dies, verbunden mit Heideggers Glauben an ein authentisches
Dasein als „Vorlaufen zum Tode“, das dem Leben der gesichtslosen Masse
überlegen war, brachte ihn dazu, Hitler 1933 ausdrücklich zu unterstützen. Die
Unterstützung war nur kurzlebig; aber sie war trotzdem in einzelnen Elementen
seiner Philosophie enthalten. (Eagleton, 28f.) 11. ‘Zeit’ ist für Heidegger noch immer eine metaphysische
Kategorie. Sie ist eine Abstraktion von dem, was wir tatsächlich tun – und
‘Geschichte’ bedeutet m.E. dieses wirkliche Handeln. ‘Wahre’ Geschichte ist für
Heidegger eine innerliche, ‘authentische’ oder ‘existentielle’ Geschichte –
Bewältigung des Schreckens und des Nichts, Entschlossenheit gegenüber dem Tod,
ein ‘Versammeln’ meiner Kräfte – eine Geschichte, die im Endeffekt als Ersatz
für Geschichte im allgemeineren und praktischen Sinn fungiert. Letztlich gelingt es Heidegger nicht, die statischen,
ewigen Wahrheiten Husserls und der westlichen metaphysischen Tradition zu
historisieren und damit zu überwinden. Statt dessen errichtet er nur eine
andere Art metaphysischer Entität. Sein Werk stellt ebenso eine Flucht vor wie
einen Zusammenprall mit der Geschichte dar: und das gleiche kann vom Faschismus
gesagt werden, mit dem er liebäugelte. Der Faschismus ist ein verzweifelter,
allerletzter Versuch seitens des Monopolkapitalismus, Widersprüche zu
beseitigen, die unerträglich geworden waren. Damit soll nicht unterstellt werden,
dass Heideggers Philosophie als Ganzes nicht mehr ist als eine Grundlage für
den Faschismus. Es soll aber durchaus angedeutet werden, dass sie ebenso wie
der Faschismus eine imaginäre Lösung für die Krise der modernen Geschichte
lieferte, und dass beide eine Reihe gemeinsamer Merkmale hatten. (Eagleton,
30f.) |