9.2 Morphologische Ansätze9.22 Die wichtigsten Ansätze
1. Morphologie bedeutet Lehre von der Gestalt. Als solche
hat sie auf den verschiedensten Gebieten ihre Ausprägung gefunden: Morphologie
der Pflanzen und Tiere, der Sinneswerkzeuge, Geomorphologie, Kulturmorphologie,
als Lehre von der Gestalt in der Psychologie und als Morphologie der Literatur.
Diese verschiedenen Disziplinen haben weitverzweigte Traditionen, die alle nach
1920 eine mehr oder weniger heftige Renaissance erfuhren. In der Literaturwissenschaft
hat sich das morphologische Denken allerdings erst nach 1940 durchgesetzt. Seine Anfänge aber liegen in den Naturauffassungen des 18.
Jahrhunderts. Als historische und systematische Ausgangspunkte sind
Begriffsbestimmung und Wissenschaftsdeutung bei Goethe zu sehen. Er hat in
seinen Morphologischen Heften
(1817-1824) Erfahrungen, Betrachtungen und Folgerungen niedergeschrieben, die
sich ihm bei Untersuchungen an der organischen Natur eröffneten. Ihm war die
Gestalt, das sinnlich Wahrnehmbare, vordringlich; und zwar die Gestalt in ihrer
von ihm erschauten Eigenheit, im Äußeren das Innere zu repräsentieren, das
Innen ins sinnliche Außen zu kehren. Er konstatiert einen Trieb im Menschen,
„lebendige Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren,
greiflichen Theile im Zusammenhang zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern
aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen“
(Goethe , 7). (Maren-Grisebach, 68) 2. Da die morphologische Betrachtungsart erst einmal für
Naturobjekte erdacht war, muss der Rechtfertigungsgrund gefunden werden, sie
auf Betrachtung der Kunst, also Literatur zu übertragen. Dafür hat ebenfalls
Goethe die weltanschaulichen Voraussetzungen bereitet; das von ihm in
bestimmter Weise gesehene Verhältnis von Natur und Kunst wird als Legitimation
zugrunde gelegt. Seine monistische
Sicht erlaubt, das morphologische Erfassen wie auf Natur-, so auch auf
Kunstprodukte anzuwenden. In den Maximen
und Reflexionen heißt es: „Kunst, eine andere Natur; auch geheimnisvoll,
aber verständlicher, denn sie entspringt aus dem Verstande“. Goethe wünscht
z.B. eine „ruhige Betrachtung der Natur als eines einzigen großen Ganzen“.
Studiert er die Kunstwerke der Griechen, so hat er die Vermutung, „daß sie nach
eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf
der Spur bin“. Auch im Phänomen der Schönheit, das der Kunst immanent
ist, sieht Goethe die Verbindung zu
einem „einzigen großen Ganzen“. Denn jeglicher Schönheit seien „geistige
Formeln“ inne. (Maren-Grisebach, 68f.) 3. Diese Aussagen markieren die Keimzelle, aus der vom
Betrachten der Natur-Gestalt zu dem der Kunst-Gestalt übergegangen werden kann. Günter Müller hat als erster Goethes Einsichten für die
Literaturwissenschaft nutzbar zu machen gesucht. Müllers Schrift Die Gestaltfrage in der
Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie (1944) und die Abhandlung Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst
(1947) sind Grundsteine der morphologischen Literaturwissenschaft geworden.
Damit hat Müller einen Schritt getan, der die zu seiner Zeit
auseinanderstrebenden Gebiete der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft
einander näher bringen sollte; und zwar nicht in der Form, dass ein
Abhängigkeitsverhältnis entstünde; denn nicht sollten literarische Dinge durch
biologische erklärt werden; sondern per analogiam sollte man vorgehen, durch
Rückgriff auf deren gemeinsame Basis, wie das eine geartet sei, so auch das
andere; und da man das eine, das Biologische kennt, bedient man sich dieser
Erkenntnisse als eines methodischen Hilfsmittels. In Müllers Nachfolge steht
der Anglist Horst Oppel. (Maren-Grisebach, 69f.) 4. Das begriffliche und thematische Kernstück der
morphologischen Methode liegt in dem Wort Gestalt. Da dieses ursprünglich als Bezeichnung
für Objekte der sichtbaren Wirklichkeit entstand, muß ein Metaphorisieren
stattfinden. Als Synonym bietet sich der Begriff ‘Form’ an. Den morphologischen
Intentionen käme eine Abgrenzung zwischen ‘Gestalt‘ und ‘Form’ entgegen, um die
spezifischen Eigenheiten dessen, was literarische Gestalt meint, hervortreten
zu lassen. Setzt man voraus, daß Form das Nur-Äußere bezeichnet, so ist Gestalt
nicht Form, sie ist mehr. Das Gestalthafte betrachten, heißt nicht das
ästhetisch Formale sehen; es heißt nicht, das formal Berechenbare ablesen, das,
was in Zahlen fixiert werden könnte. Das Gestalthafte sehen heißt, sich gegen
das Rationale absetzen, gegen ein mechanistisches Welt- und Kunstbild
opponieren. Den Morphologen ist daran gelegen, daß die Gestalt auf keinen Fall
ins „meßbar Begriffliche“ umgedeutet werde. Gestalt meint das Gesamt einer
Dichtung, bei der eine Scheidung in Innen und Außen, in Inhalt und Form zum
unorganischen Schnitt würde. Man beruft sich auf Goethes Verse „Nichts ist
drinnen, nichts ist draußen:/denn was innen das ist außen./So ergreifet ohne
Säumnis, Heilig öffentlich Geheimnis.“ (Maren-Grisebach, 70f.) 5. Die Differenzierung Gestalt-Form ist belastet durch
ihre Entstehungszeit, denn sie weist auf die nationalsozialistische Phase, in
der die herrschende Ideologie das Formale der Kunst als formalistisch
entwertete, das Ästhetische als nutzlos Ästhetizistisches verbannte. Scheinbar
also handelten die Morphologen im Ungeist dieser nationalsozialistischen
Weltanschauung: Form ist blutleer, Gestalt aber offenbart die irrationalen
Kräfte des Blut, des Volkes. Nur hat Morphologie den Goetheschen Ursprung. Es
ist also die Frage, wieweit sie den faschistischen Zusammenhängen entzogen
werden kann. (Maren-Grisebach, 71) 6. Das Irrationale.
Gestalt ist wesentlich vom Irrationalen geprägt, das nicht eindeutig fixierbar,
nicht mit einem herausgelösten rationalen Gedankengang zu erfassen ist. So
meint man dem spezifisch Dichterischen auf der Spur zu sein: Das „Unsagbare“,
in der „Gestalt“ wird es gegenwärtig und anschaulich. So geht auch das, was
gemeinhin Inhalt genannt wird, in der Gestalt auf. Dichtung ist dem Morphologen
ein „Weltaufschluß“, und zwar über die Resultate der sonstigen Wissenschaften
hinaus; ein Aufschließen dessen, was in
undichterischer, nicht-gestalthafter Sprache nicht gesagt werden kann. Der
Dichter macht das rational Unaussprechbare in der Gestalt des Sprechens
sichtbar. Die Gestalt lehrt nicht nur, was Welt sei, sie hat auch
einen ethischen, erzieherischen Wert. Das Ethische ist eingeschlossen in die
Gestalt als notwendig mitgegebenes Moment. Gestalt von Dichtung meint Dichtung nicht als Produkt
einer Aktivität, die im Unterschied steht zum Hervorbringen der Natur, sondern
man denkt in lebensphilosophischer Richtung: der Akt des Hervorbringens und
demzufolge das Hervorgebrachte seien nicht nur analog, vielmehr wesensgleich
jenem der Natur. Der morphologischen Literaturbetrachtung ist das Werk Gestalt
als „eine Sprache der schaffenden Natur“. (Maren-Grisebach, 71f.) 7. Anschauung.
Dem Gestalthaften der Dichtung ist konsequenterweise als Erkenntnismedium, als
actio des erfassenden Subjekts, das Anschauen zugeordnet. Dem anschaulichen
Augensinn entspricht und antwortet das anschauliche Denken. In der Morphologie
der Dichtung ist das geistig Anschauliche verstärkt, weder von Gestalt noch von
Anschauung ist im gegenständlichen Sinn zu sprechen; bereits das Objekt ist
geistiger Natur und so erst recht das ihm korrespondierende Anschauen. Die
Übertragung rechtfertigt sich, denkt man an das gemeinsame Spezifikum des
begrifflich nicht Fassbaren. (Maren-Grisebach, 72) 8. Anschauen und
Denken. Der intellectus archetypus schaut, der intellectus ectypus „denkt“.
Das Schauen erfaßt spontan die Ganzheit, das Denken zerlegt rationaliter in
Teile. Dichterische Symbole sollen also als Gestalthaftes ganzheitlich
angeschaut, nicht in begrifflich diskursive Denkschritte aufgelöst werden;
setzt man das Anschauliche außer Kraft, bleibt ein mitgedachter Gedanke, aber
die diesen Gedanken an Spannweite übertreffende Idee wird zerstört. Um sich der Intuition nicht ganz auszuliefern, nimmt der
Morphologe auch das Denken für sich in Anspruch, und beruft sich dabei wiederum
auf Goethe, dem sein „Denken ein Anaschauen“ war. Auch die intellektuale
Anschauung Schellings wird herangezogen zum Beweis, daß eine solche Verbindung
möglich sei. (Maren-Grisebach, 72f.) 9. Metamorphose. Die morphologische These: In der Dichtung
vollzieht sich als Zeichen des Lebendigen ein fortgesetztes Werden, ein
Verwandeln. Die Sprache spiegelt etwas fest Umrissenes vor, in Wirklichkeit
wandelt sich alles ständig, durch Bildung und Umbildung. Das Gesetz der Metamorphose gilt von der Bedeutung der
Wörter und Sätze, von Rhythmus und Klang, vom Imaginationsfeld der Bilder, von
den Ebenen der Sprechweisen. Eine Metapher etwa bringt die andere mit sich,
aber wird ebenso von ihr in ihrem bloßen Bildsein wie in ihrer Bedeutung
beeinflußt. (Maren-Grisebach, 73f.) 10. Im Bereich des Werdens einer Dichtung spricht der
Morphologe von „Entfaltung“. Auch in der Literatur wird dieses Wachstumsgesetz
gesehen, so dass man „schauen“ soll, wie eins aus dem anderen sich entfaltet,
wie eins im anderen keimhaft angelegt ist. (Maren-Grisebach, 74) 11. Einheit und Ganzheit werden morphologischerseits im
dichterischen Werk vorausgesetzt. Sie erlauben ein Trennen in Einzelteile, aber
nur wenn sie und ihre Wirkungen immer wieder in die Kommunikation mit allen
anderen Teilen zurückgeführt werden. Ganzheitlich zu sehen, wie es vor allem in der
Gestaltpsychologie gelehrt wird, ist nach Meinung des Morphologen dem
Kunstgebilde einzig adäquat. (Maren-Grisebach, 75f.) 12. Goethe war überzeugt, den Typus als das Urphänomen in
der Natur vorzufinden. Das Durchgängige, das vornehmlich in Gestaltzügen
auftritt, erlaubt ein übersichtliches Ordnen des im Realen verwirrend
Vielseitigen. Günther Müller will eine Reihenbildung in Goethescher Manier
inaugurieren, ein Zusammentragen von dichterischen Einzelerscheinungen, um so
auf das allen Gemeinsame hinzulenken. Dichterische Werke werden unabhängig von Raum und Zeit, in
denen sie entstanden, nach gestalthaft ihnen eigentümlichen Merkmalen
zusammengesetzt, miteinander verglichen, einander enger zugeordnet.
(Maren-Grisebach, 76f.) 13. Der Ganzheitsgedanke lässt sich über das Verstehen
hinaus zu einem Wertmaßstab ausbauen: Je geschlossener und ganzheitlicher eine
Gestalt ist, desto „wahrer“ und „besser“ erscheint sie dem morphologischen
Blick. Sie ist dann autonom, man kann ihr weder etwas hinzufügen noch etwas
wegnehmen. Ein anderes Wertkriterium kann bei erhaltener Ganzheit in
der Verschiedenartigkeit der Teile eines Werkes liegen und weiter in der
Unterordnung untereinander. Als Maß gilt ein alle Möglichkeiten in sich
schließender Gestaltkörper, dem die positiven Prädikate Reichtum, Weite, Fülle,
Komplexität gegeben werden können. Ein Drama, in dem die Personen unterschiedliche Weisen des
Menschseins vorführen, in dem aber doch sich die Verschiedenen wechselseitig
und stufenweise zu einem Ganzen ergänzen, wäre besser als eines, das nur eine
menschliche Möglichkeit zur Anschauung brächte. (Maren-Grisebach, 77f.) 14. Oppel nennt folgende Wertungen: gemacht oder
gestaltet, gekünstelt oder gewachsen, gewollt oder erwirkt, wobei er über das
morphologische Denken hinausgeht, indem er das bewusst Kunsthafte als das
Gemachte, Gekünstelte oder Gewollte abwertet und demgegenüber nur das „wie von
selbst“ Gewachsene und Natürliche gelten lässt. Solche Wertungen verfälschen
den ursprünglichen Ansatz, der gerade das Kunsthafte bestehen lässt, es nur
analog dem Naturhaften betrachtet, während Oppel, indem er das „Artistische“
abwertet, sich lediglich der nationalsozialistischen Lehre anpasst. Lehnt Oppel
das Artistische ab, weil es der Natur zuwiderläuft, so plädiert Benn aus
demselben Grund dafür. Bei Dichtungen, die einer solchen „antinaturalistischen“
Haltung entsprechen, ist das Gestaltsehen nicht mehr sinnvoll anwendbar, sind
die mit ihm verbundenen Werte hinfällig. (Maren-Grisebach, 78f.) 15. Die Gestaltlehre sieht ab von historischen Merkmalen
und geht werkimmanent vor. (Maren-Grisebach, 79) |