10.02 Die wichtigsten Ansätze
1. Der Strukturalismus
als eine Möglichkeit, denkerisch mit Weltstoff umzugehen und die strukturalistische Methode als eine
davon abgeleitete Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeitsweise haben sich in
verschiedenen Bereichen ausgebildet: in der Linguistik (Ferdinand de Saussure,
Roman Jakobson), in der Ethnologie und Anthropologie (Claude Lévi-Strauss); in
der Psychologie, in Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und schließlich in der
Literaturwissenschaft. Einzelerkenntnisse und Spezialbegriffe sind zusätzlich
aus anderen Disziplinen aufgenommen worden, z.B. aus der Informationstheorie. Diese ihrer Herkunft nach verschiedenen Elemente machen
die Interdisziplinarität der Methode aus und geben ihr schon allein
dadurch einen neuen Akzent. Dem Verbindungherstellen zwischen den Fächern
entspricht die Internationalität, die
positiv mögliche Auswirkungen wissenschaftlicher Denkungsarten auf politisches
Geschehen sichtbar macht. (Maren-Grisebach, 101) 2. Als Hinweis auf den Zeitraum des Entstehens kann das
Jahr 1916 gelten, in dem die Vorlesungen zur Linguistik von de Saussure
veröffentlicht wurden. In ihnen sind wesentliche Begriffe und bahnbrechende
Einsichten in strukturalistische Sprachauffassungen festgelegt. Sie wurden von
Jakobson, Trubetzkoy und anderen erweitert und haben dann in den fünfziger
Jahren neue Impulse erhalten. Für die Literaturwissenschaft gehen entscheidende
Impulse von der Anthropologie structurale
(1958) von Claude Lévi-Strauss aus, von seinem Werk La pensée sauvage (1973) und seinen Arbeiten zur Mythologie
(1966/67). Auf die Literaturwissenschaft wirkte speziell ein Aufsatz, den
Lévi-Strauss zusammen mit Jakobson 1962 über Baudelaires Sonett Les Chats schrieb. Jurij M. Lotman hielt schon zwischen 1958 und 1962 Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik.
Was Lévi-Strauss als über den Disziplinen stehender Anreger für die Anfänge und
die weitgespannten spekulativen Ideen geleistet hat, das tat Lotman auf dem
Gebiet der Literatur. (Maren-Grisebach, 102f.) 3. Zum Begriff ‘Struktur’. Bedeutung 1: Struktur
meint in erster Linie eine Beziehung
zwischen. Ein Gefüge aus Verbindungen, Verkettungen. „Die Besonderheit der
strukturellen Untersuchung besteht darin, daß ihr nicht die Betrachtung der
einzelnen Elemente in ihrer Isoliertheit oder mechanischen Vereinigung
vorschwebt, sondern eine Definition der Korrelation der Elemente untereinander
und ihrer Beziehungen zum Strukturganzen.“ (Lotman 1972a, 10) Unter ‘Struktur’ versteht Jakobson ein System textinterner
Relationen. Erst diese internen Relationen sind Ursache dafür, daß den durch
sie verbundenen Momenten mehr zukommt als das, was sie durch sich selbst sind,
und erst das aus diesen Relationen Resultierende, der Relatcharakter also, macht die wahrgenommenen Dinge für die Strukturalisten
interessant. Nach Riffaterre ist Baudelaires Gedicht Les Chats „wie ein Mikrokosmos mit seinem eigenen System von
Verweisen und Analogien“; er spricht von einer „außerordentlichen Verkettung
von Korrespondenzen, die die Teile des Textes zusammenhält“. (Riffaterre 1973,
239) Aus diesem neu entstandenen Interesse für Beziehungen leitet sich der
Vorrang der Struktur vor den
inhaltlichen Momenten ab, die in einer Struktur zusammengehalten werden. Mit dem Gesetz,
das die Verkettungen regelt, wird auf ein anderes Merkmal des Begriffes
Struktur hingewiesen, auf die Ordnung,
den Systemcharakter, der Willkür ausschließt. Was Lévi-Strauss am
Strukturalismus fesselt, ist eben diese Möglichkeit des Begriffes Struktur,
Gesetzlichkeiten festzuhalten. Die spezielle Geordnetheit eines literarischen Textes
lässt sich mit dessen Informationsaufgabe begründen, denn ein „systemloses,
strukturell unorganisiertes Material kann nicht Mittel zur Speicherung und
Übermittlung von Informationen sein“. (Lotman 1972b, 421) Wenn dennoch in
literarischen Texten immer erneut Beschränkungen aufgehoben werden, wenn gerade
der Wert und die Durchschlagskraft mancher Texte in diesem Aufheben besteht, so
ist das kein Beweis für die Möglichkeit eines gänzlich unstrukturierten Textes,
denn das Aufheben ist dann gleichzeitig ein Neusetzen von Regeln. Struktur ist bisher als gesetzmäßig geordnete Beziehung verstanden. Bedeutung 2: Bei anderen Denkschritten, die den Begriff
Struktur fixieren wollen, treten zusätzlich Eigentümlichkeiten auf, die man mit
Gedanken wie Abstraktion, Allgemeinheit,
Modell charakterisieren kann. Struktur hat dann einen anderen Seins-Status
als jene von Bedeutung 1, denn ihr Gesetz liegt hinter den Erscheinungen, sie wird erschlossen und nicht direkt
abgelesen. Struktur ist dann virtuell, als mögliche
Prägung bereitliegend; obschon aus den wirklichen Erscheinungen gewonnen, kann
sie sich in immer verschiedenen Variationen aktualisieren, ein Grundmuster also, eine Tiefenstruktur und Invarianz.. Lévi-Strauss bezeichnet derart allgemeine Gesetze als gemeinsamen Nenner, als Superstrukturen. Teils meint man, solche Grundmuster lägen im Unbewußten;
teils hat man sich ihr Sein mehr als Ideales zu denken, zu dem man durch ein
gradweises Entfernen von den Zufälligkeiten der bloßen Empirie gelangt. Mit
Struktur ist hier nicht das schlicht Vorhandene eines bloßen Gegenüber des
Subjektes gemeint, sondern in einem solchen Begriff steckt die denkerische
Leistung des Subjekts. Ein und dieselbe Grundstruktur, ihre Invarianz, aktualisiert
sich in verschiedenen Spezialstrukturen, ihren Varianten oder Infrastrukturen.
Es kann zum Beispiel die Invarianz eines einzelnen literarischen Werkes
aufgedeckt werden; der Begriff Grundstruktur bedeutet dann etwa jenes, was
früher mit „Wesen des Werkes“ gemeint war. Die verschiedenen Varianten dieser
Invarianz erscheinen dann auf den verschiedenen Ebenen des Werkes. Man scheidet
Gebilde der Sprache gewöhnlich in vier Ebenen, die semantische, syntaktische,
grammatikalsche und phonologische Ebene. Zusätzlich können hinzukommen: eine
morphologische (auf die Gesamtgestalt und Satz- und Wortgestalten bezogene),
eine kompositionelle und eine prosodische Ebene (auf Momente der Melodie, auf
Tonstärken und Pausen bezogen). Dazu kommen dann die Beziehungen zwischen den Ebenen. Arbeitstechnisch
wird ein Wechselverhältnis sein zwischen dem Entdecken der Grundstruktur eines
Gedichtes etwa und dem Finden der einzelnen Varianten auf den verschiedenen
Ebenen; auch spielen keineswegs immer alle Ebenen gleichgewichtig mit. Ist das
Herauskristallisieren gelungen, dann wäre etwa das geleistet, was ein
ästhetisches Kriterium ausmacht: die Einheitlichkeit, Stimmigkeit aller Teile
eines Werkes, die unlösbare Verkettung aller Teile miteinander, somit ein
Ganzes bildend und eine Notwendigkeit zeigend. Aber auch auf einer
Ebene des Textes kann das Aufspüren einer Invarianz sinnvoll sein, etwa die
„semantische Invarianz“ herauszuschälen, das, was in anderer Terminologie mit
„Thema“ oder „Hauptmotiv“ bezeichnet wird. Genauso kann das Verhältnis Struktur/Varianten
arbeitsleitend sein beim Betrachten verschiedener Werke eines Autors. In der
Größenordnung kann noch höher gegangen werden zur Invarianz verschiedener
Autoren in gleicher Zeit oder gleicher Lage (Epochenstil) und weiter von der
Invarianz verschiedener Literatursprachen zu einer übergreifenden Sprache der
Kultur – bis hin zur Invarianz des Wesens des Menschen. Bedeutung 3: Hier kommt zusätzlich das Moment des Ungeschichtlichen hinzu. Die
Zeitunabhängigkeit ergibt sich aus der angenommenen Unveränderlichkeit der
Grundeigenschaften. (Maren-Grisebach, 103ff.) 4. Gegen die
„Priorität der Strukturbeziehungen vor den Elementen der Struktur“ wird häufig
eingewandt, die Inhalte würden zu sehr vernachlässigt, sie würden schließlich
austauschbar und die Methode triebe einem bloßen Formalismus zu. (Maren-Grisebach,
104) 5. Ist soweit der Begriff Struktur seinem Inhalt nach als Beziehung,
Invarianz und a-historische
Gesetzmäßigkeit beschrieben, dann lassen sich von daher die einzelnen besonderen
Merkmale und Arbeitsschritte dieser Methode verstehen: (1) Typen-Erstellen.
Literarische Typen werden aufgedeckt, viele verschiedene Einzelphänomene werden
geordnet und systematisiert. Ziel des Aufsatzes Die
Grammatik der Erzählung (1971) von Todorov ist es z.B., Strukturen, die aus
der Grammatik gewonnen wurden, auf Erzählungen abzubilden, Entsprechungen
zwischen Grammatik und Erzählung zu finden, und dies mit dem Hintergedanken,
dass es eine „Universalgrammatik“ gäbe, die nicht nur für den Aufbau von
Sprache gültig ist. Aus verschiedenen Erzählungen des Decamerone werden Typen herausgearbeitet: Die Anfangs- und
Schlussphase einer Erzählung zum Beispiel bilden den statischen „Typ von
Episode“; die Störung während des Ablaufs des Geschehens mit dem Resultat des
Ungleichgewichts bilden den dynamischen Typ. Beide Typen spiegeln grammatische
Grundformen wider: der statische Typ das Adjektiv, der dynamische das Verb.
Adjektiv und Verb dürfen dabei nicht als Bezeichnung einer einzelnen Wortart
verstanden werden, sondern ganzer Satzfolgen, die einen ruhenden Zustand oder eine bewegende
Handlung betreffen. Weiter setzt Todorov unterschiedliche „Typen von Sätzen“
fest, die jeweils ganzen Sequenzen in einer Erzählung entsprechen.
„Alternativsätze“ z.B. sind typische Handlungsteile, die die Aufgabe haben, das
Gleichgewicht wieder herzustellen, den in Unordnung geratenen Ablauf im
Geschehen der Erzählung in die gewohnte Ordnung zurückzubringen. Verschiedene
Sequenzen können alternativ diese Aufgabe übernehmen; sie haben dann dieselbe
Funktion oder machen dieselbe Struktur sichtbar, die sich somit als Invariante
dieser Novellen erweist. Die je einmaligen Besonderheiten stehen dabei zurück. (> Abgrenzung)
Die Eigenart, Typologien zu erstellen, erinnert an die geistesgeschichtliche
Methode. Der Trieb zum Systematisieren, zum Ordnen und Herstellen
überschaubarer Gliederungen hat Gemeinsamkeiten, aber auch verschiedene
Tendenzen: Die geistesgeschichtlichen Typologien blicken mehr nach idealen
Wesenheiten, während die strukturalistischen das materiell fundierte Ganze im
Auge haben. Die Strukturalisten kennen keine Trennungslinien zwischen hohen und
niederen, denkwürdigen und denkunwürdigen Zonen. (2) Transformationen
erkennen. Um noch im Gegensätzlichen die gleiche Struktur zu sehen, hat man
den Begriff Transformation
eingeführt: Umkehrungen, Verwandlungen, Übertragungen sind als solche zu
entziffern. Strukturen der Grammatik
sind zum Beispiel als transformierte im Aufbau
der Erzählung wiederzuerkennen. (3) Mit Zweier-Einteilung
arbeiten. Der grundlegende Zug der Methode: das Ordnen und Erfassenwollen
eines Geregelten, spiegelt sich in der Tendenz, paariges Denken zu
praktizieren. Gegensätze, Oppositionen werden gesehen, aber auch unkämpferische
Parallelitäten, Analogien. So sind duale Schemata die Hilfen, mit denen
Literatur angegangen wird. Die Oppositionen machen die Sensibilität für dynamische Vorgänge in literarischen
Texten geltend und die Sensibilität für das, was zwischen den Textteilen passiert. Anwendung findet dieses Denkmuster auf verschiedenen
Ebenen eines literarischen Textes: a) Auf der Bedeutungsebene, denn Bedeutungen (Inhalte)
gehen erst aus bestimmten Strukturzusammenhängen hervor, und diese lassen sich
erschließen durch Sehen von Oppositionen. So kann z.B. die Bedeutung
romantischer Texte durch Betrachten der Opposition Genius/Menge entschlüsselt
werden. Dabei müssen andere Oppositionen hinzugezogen werden:
Größe/Nichtigkeit, Geist/Stoff, Ungewöhnliches/Gewöhnliches usw. Zweiteilungen,
bei denen das erste Glied die Vorstellung „Genius“ immer mehr mit positiven
Inhalten anreichert und dagegen die „Menge“ herabsetzt. Weiter fallen aber auch
die Wert-Umkehrungen (Transformationen) in das gleiche Untersuchungsfeld, z.B.:
isoliertes Individuum/Volksgemeinschaft. Das Oppositionen-Setzen zeigt sich als
– auch didaktisch – verwendbares Verfahren zur schrittweisen Entschlüsselung
der Semantik eines Textes. b) Desgleichen werden Binär-Gesetze auf der kompositorischen Ebene gesehen: Strophen
eines Gedichtes z.B. können zueinander in Gegensatz-Beziehung stehen. c) Auch auf der phonologischen Ebene werden Oppositionen
erkannt: z.B. zwischen weiblichen und männlichen Reimen, stimmhaften und
stimmlosen Lauten. d) Oder es werden Dualitäten auf syntaktischer und grammatikalischer
Ebene bemerkt: z.B. Nominalphrase/Verbalphrase. Aber auch bei anders gelagerten Einteilungen, die nicht
direkt und unmittelbar im literarischen Text arbeiten, macht sich die Zweiheit
geltend: (4) Paradigma – Syntagma. Syntagma bezeichnet die spezielle und einmalige Anordnung der Worte
zu sinnvollen Wortketten, also die Kombination in einer wirklichen Rede. Paradigma hingegen bezeichnet die Menge
der möglichen Worte, aus denen
ausgewählt wird, um ein Syntagma herzustellen – Selektion im Unterschied zu
Kombination. Auf das Verhältnis Grundstruktur/Varianten bezogen,
entspricht Paradigma der Grundstruktur und Syntagma den Varianten. Es wird mit diesen zwei
Begriffen so gearbeitet, dass zu den Ausdrücken in den jeweiligen Syntagmen der
paradigmatische Raum zu erkunden ist; durch Zuhilfenahme von Wörterbüchern,
Synonymen-Lexika, anderen Texten desselben Autors, derselben Zeit und desselben
Stils lässt sich der Raum füllen und das Prinzip der Auswahl finden. (5) Äquivalenzen
aufdecken. Diese Arbeit meint das Sehen von Gleichheiten und Ungleichheiten, von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten; ob also Textteile
sich entsprechen, übereinstimmen, sich ähneln, aneinander reiben, gegeneinander
stehen, sich austarieren. Äquivalenz
gilt als ein grundlegendes Organisationsprinzip von Poesie und von
künstlerischer Struktur überhaupt. Bei seiner Aufgabe kann der
Strukturanalytiker ebenso innerhalb einzelner Textebenen vorgehen als auch zwischen ihnen und so je verschiedene
Äquivalenzklassen feststellen. Im Paradigma sind die Worte untereinander äquivalent; sie
liegen als Synonyme bereit, so daß der Autor während des Schreibprozesses einen
Synonymenaustausch vornehmen kann. Für den Leser aber steht der Text fest; das
Paradigmatische bleibt nur insofern wirksam, als beim Lesen eines Wortes die je
äquivalenten Bedeutungen mehr oder weniger mitschwingen. (>Kritik) Es
muss aber bei diesen ganzen Äquivalenz-Operationen vor subjektiver Willkür
gewarnt werden – Riffaterre nennt sie eine „unzuverlässige Aufgabe“, weil
andere Betrachter andere Äquivalenzen wahrnehmen und wieder andere welche
erfinden. Die Fragen sind oft nicht verbindlich zu beantworten. (6) Strukturalistisches
Abgrenzen künstlerischer Texte von anderen. Ein Ziel der
strukturalistischen Methode besteht darin, in der Kunstsprache als einem besonderen Zeichensystem das zu
isolieren, was es von anderen Zeichensystemen unterscheidet. Für die Sprache allgemein ist die strukturalistische
Linguistik zuständig, aber die meisten Literaturwissenschaftler sind sich darin
einig, dass für eine fruchtbare Behandlung der Literatur über die Linguistik hinaus weitere Möglichkeiten
erschlossen werden müssen, die dann als Abgrenzungskriterium fungieren können. a) Lotman verwendet den Begriff der Äquivalenz zur
Unterscheidung, denn im künstlerischen Text, den er als ein sekundäres System
betrachtet, konstruiert der Autor neue
Äquivalenzen zwischen Elementen, die in der primären, natürlichen Sprache nicht
vorhanden sind. Besonders ist dies bei Bildung von Tropen und Metaphern der
Fall. Ein Unterschied besteht also darin, daß in der Literatur Beschränkungen abgebaut und Strukturen
geändert werden. Der Nachweis einer Verletzung von Regeln, eines Abbaus von
Verboten und das Setzen neuer
Wortzusammenhänge (Neologismen) können als Kriterium verwendet werden. b) Ferner unterscheidet sich – nach der Auffassung der
Strukturalisten – ein künstlerischer Text von außerkünstlerischen durch die
Möglichkeit eines größeren Umfangs an
Information. Eine Semantisierung aller Textelemente kann stattfinden: die
einzelnen Laute, Reime, Länge und Kürze der Sätze, Zeichensetzung,
Stilschichten der Worte, Anordnung im Druckbild, – alle Elemente tragen durch
ihre bewusste Auswahl zur Gesamtstruktur der Bedeutung bei und vermehren diese,
gemessen an der Menge der verwendeten Zeichen, gegenüber einer
außerkünstlerischen Rede. Dadurch werden die Zusammenhänge in spezifisch
literarischen Texten erheblich komplizierter als in der natürlichen Sprache. c) In der natürlichen Sprache ist die Information nicht
durchweg abhängig von der einmaligen Struktur des Gesagten; in der Literatur
hingegen ist die Information an sie gebunden. Die kleinste Veränderung der
Struktur würde eine Änderung der Information nach sich ziehen. d) Bei der Rezeption von Nachrichten in natürlicher Sprache
ist nur ein Verstehen oder Nichtverstehen der Nachricht möglich. Bei sekundärer
poetischer Sprache hingegen liegt eine Bandbreite zwischen Verstehen und
Nichtverstehen. Durch Einbeziehen etwa aller Bedeutungen der Wörter des
Paradigmas ergibt sich eine Überlagerungsstruktur,
die einer Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten offen steht. Gerade das, was beim
Äquivalenzsehen als Gefahr signalisiert wurde, weist auf eine künstlerische Struktur. Voneinander
abweichende Interpretationen werden nicht als Hindernis, sondern als Beleg für
Kunsthaftigkeit anerkannt. (7) Beschreiben.
Die strukturalistische Methode geht im wesentlichen beschreibend vor. Sie
stellt ein Instrumentarium bereit, das die exakte Deskription literarischer
Texte ermöglicht. Diese Deskription besteht oft im Nennen von Formalien, z.B.
dem zahlenmäßigen Überwiegen grammatikalischer Formen besonderer Art. (8) Priorität des
Formalen? Ist bei der strukturalistischen Methode durchweg ein Bevorzugen
der Form und ein Hintansetzen der Inhalte notwendig? Die in der Linguistik
entwickelte Trennung der Worte in Signifikant und Signifikat, in das Zeichen
und das von ihm Bezeichnete ermöglicht ein losgelöstes Untersuchen der
Signifikanten, das zudem gefördert wird durch die Auffassung de Saussures, die
Zeichen seien nicht fest an ihre Bedeutungen gebunden, sie seien willkürlich
gesetzt und die Zuordnung zu ihrer Bedeutung veränderbar. Damit ist der
Bedeutungsträger weitgehend verselbständigt, und dieser Sprachauffassung
konform lässt sich die bloße Zeichenebene beschreiben mit ihren Verknüpfungen,
die fester und historisch unabhängiger sind als die Bedeutung. So können
Handlungsmuster als formale Zeichenstrukturen beschrieben werden, und zwar nur
als Modelle von Beziehungen, ohne konkrete Ausprägung. Besonders bei Lévi-Strauss haben die Strukturalisten
gelernt, dass es nicht primär der Sinn
ist, der fasziniert, sondern das Informationsgerüst, die Trägerstruktur. Hinter
dem Sinn liegt ein Arsenal von Formen und Beziehungen, die nicht mit Sinn
besetzt sind. Den so eingestellten Strukturalisten interessieren diese noch
nicht sinnerfüllten Elemente und ihr Gefüge, so dass (> Abgrenzung ) im radikalen Unterschied etwa zu der
geistesgeschichtlichen Methode das jeweils Gemeinte in den Texten zurücksteht. (> Einzelne
Ansätze) Auf einem solchen Primat des Formalen basiert aber nur eine strukturalistische Richtung. Eine
andere reklamiert, daß auch für den Strukturalisten das dem Wert und Rang nach
Primäre gerade in der Bedeutung liege. Der gesamte
literarische Text sei jeweils als Struktur zu erfassen, und daher sind alle Elemente Strukturelemente, von
hervorragender Geltung aber diejenigen, die Elemente des Inhalts sind. Wenn die
strukturalistische Methode Zeichen und ihre Systeme zum Gegenstand macht, dann
ist darin das Bedeutete, wofür und woraufhin sie Zeichen sind, mit
eingeschlossen; ohne dieses Bedeutunghaben wären es keine Zeichen, sondern nur
beliebige Gegenstände. Lotman sieht den Sinn seiner Wissenschaft verfehlt, wenn
sie nur Formales behandeln wollte. Strukturalistisch aber sind die Inhalte deshalb zu
entfalten, weil jeder Inhalt erst zu einem solchen durch sein Teilsein in einem
Beziehungsnetz, in einer Struktur wird. Ein Element isoliert konstituiert
keinen Inhalt, die Bedeutung der einzelnen Elemente entsteht erst in ihrer
Relation zu anderen, und dieser Systemcharakter der semantischen Teile
berechtigt zum strukturalistischen Erforschen. Arbeitstechnisch lassen sich
systeminterne und systemexterne Bedeutungs-Strukturen unterscheiden: es kann
den Bedeutungen in einem Werk nachgespürt werden und ihren Zusammenhängen mit
anderen außertextuellen Systemen, wie Gesellschaft und Geschichte. Das Strukturgefüge wird sich jeweils auf anderen Ebenen,
um andere Zentralpunkte gliedern, und immer wird das, was auf der einen Ebene
Form war, auf der anderen zum Inhalt werden. (>Kritik) Das Unterscheiden in Signifikant und Signifikat kann sich
bei literarischen Gegenständen als hemmend erweisen, da keine klare Zweiteilung
zu treffen ist, die durchgängige Semantisierung steht ihr entgegen. Form- und
Inhaltsebene bilden vielmehr eine gemeinsame Struktur, die in all ihren
Elementen und Relationen den Sinn des
Werkes ausdrückt. Nach solchen Überlegungen ist die angenommene Priorität
der Form letztlich nur ein Vorurteil, da das Formsetzen immer schon in
Inhaltsetzen übergeht. Auch handelt es sich dort, wo Lévi-Strauss das Formale
betont, nur um ein Vorziehen dem Interesse nach, er würde nie das Inhaltliche
oder das Angewiesensein des Strukturellen auf Inhaltliches leugnen. (Maren-Grisebach, 108ff.) 6. Ungeschichtlichkeit:
Das Verständnis von Struktur als einem Gestaltgesetz hinter den konkreten
Erscheinungen, als invariante Tiefenstruktur, muss sich dem Vorwurf aussetzen,
die geschichtlichen Veränderungen unberücksichtigt zu lassen. (Verteidigung) Es ist aber unklar, warum
nicht die historische Veränderung von Strukturen ihrerseits strukturellen
Gesetzen gehorcht. Denn die Vorstellung von geschichtlicher Entwicklung und von
Fortschritt ist getragen von der Annahme bestimmter struktureller Regeln, ohne
die keine Entwicklung erkennbar wäre. Strukturelle und historische Analyse
lassen sich miteinander verbinden. (Maren-Grisebach, 119f.) 7. Leere
Allgemeinheit: Der hohe Abstraktionsgrad der Grundstrukturen führt zu dem
Vorwurf, das je Besondere, das gerade die Qualität von Literatur ausmache, zu
vernachlässigen. Die Besonderheit wird übergangen zugunsten größerer gesetzlicher Zusammenhänge. Mit dem
Aufdecken hochallgemeiner Strukturen werden die Arbeitsmühen, die Leistung
eines Schriftstellers, die gerade im Schaffenwollen und Schaffen des Besonderen
bestehen, missachtet. Der gleiche Vorwurf trifft das Typologisieren, wenn die
aufgestellten Typen zu weit von den Einzelerscheinungen entfernt sind. Je
weiter der Typus entfernt wird, für umso mehr mag er zwar zuständig sein, aber
desto konstruierter und wirklichkeitsleerer wird er. (Maren-Grisebach, 120) 8. Beschränkung
durch duales Denken: Die Oppositionen-Einteilung hat eine Unangemessenheit
gegenüber der objektiv gegebenen Komplexität von Literatur zur Folge. Die
Mechanik der Digitalcomputer ist unzureichend. Julia Kristeva behauptet etwa,
die poetische Logik sei keine zwei-, sondern eine mehrwertige.
(Maren-Grisebach, 120f.) 9. Pluralistische
Neutralität: Im Strukturalismus kann sich eine wertfreie, neutrale Haltung
des Betrachters entwickeln, die eben wegen ihrer Standpunktlosigkeit, wegen
ihres Verzichts auf Wertungen kritisiert wird. Das Hervorheben des Mehrdeutigen
kann zur kritischen Wertabstinenz führen, ebenso wie die Annahme unbewusster
Tiefenstrukturen. Wenn niemand sich diesen prägenden Formen entziehen kann,
könnte kein Autor zur Rechenschaft gezogen werden, da alles strukturell
determiniert und vom Erforschenden nur in seiner Struktur zu erkennen wäre.
(Andere sehen demgegenüber im neutralen Aufweis von gegebenen Strukturen einen
Vorzug, der auch die Vereinbarkeit mit einem weltanschaulichen Pluralismus
betrifft.) (>Verteidigung)
Ein Bewerten bleibt nicht notwendig ausgeschlossen. Schon wenn man nach
Betrachten der einzelnen Textebenen eines Gedichtes demonstrieren kann, daß
diese Ebene sich decken, ergänzen und miteinander verbunden sind und daß
dadurch eine sinnvolle Ganzheit und Aufeinanderbezogenheit aller Elemente
erreicht ist, nimmt man Stellung zur Frage des ästhetischen Werts.
(Maren-Grisebach, 121f.) 10. Entmaterialisieren:
Häufig wird die materielle Wirklichkeit, die im literarischen Werk vorhanden
war, verflüchtigt. Der literarische Text, der als künstlerischer nur ein
sekundäres Modell der Wirklichkeit bildet, ist dann dem primär Realen näher als
die literaturwissenschaftliche Analyse, deren eine Aufgabe gerade darin
bestünde, den Bezug zur Wirklichkeit wieder aufzuzeigen, um so das
künstlerische Modell an das wirkliche Leben rückzukoppeln. Daran schließt sich
die Kritik an der Verselbständigung
der strukturalen Analyse an – im Sinn der Vorstellung einer sich selbst
genügsamen Wissenschaft. Eine derartige Methode hätte weder Erkenntniswerte
noch ethische Werte zu vermitteln. (Maren-Grisebach, 122f.) 11. Zurückgehend auf die durch Saussure ins allgemeine
Bewusstsein gedrungene Unterscheidung von langue
(als Sprache, als System) und parole
(als Sprechen, als individuelle Realisierung des Systems), seine Bestimmung der
Sprache als Zeichensystem unter anderen (als Teil einer allgemeinen Semiotik),
die methodische Trennung von Synchronie und Diachronie (als Folge synchroner
Systeme), wird vor allem die Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezechneten
(signifiant, signifié) wichtig, die zusammen die Einheit des sprachlichen
Zeichens bilden, das nicht natürlich motiviert ist, sondern willkürlich
(arbitraire du signe), vereinbart. Sprache wurde beschrieben als ein in sich
funktionierendes System ohne substantiellen
Bezug zur außersprachlichen Realität, ohne unmittelbar realitätsabbildende
Funktion. Trubetzkojs Untersuchungen zur Phonologie zeigten, dass
eine sprachliche Einheit in Opposition zu anderen sprachlichen Einheiten steht.
Was dabei im System keinen funktionellen Wert hat, wird als irrelevant
ausgeschieden. Primär – auf der Ebene der langue
– ist das System: von ihm aus werden die Fakten bestimmt. An die Linguistik knüpft Claude Lévi-Strauss an. Er
übernimmt Grundzüge ihres Sprachmodells für die Sozialwissenschaften, vor allem
Ethnologie und Anthropologie. Für einen Forscher, der von den Tatsachen
ausgehen will, hat der Begriff Struktur eine
Hilfsfunktion bei dem Versuch, die unübersehbare empirische Realität durch
Konstanten zu gliedern, durch differentielle Merkmale vergleichend voneinander
abzuheben. Insofern ist die Geschichte als Ansammlung von Daten Material. Da Lévi-Strauss zugibt, nicht alle Bereiche des Sozialen
seien strukturierbar, bleibt der Versuch, Modelle
der die Realität steuernden Strukturen zu entwerfen, zumindest im Anfang in
hohem Maße subjektiv und zufällig. Die Struktur des untersuchten Bereichs soll ein Repertoire
aller möglichen Realisierungen sein; zugleich aber sollen die entwickelten
Strukturen über ihre formellen Eigenschaften miteinander vergleichbar werden.
Das zielt auf eine umfassende Theorie des sozialen Ganzen. Lévi-Strauss
formuliert eine Objektivitätsvorstellung, in deren Konsequenz der
Strukturalismus in „Metaphysik“ umschlägt: die Voraussetzung einer ‘letzten
Struktur’ liegt in der „postulierten Identität der Welt- und Denkgesetze“.
(Lévi-Strauss 1969, 104) (>Kritik) Die
Definition der Methode erfolgt ohne thematisierte Beziehung auf das Material;
vor allem: ausgeklammert wird das erkennende Subjekt, als empirisches wie als
transzendentale Bedingung der Reflexion. Lévi-Strauss wird zu einem Vorgriff
auf das Unbewusste gezwungen, einen unbewussten Geist, in dem als letzter ‘Struktur’ die „Integration [...] der
Methode und der Wirklichkeit“ angesiedelt ist. Es entsteht ein ‘subjektloser
Transzendentalismus’. (Philippi,
121ff.) 12. Die Anfänge des Strukturalismus liegen im russischen
Formalismus. Zwei der produktivsten Formalisten veröffentlichten 1928 in Prag,
wo sich eine neue Gruppe formalistisch orientierter Sprach- und
Literaturwissenschaftler gebildet hatte, jene Thesen über „Probleme der Literatur-
und Sprachforschung“, welche als Anfang des Strukturalismus gesehen werden
können. Die Autoren, Roman Jakobson und Jurij Tynjanov, beziehen
nicht nur die Literatur erneut in die Wirklichkeit ein, sie fassen umgekehrt
zugleich alle Wirklichkeit als System. Literatur und Wirklichkeit wurden als
Systeme betrachtet. Die Isolation der Literatur, wie sie in der Konsequenz des
formalistischen Ansatzes lag, ist damit überwunden. (Strohmaier, 286) 13. Die Aufgabe des literaturwissenschaftlichen
Strukturalismus, der speziell in der Tschechoslowakei fortentwickelt wurde,
bestand zunächst in der Differenzierung der Struktur literarischer Werke
gegenüber der nicht-literarischen Wirklichkeit und in der Untersuchung der
Wechselwirkung zwischen beiden. Mukarovský, der bedeutendste Vertreter, betrachtete
Wirklichkeit als System mehrerer Arten der Funktionalisierung von Zeichen. Als
Spezifikum literarischer Werke sah er die ästhetische
Funktion, womit gemeint ist: die Verwendung von Zeichen, wie sie in
literarischen Werken üblich ist. Die ästhetische Funktion zeigt gegenüber
anderen Funktionen als wesentliches
Kennzeichen die Verweisung der Zeichen auf sich selbst. In der
ästhetischen Funktion wird demnach die Sicht frei für eine Erfassung der Welt
als ganzer. Die Enthebung des Zeichens aus seiner alltäglichen Funktion
entspricht einer Befreiung aus der Partikularität des Geläufigen zugunsten der
Totalität. Als entfunktionalisierte zeigt die Struktur des
Kunstwerkes die wahre Wirklichkeit der Dinge. Die ästhetische Funktion bewirkt
geradezu eine Ent-Funktionalisierung der in der alltäglichen Funktion
befangenen Gegenstände. Somit tendiert sie zum Übergang von Funktionalität in
reine Wahrheit. Mukarovský nennt diese Aufhebung aller bestimmten, einzelnen
Funktionen auch Autofunktion.
(Strohmaier, 286f.) 14. Von den Literaturwissenschaftlern unter den
französischen Strukturalisten wurden die Ansätze des tschechischen
Strukturalismus hauptsächlich in zwei verschiedenen Richtungen weiterverfolgt:
Eine Strömung versuchte, die Klärung des Verhältnisses von Literatur und
Geschichte zu erreichen, eine andere bemühte sich mehr darum, für bestimmte
Arten von Literatur Typen von kennzeichnenden Strukturen zu finden. Das
gemeinsame Interesse beider Fragestellungen war es, jene Strukturen zu
identifizieren, welche literarischen Werken als deren Prinzipien zugrunde
liegen. (Strohmaier, 287) 15. Die Strukturalisten waren in Frankreich von Anfang an
dem Vorwurf ausgesetzt, mit der Annahme von Strukturen überzeitliche,
ahistorische Instanzen zu setzen, aus denen historische Werke erklärt werden
sollten. Roland Barthes versuchte, dieser Ahistorizität dadurch zu entgehen,
daß er historisch sich wandelnde „Schreibweisen“ als das annimmt, wie und worin
Literatur sich manifestiere. Mit diesem Terminus bezeichnet er das
Bedeutungspotential eines Textes bzw. einer Gruppe von Texten, welches
einerseits die konkrete, geschichtliche Individualität des Autors wie des
Lesers übersteigt, andererseits gerade in der Art dieses Übersteigens die
Historizität des Textes zum Ausdruck bringt. Für Barthes ist also das
Hinausgehen über die konkrete, geschichtliche Individualität keineswegs ein
Schritt von der Historizität weg, sondern gerade erst das Finden derjenigen
Ebene, auf der sich seiner Meinung nach Geschichte abspielt. Für Barthes repräsentieren Geschichte und „Schreibweise“
dieselbe Ebene. Nicht in einem konkreten historischen Werk, sondern in der
„Schreibweise“ als dem epochalen Schreibstil wird ein Werk etwa als der Epoche
des Barock angehörendes fassbar. Der literaturtheoretischen Forderung nach der
Abwendung von einem einzelnen Autor als dem Prinzip eines literarischen Werkes
entspricht Barthes’ geschichtstheoretische nach der Abkehr der
Geschichtsschreibung von der Chronistik. (Strohmaier, 288) 16. Die Verbindung von literarischer Struktur und
Geschichte ist bei Barthes erreicht um den Preis einer Strukturalisierung der
Geschichte. Diese Verbindung ist einerseits die einzig konsequente, da
andernfalls entweder – wie bei Mukarovský – Literatur zum Übergeschichtlichen
würde oder die literarische Struktur letztlich nur Ausdruck eines bestimmten,
geschichtlich bedingten Inhalts wäre. Andererseits ist dieser Ansatz
fragwürdig, weil in ihm geschichtlicher Wandel überhaupt nicht erklärt werden
kann und weil Geschichte als nur einsinnig (von oben nach unten) wirkende
metaphysische Ebene vorgestellt wird. Mit Barthes’ Schritt wird Geschichte
literarisiert, Literatur aber nicht historisiert. (Strohmaier, 288f.) 17. Das Zeichen bedeutet bei Barthes nicht eine bestimmte
Sache, einen bestimmten Inhalt, sondern immer schon den ganzen Umkreis, in dem
es seine Funktion hat. Je abstrakter der Kontext ist, in dem ein Zeichen
gesehen wird, desto umfassender ist auch die Bedeutung, die es trägt. Das
Spezifische des Zeichens ist nach Barthes also nicht, eine bestimmte Bedeutung
zu haben, sondern vielmehr, verschiedene Bedeutungsebenen zu durchlaufen.
Analog zu dem Verständnis eines literarischen Werkes als eines
Zeichenkomplexes, der nicht nur einen bestimmten Inhalt bezeichnet, erschöpft
sich das einzelne Zeichen nicht in einer bestimmten Bedeutung. Barthes erfasst
damit die Vieldeutigkeit des Zeichens als sein eigentliches Wesen, das Zeichen
ist aller bestimmten Bedeutung voraus. (Strohmaier, 289) 18. Während Barthes an Zeichenkomplexen, etwa einem
Werbebild, zeigt, in welcher Weise ein Produkt mit der Erwartung eines höheren
gesellschaftlichen Status oder einer persönlichen Sehnsucht des angesprochenen
Kulturkreises verbunden wird, sieht er in der Literatur ein System von Zeichen,
das dazu tendiert, die Bindung von Zeichen an bestimmte Inhalte überhaupt
aufzuheben. Stellt nach Barthes jeder Versuch der Bindung eines Zeichens an
einen bestimmten Inhalt eine willkürliche Manipulation für ökonomische oder
andere Interessen dar, so wird in der Literatur jede Art solcher Verkürzung
aufgehoben. Für Barthes ist die Entfunktionalisierung von Zeichen ebenso wie
für Mukarovský eine Befreiung aus der funktionalisierten Sicht des Gewohnten.
Das nicht mehr Funktionalisierte wird als der eigentliche Inhalt der Literatur
sichtbar. Die „Leere“ als umfassender Inhalt der Literatur hat bei Barthes
nicht die Funktion, eine metaphysische Instanz zu benennen, sondern meint
Freiheit von Bedeutungen, die als nicht gerechtfertigt erscheinen. Wie für
Mukarovský liegt auch für Barthes das Spezifische der Literatur darin, daß sie
in dem Übersteigen aller Funktionalierung die konkrete Realität als
funktionalisierte, willkürlich beschränkte zeigt. Beiden Strukturalisten
gemeinsam ist ferner, dass das Verständnis der Literatur als eines strukturalen
Gebildes aus einer erkenntnistheoretischen Bewertung der Literatur entspringt;
die Vieldeutigkeit der Literatur gilt beiden als adäquate Darstellung der
Vieldeutigkeit der Realität. (Strohmaier, 289f.) 19. Weniger spekulativ als die Theorie Barthes’ ist die
von Tzvetan Todorov. Dieser beschränkt
seine Aussagen auf literarische Werke, speziell Prosa. Was Todorov als
Strukturalisten kennzeichnet, ist das Verständnis eines literarischen Textes
als eines Zeichenkomplexes, der in seiner Bedeutung das konkrete Textmaterial
übersteigt. Todorov bleibt dabei literaturimmanent. Er identifiziert
jenen Bereich literarischer Werke, der sich einer Interpretation entzieht,
nicht als universale Sicht der Realität, sondern als Erzählstruktur. Die Frage
nach der Beziehung von Literatur und Wirklichkeit bleibt bei ihm außer acht. Todorov untersuchte bestimmte Gruppen von literarischen
Texten, etwa den Kriminalroman, um deren gemeinsame Funktionsweise zu
ermitteln. Das Ergebnis sind Funktionsschemata der jeweils untersuchten Texte.
Die Einzeltexte erhalten diesen Schemata gegenüber den Status von Realisationen
des Gesetzes, das den Handlungsspielraum der Werke bestimmt. Was Todorov als
übergeordnete Struktur von Texten erfasst, nennt er „Poetik“ eines Text-Corpus. Die Textstruktur hat für Todorov andersartigen
Fragestellungen gegenüber einen Vorrang, da Erzählen für ihn der eigentliche
Inhalt von Literatur ist; mit der Analyse der Poetik will Todorov ermitteln,
was überhaupt Erzählen ist. Ein literarisches Werk erzählt nach ihm nie nur den
Inhalt, sondern immer schon das Erzählen selbst. In Übereinstimmung mit
Jakobson ist Literatur bei ihm immer Entfaltung ihrer eigenen Struktur. Ahistorisch wird der Strukturalismus bei Todorov, wie auch
bei den zuvor besprochenen Strukturalisten, nicht dadurch, dass sie Geschichte
und die geschichtliche Veränderung von Texten leugneten, sondern durch den
methodologisch fundierten Primat der Struktur. Geschichtlicher Wandel wird zwar
für die Elemente eines Kunstwerkes eingeräumt, nicht aber bezüglich dessen,
dass sein Prinzip Strukturalität sei. Der Vorrang der Struktur ist nicht
zeitlicher oder kausaler Art, er besteht darin, dass die Struktur alle
Möglichkeiten konkreter Texte umfasst. Die Konzentration auf die Struktur
literarischer Werke ist motiviert durch das Verständnis des Forschungsobjekts
als eines strukturalen Gebildes. Methodologisch weist diese Sicht gegenüber
anderen Methoden der Literaturwissenschaft den Vorteil auf, daß die Texte verschiedener
Textgruppen als Realisationen eines Modells zu verstehen sind, welches sich
nicht in dem erschöpft, was an Texten vorliegt, sie hat jedoch zugleich den
Nachteil, die historische Motivation von Texten auf untergeordnete Elemente
abzudrängen. (Strohmaier, 290f.) 20. Dem Vorrang der Möglichkeiten literarischer Produktion
vor den konkreten Texten liegt ein sehr einfacher Gedanke zugrunde. Die
Strukturalisten verstehen jene Struktur, die den von ihnen untersuchten Texten
gemeinsam ist, nicht als Allgemeines, also als Sekundäres, sondern als deren
Prinzip. Ihre methodische Ausgangsbasis bedeutet eine Verkehrung des
traditionellen Verfahrens: Das, was in traditionellen Methoden als im einzelnen
Text bzw. seinen Elementen nicht mehr fassbarer Bedeutungsüberschuss gilt, wird
im Strukturalismus als das Primäre gegenüber einzelnen Texten gesehen.
(Strohmaier, 291) 21. Kurze systematische Darstellung des
literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. Mit der Untersuchung der Struktur beanspruchen die Strukturalisten
das Wesentliche an der Literatur zu erfassen. Struktur bedeutet für sie nicht
Form, sondern die Einheit von Form und Inhalt. Beides sind nur Momente von
Struktur. Mit diesem Terminus bezeichnen die Strukturalisten eine Ordnung, ein
System, das hinter demjenigen steht,
was als Text vorliegt. Der Text ist gegenüber der Struktur etwas Sekundäres.
Mit der Analyse der Struktur wird versucht, das Organisationsprinzip eines
Textes herauszuarbeiten. Die Strukturalisten sehen in der strukturalen Gestalt von
literarischen Texten dasjenige Moment, das sie von anderen Arten der
Sprachverwendung unterscheidet. Struktur bedeutet demnach 1. das allgemeine
Organisationsprinzip von Wörtern in der Sprache, 2. das spezifische
Organisationsprinzip von Wörtern in einem literarischen Text. (Seit den
Russischen Formalisten wird letzteres als das gesehen, was das Literarische an
literarischen Werken ausmacht.) Während in der Alltagssprache, ebenso z.B. auch in der
Sprache der Wissenschaft, ein Wort zur Bezeichnung eines bestimmten
Gegenstandes benutzt wird, ist dieser Gegenstandsbezug in literarischen Texten
aufgehoben zugunsten einer Verweisung des Zeichens auf sich selbst. Die
Bedeutung von Wörtern in einem literarischen Text leitet sich aus dem System
her, das ein literarisches Werk repräsentiert. Mit der Veränderung der Funktion von Wörtern in der
Alltagssprache einerseits, der Literatur andererseits vollzieht sich nicht nur
ein Wechsel der Bedeutungen, sondern von der „Bedeutung“ zum Zeichen. Drückt ein Wort in der
Alltagssprache einen bestimmten Inhalt aus, so erhält es in einem literarischen
Text die Funktion eines Trägers möglicher
Bedeutungen. Die Offenheit gegenüber Bedeutungen drückt sich in dem neutralen
Terminus „Zeichen“ aus. Gegenüber der Alltagssprache weist ein literarischer
Text als differentielles Merkmal die Zeichenhaftigkeit auf. Dementsprechend
wird vom literarischen Text nicht als einem System von Bedeutungen gesprochen,
sondern als einem System von „Zeichen“. Analog dazu gilt die Struktur
literarischer Werke nicht als Träger bestimmter Bedeutungen, sie bildet
vielmehr ein System möglicher Bedeutungen. (Strohmaier, 291ff.) 22. Erst mit dem Verständnis des literarischen Werkes als
eines ganzheitlichen Zeichenkomplexes kann man nach Ansicht der Strukturalisten
dem Literarischen an einem Text gerecht werden. Eine Interpretation kann – so
die Strukturalisten – nur dann adäquat sein, wenn sie stets an der Literarität
eines literarischen Textes orientiert ist, wenn sie also als Strukturanalyse
vollzogen wird. Strukturanalyse ist demnach nicht eine Aufgabe, die sich neben
anderen für die Literaturwissenschaft stellt, sondern sie ist deren primäres
Ziel. Von Sklovskij bis Barthes zieht sich die Polemik gegen
Methoden der Interpretation, welche literarische Texte dadurch zu erfassen
versuchen, dass sie ein Werk als Ganzes oder Teile von ihm einfach
„übersetzen“, indem sie es etwa auf eine soziologische Basis übertragen. In einer strukturalistischen Analyse sind Interpretationen
soziologischer, biographischer oder psychologischer Art keineswegs
ausgeschlossen; allerdings gelten sie nur als untergeordnete Kommentare zu
einem literarischen Werk, nicht jedoch als dessen adäquate Erfassung. Sie haben
nach strukturalistischer Auffassung eine Gültigkeit nur bezüglich der isolierten
Elemente des Textes, gehen jedoch am Wesen ihres Objektes, an dessen Systematik
und Zeichenhaftigkeit vorbei. (Strohmaier, 293) 23. Mit der „Struktur“ soll ein Rahmen möglicher
Interpretationen gegeben werden. Die strukturalistische Analyse wird damit jener
Vieldeutigkeit gerecht, die sich oft als Konkurrenz verschiedener
Interpretationen manifestiert. In diametralen Gegensatz zu dem Projekt, die
Vieldeutigkeit eines literarischen Textes auszufüllen, sieht die strukturale
Methode ihr Hauptziel gerade darin, jene Vieldeutigkeit als das Wesen
literarischer Werke zu zeigen und vor der Festlegung durch Interpretationen zu
retten. Diese Vieldeutigkeit stellt die Schranke wissenschaftlicher
Aussagemöglichkeiten über Literatur dar. (Strohmaier, 294) 24. Der Vorrang der Struktur bezieht sich nicht auf die
Priorität gegenüber Elementen einzelner Werke, er gilt zugleich für
literarische Werke untereinander. Dies ist eine Konsequenz des Anspruchs, dass
Struktur als das Prinzip von Literatur dessen Verwirklichung in einzelnen
literarischen Werken übersteigt. Das gilt nicht nur für Werke, die derselben
Epoche zugehörig sind, sondern für Literatur überhaupt. Die übergeordnete Struktur besitzt jeweils Priorität der
untergeordneten gegenüber, sofern sie als deren Prinzip gilt. Literatur stellt
für die Strukturalisten ein Phänomen dar, das über allen Elementen des
einzelnen Werkes und über allen Werken steht. Erklärt wird im Strukturalismus
demgemäss nur das Prinzip
literarischer Texte, nicht jedoch deren konkrete Ausformung. Das Konkrete, und
das gilt für einen bestimmten Text wie für die Umstände seiner Entstehung, ist
nur Manifestation einer Struktur, also einer Instanz, welche allem Konkreten
voraus ist. Das Konkrete bildet lediglich ein Indiz für die Struktur als dem Bedeutungsrahmen
eines literarischen Werkes, und dieser Bedeutungsrahmen ist allein das
Spezifische eines literarischen Textes. Strukturalisten verwenden zur
Bezeichnung ihrer Arbeit den Begriff „Analyse“, um sich gegen die
„Interpretation“ abzugrenzen, welche ja gerade einen Text auf irgendeine
Bedeutung hin zu entschlüsseln versucht. (Strohmaier, 294) 25. Auf der anderen Seite ist die Literatur zugleich
Hinweis auf jene Wirklichkeit, in der das Konkrete seinen Platz hat. In der
Abwendung von allem Partikularen erreicht das literarische Werk erst die
Möglichkeit, den Blick freizumachen für die Realität als Ganzes. Literatur
befreit von jener Befangenheit des Blicks, der die alltägliche Sicht der Welt
kennzeichnet. Die Darstellung der Struktur als des Prinzips von
Literatur ist ihrerseits begründet in dem Verständnis der Realität als eines
offenen, nicht endgültig interpretierbaren Beziehungsgefüges. Die strukturale
Gestalt der Literatur bedeutet eine Analogie der Gestalt von Literatur und
Realität. „Struktur“ repräsentiert demnach über die Kennzeichnung des
Spezifikums von Literatur hinaus eine Form der Aussage über die Realität.
Literatur ist auf Grund ihrer Strukturalität die umfassendste und wahrste
Aussageform. Sie hat einen erkenntnistheoretischen Vorrang vor anderen Formen
der Welterkenntnis, sofern sie die Offenheit gegenüber festlegenden
Interpretationen als das Wesen der Realität zum Vorschein bringt. Reziprok zur
Aufhebung einzelner Bedeutungen ist nach Ansicht der Strukturalisten die
Literatur Hinweis auf die umfassende Deutbarkeit der Dinge. (Strohmaier, 294f.) 26. Sind alle Bereiche der Literatur unter den Begriff der
Struktur zu subsumieren, so müssen alle Sonderdisziplinen der
Literaturwissenschaft von dem Prinzip der Strukturalität her neu begründet
werden. Das betrifft auch die Rezeption von Literatur. Dass dem Rezipienten
eine wesentliche Rolle in der strukturalistischen Literaturtheorie zukommt,
geht schon daraus hervor, dass das System von Zeichen, als das ein
literarischer Text vorgestellt wird, einer Aktualisierung bedarf. Erst durch
den Leser wird die Differenz zwischen der Bedeutung eines Zeichens im
alltagssprachlichen Gebrauch und seiner Verwendung in einem literarischen Text
aktualisiert. Der Rezipient ist die Instanz, durch welche die Wechselwirkung
zwischen der Verfremdung der alltäglichen Gewohnheit und dem Hinweis auf die
Ganzheit der Wirklichkeit zustande kommt. Bei der Rezeption als Nachvollzug der
Ent-Funktionalisierung des einzelnen Momentes zugunsten seiner Einordnung in die
übergreifende Struktur des literarischen Werkes verändert sich die Rolle des
Rezipienten, indem sich dieser vom rezipierenden Subjekt zum Objekt jener
Struktur wandelt, die er im literarischen Werk als die umfassende wahrnimmt. Die Funktion des Rezipienten ist die, Literatur als
Transsubjektives zur Geltung zu bringen. Wie das literarische Werk sich aller
Reduktion auf bestimmte Erklärungsebenen (Psychologie, Geistesgeschichte,
Soziologie) entzieht, so übersteigt es auch jede subjektive Interpretation
durch den Leser. (Strohmaier, 295f.) 27. Entsprechend erhält die Geschichte der Literatur einen
sekundären Status gegenüber dem prinzipiellen Primat der Struktur. Die
geschichtliche Veränderung wird verstanden als Variation des invarianten
Prinzips „Literatur“. Was der Literaturgeschichte als Aufgabengebiet zukommt,
ist die Beschreibung jeweils vorherrschender, typischer Manifestationen der
literarischen Struktur. (Strohmaier, 296) 28. Die Ergebnisse anderer Bereiche der
Literaturwissenschaft betreffen nach strukturalistischer Auffassung nur
einzelne Elemente eines literarischen Werkes, gehen aber an der literarischen
Funktion jener Elemente, nur Zeichen zu sein, vorbei. Das Objekt der
„traditionellen“Literaturwissenschaft, der jeweils vorliegende Text, ist für
den Strukturalisten nur Zeichen für eine den Text übersteigende Bedeutung. Die Überlagerung von Spezialbereichen der
Literaturwissenschaft durch ein umfassendes Prinzip stellt eine methodologische
Konsequenz des Ausgangspunktes jeder Art von Strukturalismus dar: der
semiologischem Differenz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Da das
Bezeichnete in der Literatur alle biographische, soziologische etc. Bedingtheit
übersteigt, ist der adäquate methodische Zugang zu literarischen Werken der
semiologische, sofern er den Text als Zeichen einer erst zu ermittelnden
Bedeutung sieht. (Strohmaier. 296f.) 29. Gerade die These von der nur zeichenhaften
Greifbarkeit der Bedeutung eines literarischen Werkes bedingt die
Unverbindlichkeit strukturalistischer Analysen, wie anhand von Jakobsons
Analyse des Brecht-Gedichtes Wr sind sie
erläutert wird. Bevor Jakobson auf das Gedicht eingeht, weist er auf den
Stellenwert der Grammatik in der Lyrik hin. In formalen Elementen der Lyrik
Brechts, z.B. der Kontrastierung zusammengehöriger Sätze, sieht er
Möglichkeiten zur Analyse der Grammatik von Brechts Gedicht. Jakobson hebt
hervor, mit welchen grammatikalischen Mitteln Brecht Kontinuität und Abweichung
zum Ausdruck bringt. Dabei gilt die Ebene der Grammatik als der Code, der das
Gedicht trägt. Jakobson stellt zunächst den Parallelismus als wesentliche
Stileigentümlichkeit der Gedichte Brechts dar. Anhand der Untersuchung der
Satzstruktur zeigt er, dass dieser Parallelismus zugleich die Kontrastierung
von Elementen und die Ganzheit des Gedichts bewirkt. Jakobson analysiert das
Verhältnis der vier Strophen des Gedichtes als ein „geschlossenes
grammatikalisches Ganzes“, dessen Strophenpaare eine „Spiegelbildsymmetrie“
aufweisen. Bei der Untersuchung der im Text vorliegenden Wortarten
stellt Jakobson ein Vorherrschen der Pronomina fest. Deren Häufigkeit
interpretiert er von der Ebene der Sprechbarkeit des Gedichtes her. Im letzten Teil fügt Jakobson der grammatischen Ebene und
der der Sprechbarkeit noch die des Inhalts hinzu. Er führt den Inhalts des
Gedichtes nur in der abstrakten Form an, wie Brecht ihn in einer theoretischen
Abhandlung ausdrückte. Auf den Inhalt des konkreten Gedichtes, die Rolle der
Partei, geht Jakobson gar nicht ein. Jakobson gibt keine Interpretation des Gedichtes. Er weist
lediglich den Rahmen einer möglichen Interpretation auf. Dass er sich mit der
Darstellung der strukturellen Entsprechung von Grammatik, Sprechbarkeit und der
abstrakten Form des Inhalts auf einen Interpretationsrahmen beschränkt, ist nur konsequent, da nach strukturalistischer
Auffassung das Literarische eines literarischen Textes gerade darin besteht,
dass es sich jeder bestimmten Interpretation entzieht. Was Jakobson liefert,
ist eine Vorgabe des Spielraumes, in dem sich eine Interpretation zu vollziehen
hätte. Befriedigender wäre eine strukturalistische Interpretation
zweifellos, wenn der Autor die Grenze zwischen Analyse und Interpretation genau
angeben würde. Das Problem dieser Abgrenzung stellt sich nicht nur dann, wenn
der Leser einer strukturalistischen Analyse fragt, warum die Analyse gerade
hier und nicht auf einer anderen Ebene abbricht; vielmehr stellt es sich zu
Anfang einer jeden Analyse, wenn der Leser mit der Frage allein bleibt, warum
der Autor z.B. die grammatikalische Ebene als die tragende ansieht oder warum
der Verfasser ein bestimmtes Kriterium wählt, anhand dessen er Kontinuität und
Differenz misst. Der Strukturalismus stößt an dem Punkt auf Probleme, an dem er
zur Anwendung übergeht. Der Grund für diese Schwierigkeit beruht darin, dass er
einerseits Interpretationen prinzipiell in Frage stellt, dass er andererseits
aber bei der Analyse nicht ohne interpretatorische Hypothesen auskommt. Zwischen den Ergebnissen verschiedener Interpretationen
und dem, was der Strukturalismus als das Kennzeichen von Literatur deutlich
gemacht hat, besteht eine Diskrepanz, die bisher nicht überwunden ist.
(Strohmaier, 297f.) 30. Historisch gesehen ist der Strukturalismus in der
Literaturwissenschaft aus dem russischen Formalismus hervorgegangen, wovon die
Laufbahn Roman Jakobsons (1896-1982) beredtes Zeugnis ablegt. In Bereichen
außerhalb der Literaturwissenschaft ist die Genese eine grundsätzlich andere.
(Meyer, 43) 31. Unbestritten ist die konstitutive Rolle der von
Saussure formulierten vier Dichotomien für den Strukturalismus: 1. langue –
parole; 2. Synchronie – Diachronie; 3. signifiant – signifié; 4. syntagmatisch
– paradigmatisch. Aus der Saussureschen Unterscheidung von langue (dem relativ stabilen Sprachsystem) und parole (der individuellen Verwendung der Sprache, die die langue durch abweichende Anwendung
modifiziert) entwickelt sich die im späteren Strukturalismus einflußreiche
Konzeption des Kodes. Aus der Opposition zwischen signifiant (Bezeichnendem) und signifié
(Bezeichnetem) geht die im Rahmen des Strukturalismus entstandene Semiotik
hervor. (Meyer, 45) 32. Der nach Prag emigrierte Jakobson entwickelt zusammen
mit Trubeckoj (1890-1938) im Umfeld des 1926 gegründeten Cercle linguistique de Prague eine strukturalistische Phonologie,
die anhand von binären Oppositionen im Rahmen von distinkten Merkmalen ein
Raster zur Abgrenzung der Einheiten gegeneinander entwirft. Man kann diese
Ausrichtung als Strukturalismus in Reinkultur bezeichnen. Im Jahre 1929 erklärt Jakobson den Strukturalismus zur
neuen und transdiziplinären Wissenschaftsrichtung. Während Jakobson um eine
Verbindung zwischen der Literatur- und der Sprachtheorie nach dem Modell der
strukturalen Phonologie bemüht ist, kommt es durch Jan Mukarovský (1891-1975) zu Innovationen. Er betont
den Unterschied zwischen Formalismus und Strukturalismus als die Differenz
zwischen einer bloßen Summierung der Verfahren und einer Systemhaftigkeit des Ensembles aller Ebenen und ihrer
Wechselbeziehungen. (Meyer, 45) 33. Als Spezifikum im Denken Mukarovskýs und als
kennzeichnend für die tschechische Variante des Strukturalismus kann die
Unterscheidung zwischen dem ‘Artefakt’ und dem ‘ästhetischen Objekt’ dienen.
Letzteres wird durch das soziale Kollektiv bestimmt, und das Kunstwerk wird im
Rahmen der sozialen Kommunikation definiert. Deshalb ist das ‘ästhetische
Objekt’ – im Gegensatz zum ‘Artefakt’ – je nach Epoche und sozialer
Konfiguration wandelbar. Ein weiteres spezifisches Konzept ist die ‘semantische
Geste’. Die Bedeutungseinheit, die ein literarisches Werk ausmacht, wird nach
Mukarovský von einem dynamischen Aufbauprinzip abgeleitet, an die Intention der
anordnenden Instanz gebunden und von der Rezeption abgekoppelt. (Meyer, 45f.) 34. Der Einfluss des Strukturalismus erreicht seinen
Höhepunkt einige Jahrzehnte später, und zwar zunächst in Frankreich. Die
Übergangsfiguren sind vor allem außerhalb der Literaturwissenschaft verortet:
Jacques Lacan (1901-1981) mit seinen Studien zur strukturalen Psychoanalyse und
die Anthropologie von Claude Lévi-Strauss (1908), der 1949 Les structures élémentaires de la parenté veröffentlicht. Die
wissenschafts- und institutionsgeschichtlichen Arbeiten von Michel Foucault
(1926-1984) werden z.T. auch zum Strukturalismus gezählt, befinden sich aber bereits an der Kippe zur
Diskursanalyse. Der strukturalistische Neuanfang in der Literaturwissenschaft
ist mit Roland Barthes (1915-1980) eng verknüpft. (Meyer, 46) 35. Charakteristisch für den späteren Strukturalismus ist
auch die von Jakobson formulierte Zweiachsen-Theorie der Sprache. Sie
bezeichnet die Spannung und Wechselwirkung zwischen der Achse der Selektion
(Paradigmatik) und der Achse der Kombination (Syntagmatik) als diejenige
Sprachoperation, die die ‘Poetizität’ von Texten ausmacht. Paradigmatik und Syntagmatik
werden jeweils mit den poetisch-rhetorischen Tropen Metapher und Metonymie
verknüpft. Diese Achsentheorie wird u.a. von Jurij Lotman (1921-1993)
aufgenommen, dessen Die Struktur
literarischer Texte (1972) als das Schlüsselwerk der strukturalistischen
Textbeschreibung gelten kann. Diese Arbeit ist das am meisten verbreitete Werk
aus der sog. Moskau-Tartuer-Schule, die ab Mitte der sechziger Jahre eine
besondere Version des Strukturalismus entwickelte, die z.T. als Rückbesinnung
auf die formalistische Tradition zu sehen ist. (Meyer, 46f.) 36. In den sechziger Jahren bildet sich eine
strukturalistische Schule der Narratologie heraus, als deren wichtigste
Vertreter Claude Bremond und Algirdas Greimas anzusehen sind. Ihre Arbeiten
gehen u.a. aus den Arbeiten Vladimir Propps (1895-1970) hervor, eines späten
Formalisten, der die Fabula des Zaubermärchens in einzelne Bausteine zerlegt,
um alle Vertreter dieser Gattung als Ketten dieser Bausteine zu beschreiben. In
Deutschland begann die Beschäftigung mit dem Strukturalismus in der
Literaturwissenschaft in den sechziger Jahren, fiel jedoch zeitlich mit dem
Höhepunkt der Auseinandersetzungen über die neomarxistischen Konzeptionen
zusammen. Sowohl die marxistische als auch die nichtmarxistische Kritik beklagten
die ‘Geschichtsfeindlichkeit’ und die ‘Elimination des menschlichen Subjekts’.
An diese Kritik knüpft die in den siebziger Jahren einflussreiche Hermeneutik
an, so dass der Strukturalismus nie eine Phase der eindeutigen Dominanz in der
deutschen Literaturwissenschaft erlebt hat. (Meyer, 47) 37. Während einige behaupten, der Strukturalismus sei vom
‘Poststrukturalismus’ tatsächlich überwunden worden, vertreten andere die
These, dass die Arbeiten von Poststrukturalisten wie Derrida und Kristeva einen
Rückfall hinter zentrale Prinzipien des Strukturalismus darstellen. Jedenfalls
bleiben die Prinzipien des Strukturalismus in der Analyse des Sprachmaterials
und der Verfahrensebenen des Textes ein unübertroffener Standard. Durch den
russischen Formalismus und den Strukturalismus wird die Verwissenschaftlichung
der Literaturanalyse im 20. Jahrhundert vollzogen, wobei die Grenzen und nicht
ausreichend hinterfragten Voraussetzungen des Modells durch Dekonstruktion und
Poststrukturalismus auf produktive Weise aufgezeigt worden sind. (Meyer, 47) 38. Formalismus und Strukturalismus stehen als
literaturwissenschaftliche Methoden des 20. Jahrhunderts, insofern sie in eine
Ästhetik der Innovation eingebettet sind, der avantgardistischen Kunst und
Literatur der Hochmoderne nahe. Im Rückblick erscheinen sie als Bestandteil
jenes ‘linguistischen Zeitalters’, das bis hinein in die Sprachphilosophie den
Kern der Kultur und ihrer Wissenschaft im Medium der Sprache zu fassen suchte. Husserls Phänomenologie
mit ihrer Kategorie der „Einstellung“, vor allem aber die von Linguisten
wie Ferdinand de Saussure auf den Weg gebrachte strukturale Sprachwissenschaft mit ihrer zentralen Unterscheidung
zwischen Paradigmatik und Syntagmatik bilden die gemeinsame Grundlage für den
Russischen Formalismus wie den daraus hervorgegangenen Strukturalismus in der
Literaturwissenschaft; dieser Ursprung erklärt auch die Nähe beider zu
Semiologie und Semiotik. (Grübel, 386) 39. Ihre Vertreter widersetzten sich dem
literaturwissenschaftlichen Positivismus wie der Geistesgeschichte, dem Glauben
an die Determination kultureller Erscheinungen durch linear-kausale historische
oder ökonomische Gesetzmäßigkeiten und der Indienstnahme der Literatur für die
allgemeine Geschichtsschreibung. Sie verfahren andererseits aber auch nicht
ahistorisch, da sie geschichtliche Momente aus ihrer Literaturbetrachtung
keineswegs ausblenden. Literatur und Kunst werden von ihnen nicht länger als
‘Spiegel’ einer vorgegebenen äußeren Wirklichkeit angesehen, auch nicht als
‘niedere’ materielle Zeugen einer ‘höheren’ psychischen oder metaphysischen
Realität, sondern als Erscheinungen von eigener Art und mit eigenem Wert.
(Grübel, 386) 40. Die Einstellung auf den Systemcharakter kultureller Felder und ihrer Einzelerscheinungen
verbindet den späten Formalismus methodisch mit dem frühen Strukturalismus und nähert sie der Gestalttheorie an. Der
Strukturalismus zeigte sich in Zielsetzung und Methode weit heterogener als der
in seinem Kern verhältnismäßig homogene Formalismus. Bindeglied für die
angestrebte universelle Kulturwissenschaft war die Vorstellung, kulturelle
Erscheinungen gehorchten wie der Redeakt („parole“) einem System von Regeln,
wie sie die Sprache darstellt („langue“), und sie ließen sich mehr oder weniger
wie das System der Sprache modellieren. Ein wichtiges Vorbild war die von N.S.
Trubeckoj im Anschluss an Saussure entwickelte Phonologie, die Phoneme nicht
als Einzelerscheinungen nach ihrem positiven Lautwert bestimmt, sondern
aufgrund ihrer distinktiven Eigenschaften nach ihrem Stellenwert im System der
Bedeutung tragenden Sprachlaute. (Grübel, 396) 41. Dem wesentlich von Jan Mukarovský getragenen
strukturalistischen „cercle linguistique“ ging es vor allem darum, die
ästhetische Tätigkeit in ein funktionales Verhältnis zu anderen kulturellen
Praktiken zu setzen und die Evolution von Literatur und Kunst in einem Modell
von Errichtung und Durchbrechung der ästhetischen Norm zu fassen. Der Wert
eines Kunstwerks vermittelt demnach zwischen seiner ästhetischen Funktion und
der Norm. Die ästhetische Funktion
ist anders als die praktische
Funktion nicht auf den gestaltenden Eingriff des Subjekts in die Wirklichkeit
gerichtet, auch nicht wie die theoretische
Funktion auf den Eingriff in das
Bewusstsein von Wirklichkeit. Der ästhetische Wert befreit andere Werte aus
ihrer Bindung an den existentiellen Wert und bezieht sie so auf das
Gesamtsystem kultureller Werte. (Grübel, 396f.) 42. Mukarovský unterscheidet am Kunstwerk zwischen (1) dem
in seinem Bestand relativ stabilen, sinnlich wahrnehmbaren materiellen Werk,
dem „Artefakt, (2) dem im kollektiven Bewusstsein verankerten „ästhetischen
Objekt“, das sich zum Artefakt verhält wie das Signifikat eines Zeichens zu
seinem Signifikanten, und (3) dem Verhältnis beider zum bezeichneten Sachverhalt, zur im Werk dargestellten
Wirklichkeit, die sich ihrerseits gliedert in einen konkreteren inhaltlichen
Teil (explizit dargestellte Personen,
Gegenstände, Ereignisse) und die impliziten
philosophischen, politischen und ökonomischen Erscheinungen des jeweiligen
historischen Milieus. Die Integration der Bedeutungsverweise im jeweiligen
Kunstwerk wird geleistet durch die „semantische Geste“, die die allgemeine
Redehaltung des jeweiligen Werks bezeichnet. (Grübel, 397) 43. Mukarovskij hält an der Innovationsästhetik fest: Zwar
räumt er ein, dass in Klassizismus und Symbolismus die Norm viel stärker binde
als in der Moderne, doch ist seine Ästhetik auf stete Erneuerung gegründet und
lässt sich daher auf Folklore und Trivialliteratur kaum anwenden. (Grübel, 397) 44. Nach Jakobson lenkt in der schönen Literatur die
vorherrschende poetische Funktion die
Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Mitteilung in ihrer Ausdrucksgestalt (z.B. ihre Lautung, Diktion, Syntax) und
bringt so ihre Selbstbezüglichkeit zur
Geltung. Das entscheidende Mittel, diese Umorientierung des Rezipienten
zustande zu bringen, ist die Herstellung von Äquivalenzen zwischen benachbarten
Einheiten. Sie wird zuwege gebracht durch die zusätzliche Herstellung
paradigmatischer Beziehungen zwischen den in syntagmatischer Folge angeordneten
Einheiten. Die Bildersprache kann Jakobson zufolge entweder im
paradigmatischen Prinzip der Übereinstimmung von Merkmalen gründen
(‘Similarität’) und Metaphern
erzeugen (z.B. ‘Windrose’ für Koordinatensysteme der Winde) oder den Grundsatz
der Syntagmatik von Erscheinungen nutzen (‘Kontiguität’) und Metonymien bilden (z.B. ‘Südwester’ für
Wind aus südwestlicher Richtung). (Grübel, 398) 45. Offene Fragen mit Blick auf Jakobsons Strukturalismus
gelten der Wahrnehmbarkeit der linguistisch feststellbaren Äquivalenzen durch
Leser oder Hörer. Wenn der Linguist zum kompetentesten Leser erklärt wird,
erlangt dann nicht die linguistische Präsumption für die Werkpoetik einen
normativen Charakter? (Grübel, 398f.) 46. Auch Lévi-Strauss’ anthropologischer
Strukturalismus gründet in der vorausgesetzten Sprachanalogie der
Bewusstseinserscheinungen. Lévi-Strauss will sie anhand von durch „bricolage“
(Bastelei) konstituierten archaisch-mythischen Kulturelementen nachweisen im unbewussten,
zugleich synchronische und diachronische Totalitäten erfassenden ‘wilden’
Denken. Obgleich er anthropologische und sprachliche Erscheinungen
verschiedenen Ordnungen zuweist, sieht er sie doch als Phänomene gleichen Typs
an und sucht in ihnen dieselben systemhaften Universalien. Alle geistigen
Erscheinungen werden von Lévi-Strauss konsequent als strukturierte Gebilde
aufgefasst, deren Hauptmoment die Bauform ist: „Die Struktur ist der Inhalt“.
Im gleichen Zuge wird die Methode zum Gegenstand der Betrachtung, die so
allgemeine Dichtomien konstituiert wie belebte/unbelebte Erscheinung,
figürliche/unfigürliche Darstellung oder das „kulinarische Dreieck“
Kochen/Braten/Räuchern und sie Verhältnissen anderer Ordnung (z.B. Freund vs.
Feind) analog setzt. Lévi-Strauss’ Mythologie ist, da sie die erörterten
Strukturen als im untersuchten Gegenstand real gegeben voraussetzt, ein
Beispiel für einen ontologischen
Strukturalismus, wie ihn Saussure in der Sprachwissenschaft vertreten hatte.
Die strukturale Analyse Lévi-Strauss’ führt Glieder syntagmatischer Ketten
zurück auf universale paradigmatische Beziehungen, die als ihnen
zugrundeliegend gedacht sind, und verharrt dabei in der Synchronie. (Grübel,
399) 47. Lévi-Strauss entschlüsselt die Sprache von Märchen und
Mythen, die er als nachrichtenorientiert der poetischen Sprache entgegensetzt,
am Material archaischer Kulturen. So liest er den Mythos des Ödipus als einen
Text, der die Frage nach der Entstehung des Menschen aufgrund der
Strukturgleichheit durch Über- und Untertreibung der Blutsverwandtschaft gegen
die empirische Evidenz zugunsten der Kosmologie entscheidet. (Grübel, 399f.) 48. Roland Barthes widmete sich zunächst den „Mythen des
Alltags“. Diese „Mythen“ fasst er als gesellschaftlicher Semiologie der
Zivilisation auf, als „sekundäres semiologisches System“. Die Speisekarte eines
Restaurants etwa bietet als Zeichensystem der Gastronomie die Gerichte
paradigmatisch unter den Rubriken „Vorspeise“, „Hauptgerichte“, „Nachspeisen“
und syntagmatisch unter dem Stichwort „Menü“; sie entfaltet so einen Subcode
der „Sprache der Kultur“. Das Einnehmen einer Speisenfolge ist ein „Redeakt“,
der aus dem Paradigma der Speisen eine syntagmatisch geordnete Auswahl trifft.
(Grübel, 400) 49. Barthes’ „strukturalistische Tätigkeit“ besteht – wie
die künstlerische Handlung – im Zerlegen von Texten und im erneuten Arrangement
der erhaltenen „Einheiten“. Beide Operationen dienen dazu, die signifikative
Funktion der Einheiten und durch sie die Schreibweise
erkennbar zu machen, den zuvor undurchschauten Gegenstand um den Gegenstand zu
ergänzen, der mit Blick auf sein Funktionieren verstanden wird. Das
strukturierende Subjekt ist dabei ebenso in die Funktionalität des Bezeichnens
eingebunden wie der zu strukturierende Gegenstand. (Grübel, 400) 50. Neben der Schreibweise steht für Barthes die Institution der Literatur in ihrem
historischen Wechselverhältnis zu anderen sozialen Institutionen im
Vordergrund. Literaturgeschichte ist demnach sozialgeschichtliche
Institutionenkunde. Freilich bleibt auch Barthes’ „Nouvelle critique“ der
Innovationsästhetik verpflichtet: Die alte, konventionalisierte Literatur, die
nur „lesbar“ (lisible) ist, übermittelt uns überlieferte (Un-)Wahrheiten,
während eine auch „schreibbare“ („scribible“) neue Literatur unserer Zeit
adäquat ist. Barthes geht es 1959 um die Diachronie von Bezeichnungsfunktionen,
die er für seine Gegenwart einmünden sieht in den aporetischen Widerspruch
zwischen überkommenen Themen und lebendiger Gegenwart oder zwischen frischem
Thema und konventioneller Schreibweise. Sartre hat dem Strukturalismus von Lévi-Strauss und
Barthes das „Verschwinden des Subjekts“ angelastet. Den „Tod des Autors“, sein
Verschwinden in der Textur der Sprache, Intertexte, Diskurse, hat Barthes in
seinem berühmten Aufsatz „La mort de l’auteur“ als radikalisierte Konsequenz
aus Nietzsches Proklamation des „Todes Gottes“ beschrieben – aber zugleich als
„die Geburt des Lesers“. (Grübel, 400f.) 51. Im französischen Strukturalismus überwiegt die
Beschäftigung mit Prosatexten. Seine literaturwissenschaftlich bedeutendste
Leistung ist vielleicht die strukturale Erzähltextanalyse. Dabei werden als
„Erzählungen“ literarische Darstellungen von Geschehen aufgefasst, unabhängig
davon, ob es sich um Märchen, Romane oder Novellen handelt oder um Dramen,
Balladen, Filme usf.). Ausgangspunkt der strukturalen Narratologie ist V. Propps
Studie Morphologie des Märchens (1929). Propps erzähl-“syntaktische“ Analyse
führt ein Korpus hochstandardisierter russischer Zaubermärchen auf eine Kette
von „Funktionen“ (Grundhandlungen) zurück, die als syntaktische Schemata gebaut
sind. (Grübel, 401) 52. Angeregt wohl auch vom Vorbild der generativen
Grammatik führt Bremond die Inhaltsstruktur von Erzähltexten mit Hilfe von
„Elementarsequenzen“ auf eine endliche Zahl von Urstrukturen zurück. Dabei wird
ein geschlossenes System vorausgesetzt, in dem jede gegebene Funktion das
Vorhandensein anderer Funktionen voraussetzt. (Grübel, 401f.) 53. Barthes hat 1966 in seiner grundlegenden Studie Einführung in die strukturale Analyse von
Erzählungen eine die Grenzen des Satzes übersteigende textlinguistische
Erzähltextanalyse gefordert. Sie erlaubt es, die unübersehbare Vielzahl der
Erzählungen auf einige wiederkehrende Grundprinzipien zurückzuführen. (Grübel,
402) 54. Wie andere Strukturalisten lehnt auch Barthes es ab,
die Protagonisten essentialistisch zu
bestimmen, und schlägt stattdessen vor, sie nach strukturalen und pragmatischen
Verhaltensformen wie „Wunsch“, „Verständigung“, „Kampf“ usf. einzuteilen. Das
Subjekt der erzählten Handlung ist, nach Barthes, eher von linguistischen
Kategorien wie den Personalpronomina bestimmt als von psychologischen, und es ist eher handlungsfunktional zu begreifen
als in Analogie zu ‘wirklichen’ Personen. (Grübel, 403) 55. Wo es Barthes wie Lévi-Strauss vor allem um den Code,
um Regelmäßigkeiten der Texte geht, ist es Gérard Genette vor allem um die je
einzelne rhetorische Figur zu tun. Sein ‘gemäßigter’ Strukturalismus hat den
Leser in den Mittelpunkt des literarischen Geschehens gerückt. (Grübel, 404) 56. Der russische Strukturalismus, der sich seit den
sechziger Jahren vor allem um Jurij Lotman entfaltet hat, geht von den Arbeten
des Russischen Formalismus und tschechischen Strukturalismus aus und begreift
im Einklang mit Roland Barthes die Kunst als sekundäres modellbildendes System. Grundlegend ist nach Lotman für den inneren Aufbau des
literarischen Textes das Verfahren der „Gleich- und Entgegenstellung“. So
versetzt etwa der Reim die ihn bildenden Wörter zugleich in die Position der
Gleichwertigkeit wie in die der Verschiedenheit und verleiht ihnen oft eine von
ihrer lexikalischen Grundbedeutung abweichende okkasionelle semantische
Färbung. In seinen späteren Arbeiten hat Lotman Prigoshins
naturwissenschaftlich-systemtheoretisches Konzept der „Bifurkation“
aufgegriffen (einer Verzweigung, die einem System eien Wahl eröffnet) und
seinen anfangs eher systemhaft geschlossenen Text- und Kulturbegriff zu einem
offenen, Bruch und Ausbruch einschließenden Verständnis kultureller Arbeit
fortentwickelt, das den Blick statt auf stetige Erscheinungen mehr auf
Diskontinuitäten richtet. (Grübel, 404f.) 57. Die jüngere Geschichte des literaturwissenschaftlichen
Strukturalismus ist gekennzeichnet durch zunehmende Ausdifferenzierung und
Verknüpfung mit anderen literatur- und kulturwissenschaftlichen Modellen und
Übergänge zu ‘poststrukturalistischen’ und dekonstruktiven Verfahren. Einige
Beispiele. Michael Riffaterre z.B. sah sich in der Tradition der
Stilkritik mit seiner Textanalyse weniger dem Allgemeinen als dem Besonderen
des Werks verpflichtet. Jeder literarische Stil ist demnach einmalig, und
gerade diese Einmaligkeit ist sein Stil: „style is the text itself“. Obgleich
Riffaterre die Wahrnehmung des Textes durch den Leser zum Ausgangspunkt seiner
Analysen nimmt, setzt er eine unbezweifelbare leser- und zeitunabhängige
Textbedeutung voraus. (Grübel, 405f.) 58. Paul Ricoeur löst sich in seiner Metaphorologie von
der Auffassung, poetische Rede komme durch Abweichung von der natürlichen
Sprache zustande, und setzt an ihre Stelle das Konzept der „nicht zutreffenden
Prädikation“. Schon durch seine philosophische Ausrichtung eher am Rande des
Strukturalismus stehend, bewegt er sich in seinem mehrbändigen Werk zur Zeitstruktur
des Erzählens zunehmend hin zu einer poststrukturalistischen Position. (Grübel,
406) 59. In Italien hat Umberto Eco einen betont semiologischen
Strukturalismus vorgetragen, der früh den Leser berücksichtigte und gegen einen
engen und geschlossenen Systembegriff den auf die romantische Idee des
Fragments wie auf Nietzsche zurückgehenden Entwurf eines „offenen Kunstwerks“
behauptet. Seine auf Peirce aufbauende Zeichentypologie hat Eco eingebettet in
eine Kulturtheorie, die mehr und mehr intermediale Beziehungen (Fernsehen),
historische Voraussetzungen und politische Horizonte berücksichtigt. (Grübel,
406) 60. Unter der Sammelbezeichnung Strukturalismus werden
verwandte Theorieentwürfe verschiedener Disziplinen (Biologie, Psychologie,
Ethnologie, Soziologie, Linguistik, Kulturwissenschaft u.a.) zusammengefasst,
die – zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Anlässen – in mehreren europäischen
Ländern entstanden sind. Ihr Einfluss prägte auch in der Literaturwissenschaft
mehrere Strömungen, zwischen denen wechselseitige Einflüsse bestanden.
(Baasner, 107) 61. Einen notwendigen Übergang vom Formalismus zum
Strukturalismus sollte niemand behaupten, doch es spricht einiges für eine
vorhandene Beziehung – so die Übernahme von Begriffen und Zielen, ferner die
personelle Kontinuität im Falle Roman Jacobsons. Generell zielen strukturalistische Theorien und
Verfahrensweisen – verglichen mit dem Formalismus – auf deutlich
weiterreichende historische wie gegenwartsbezogene Beschreibungs- und
Erklärungsansprüche. (Baasner, 108) 62. Trotz ihrer Vielfalt gehen die Ansätze des
Strukturalismus auf die gemeinsame Vorstellung zurück, daß sich viele
natürliche, ökonomische, politische, aber vor allem kulturelle Phänomene in
übergreifenden Strukturen beschreiben und untersuchen lassen. Strukturen können
nicht in der Erfahrungswelt beobachtet werden, sie sind nur abstrakte
Organisationsmodelle für allgemeingültige Zusammenhänge. Darin werden einzelne
Phänomene nie für sich selbst betrachtet, sondern stehen immer in Beziehung zu
anderen. Jede Struktur ist zusammengesetzt aus unterscheidbaren Bausteinen,
deren Abhängigkeit und Ineinanderwirken Struktur erst entstehen läßt.
Unterschieden werden als kleinste Bausteine: 1. Komponenten (oder Elemente); 2. die übergeordnete Einheit des Systems (als Menge von Komponenten); 3. Relationen als Beziehungen zwischen
Elementen und/oder Systemen. Struktur erscheint in diesem Grundmuster als Menge
der Relationen in einem System oder zwischen mehreren Systemen. Jedes System
regelt seine interne Struktur selbsttätig; diese Systemsteuerung stellt man
sich in Analogie zu kybernetischen Prozessen vor. (Baasner, 109) 63. In der modellierten Struktur können ganz
unterschiedliche Gegenstände erfasst werden, vorausgesetzt, sie lassen sich in
Relationen beschreiben. Entscheidend für die universelle Anwendbarkeit dieses
Entwurfs ist, daß die Größenordnung von Elementen und Systemen willkürlich
gewählt werden kann; sie ermöglicht eine großräumige (makroanalytische) oder kleinräumige (mikroanalytische) Gegenstandskonstitution. Anschlussfähigkeit ist
aufgrund der einheitlichen theoretischen Vorannahmen immer gegeben. Unterschieden werden als Dimensionen der Untersuchung
weiterhin Längs- oder Querschnitte (diachrone
oder synchrone Betrachtung), die
entweder die chronologische Abfolge von Strukturveränderungen oder aber
gleichzeitig nebeneinander bestehende Teile innerhalb der Struktur erfassen.
Strukturalismus schließt qualitative
Aussagen (darüber, dass und wie Relationen bestehen) und quantitative (darüber, wie häufig Elemente und Relationen
auftauchen) zusammen. Die Prozeduren der Logik, der Hypothesenbildung und der
Statistik im allgemeinen lehnen sich an die empirisch-analytische
Wissenschaftstheorie an. (Baasner, 109f.) 64. In kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen dient
Strukturalismus besonders der Untersuchung von sozial geregelten
Bewusstseinszuständen und daraus hervorgehenden Kommunikationshandlungen. Das
solcherart gegebene ‘kollektive Bewusstsein’ (Mukarovský) verwaltet und
organisiert einerseits vorhandenes Wissen über die Welt, andererseits gibt es
Normen vor, die die Wahrnehmung der Welt von vornherein prägen. Struktur gibt
es nicht wirklich; sie existiert nur dort, wo ein Kollektivbewusstsein ihr
allgemeine Geltung verschafft. Das Medium, in welchem die Bewusstseinsstrukturen
aufgefunden werden, ist der Bereich der Zeichen – im engeren
literaturwissenschaftlichen Sinne: die Welt der sprachlichen Zeichen und ihrer
literarischen Verwendung. Strukturalistische Literaturanalyse ist insofern Teil
der allgemeinen Wissenschaft von den Zeichen, der Semiotik. Zeichen ersetzen im Bewusstsein und in der Kommunikation
Gegenstände und Sachverhalte, sie sind sprachliche Stellvertreter. Ausgehend
von Saussures Bestimmung muss jedes Zeichen als Zusammensetzung aus einem
Lautbild, dem Bezeichnenden (Signifikant,
frz. signifiant) und einer Vorstellung, dem Bezeichneten (Signifikat, frz. signifié) aufgefasst werden. Das Signifikat
verweist auf eine Sache oder einen
Sachverhalt, den Referenten. Alle Zeichen einer Sprache sind im System dieser
Sprache verankert, sie sind Teil einer für den Gültigkeitsbereich dieser
Sprache zu einer bestimmten Zeit eingeführten Semantik. Jedes Zeichen ist in
diesem Kontext weiterhin dadurch bestimmt, dass es sich von allen anderen
vorhandenen Zeichen unterscheidet. Diese Differenz ist konstant, sie gibt dem
Zeichen zwar keine Identität mit sich selbst, sichert aber innerhalb eines
einmal gültigen historischen Systems seine Wiederholbarkeit mit stabiler
Bedeutung. (Baasner, 110f.) 65. Unter dem Gesichtspunkt des historischen Wandels muss
freilich auch eine Veränderbarkeit des Zeichens angenommen werden. Die Menge
der Zeichen, die in einer Situation in einer Sprachgemeinschaft bereitgehalten
werden, konstituieren eine Semantik von begrenzter historischer und sozialer
Geltung. Sie unterliegt beständiger Transformation. Die Stelle, die ein Zeichen
innerhalb des geltenden semantischen Systems im Verhältnis zu allen anderen
Zeichen einnimmt, bestimmt seine Bedeutung. Die Menge aller überhaupt möglichen
Zeichen und Relationen bildet das Sprachsystem
(frz. langue), während die Rede (frz.
parole) eine jeweils aktuell ausgewählte Menge von Zeichen aus diesem System
umfasst (z.B. die Elemente eines bestimmten Textes). (Baasner, 111) 66. Literarische Texte haben demnach Zeichencharakter, sie
transportieren im Rahmen von Semantik und Kommunikationsstrukturen Bedeutung.
Sie stellen als Zeichen Komponenten der Struktur dar und inkorporieren eine
solche ebenfalls in sich selbst. Zu untersuchen sind sie einerseits in ihrer
jeweiligen immanenten Struktur, andererseits aber auch in übergreifenden
Strukturzusammenhängen. Trotz der Einbindung in die allgemeine
Kommunikationsstruktur gelten literarische Zeichen als etwas Besonderes, wird
Wert auf die Abgrenzung ihrer Literarizität gelegt. Unterschieden sind
literarische Texte von Sachtexten dadurch, dass für die Kodierung ihrer Zeichen
besondere Bedingungen gelten. Während die Sachaussage eine Auswahl von Zeichen
zusammenstellt, die jedes für sich bereits auf Elemente der
Erfahrungswirklichkeit verweisen, ist diese unmittelbare Verweisung im
literarischen (fiktionalen) Text ausgesetzt – das kann heißen: modifiziert,
relativiert oder aufgehoben. Literarische Texte verweisen zunächst auf sich
selbst, ihre Elemente entfalten ihre Bedeutung in den Relationen, die sie
untereinander eingehen, und erst in zweiter Linie enthalten sie Bedeutung für
die Erfahrungswirklichkeit. (Baasner, 111) 67. In der westlichen Rezeption gilt Jan Mukarovský als
bekanntester Vertreter des Prager Strukturalismus. Er sucht neue Wege für die
Literaturwissenschaft, empfiehlt z.B. die Übertragung des Strukturmodells auf
Literatur, weil es sich in den exakten Wissenschaften bewährt habe. Er hebt
zugleich die Verwandtschaft der literaturwissenschaftlichen Gegenstände mit
historisch veränderbaren, lebendigen Formen hervor. Zurückgewiesen werden damit
ältere Positionen, die literarische Formen als statische Ganzheiten denken. Mukarovský betont die übergreifende Eingebundenheit jeden
Werkes in Prozesse, die die Fähigkeiten und Kompetenzen einzelner weit
übersteigen. Nur ein kleiner Teil an jedem Kunstwerk geht auf die Erfindungs-
und Gestaltungsgabe seines ‘Urhebers’ zurück, der größere Teil des Werkes ist
allgemeinen Konventionen entnommen. Zwar wählt ein Autor z.B. aus, welche Verse
er verwenden will, doch seine Auswahl ist weitgehend darauf begrenzt, wie Verse
nach Auffassung seiner Zeitgenossen aussehen dürfen. Das Aufgreifen vorhandener
Formen erst sichert das Verständnis. (Baasner, 112) 68. Die Metapher des Lebendigen der Struktur verdeutlicht
die Auffassung von der beständigen Transformation.
So ist nicht etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Struktur vorgegeben und
wird mit der Entstehung eines neuen Werkes durch eine neue ersetzt. Vielmehr
bleibt die umfassende Struktur durchgehend bestehen – so weit die Kontinuität
des ‘kollektiven Bewusstseins’ eben reicht – und erfährt durch das neu
entstandene Werk nur eine Veränderung. Struktur ist deshalb nie statisch
sondern immer dynamisch. Sie findet in einer sprachlichen Manifestation, in
einem Text, nie Abgeschlossenheit, sondern ist immer in vielen Texten gegeben,
ein abstraktes Prinzip jenseits der konkreten Formen, das sie doch
hervorbringt. Für einzelne literarische Texte als konkrete Ausprägungen
der Entwicklungsmöglichkeiten heißt dies, daß sie in ihrer historischen Abfolge
eine Transformationslinie vorgeben. Diese vermittelt vorgeprägte Muster höherer
Ordnung (Gattungen, Genres, Stilrichtungen), die wiederum in übergeordnete und
weiterreichende Bewusstseinsstrukturen eingebunden sind, mit neuen Formen.
Zugleich reicht sie die Muster, indem sie sie modifiziert, durch die Zeit
hindurch weiter. (Baasner, 112f.) 69. Wohl gibt es also die individuellen Urheber der Werke,
doch ihre Bedeutung, ihr selbstverantworteter Anteil an der Urheberschaft wird
drastisch eingeschränkt, das Gleiche gilt für die Selbständigkeit des Subjektes
auf der Rezeptionsseite. Fundiert wird Literatur in ihrer Struktur durch die
Einflüsse des kollektiven Bewusstseins. Die Auffassung steht im Gegensatz zu
traditiellen subjektorientierten Denkweisen. Ferner ist ‘Dichtung’ als
unabhängiger Gegenstandsbereich nun ebenso wenig haltbar wie die Unterscheidung
einzelner Nationalliteraturen. In Mukarovskýs Konzept wird Literatur explizit als Kunst
aufgefasst, die darüber hinaus gleichberechtigt eingebettet ist in den großen
Kontext kommunikativer Prozesse. (Baasner, 113) 70. Die Kunst nimmt innerhalb der Kommunikation eine
Sonderstellung ein, in welcher sie eine eigene Art von Zeichen bildet. Die
Kommunikation ist im Falle des literarischen Werkes komplexer als in einem auf
sachliche Information ausgerichteten Vorgang; im Gegensatz zur ‘mitteilenden
Rede’ bezieht es sich nicht nur auf einen Sachverhalt in der Wirklichkeit,
sondern auch auf sich selbst und seine eigene ästhetische Normierung. Diese
doppelte Bedeutung wird für die Rezipienten erkennbar durch die Konvention der
künstlerischen Normen, alle Eingeweihten wissen um die besondere Art der
ästhetischen Bedeutung. Das Kunstwerk bezeichnet zwar auch Teile der
Wirklichkeit, wählt dabei jedoch Elemente aus. Durch diese Auswahl entsteht
seine besondere kommunikative Leistung: sie liefert einen ‘Schlüssel’ zum
Verständnis der Wirklichkeit. (Baasner, 114) 71. Die Auswahl aus dem Stoffangebot ist in der Frage der
Referentialität das entscheidende Merkmal für den Kunstcharakter, sie weist auf
die künstlerische Selbstbestimmtheit hin. Das Werk richtet sich dabei nach den
Anforderungen des ‘Kollektivs’, es bezieht sich auf den immer schon vorhandenen
sozial codierten Gesamtkontext. Erst im Bezug auf das ‘kollektive Bewusstsein’
von der Erfahrungswelt gewinnt die Werkstruktur Aussagekraft. Die Form bestimmt die Bedeutung der Aussage in diesem
Zeichenmodell ebenso mit wie die Inhaltselemente; deshalb kann die
traditionelle Trennung zwischen Form und Inhalt nicht aufrecht erhalten werden.
Das Zeichen umfasst beides gleichzeitig.
(Baasner, 114) 72. Die strukturalistische Methode fragt nicht nur nach
der Bildung des ästhetischen Zeichens, sondern auch nach seiner sozialen
Funktion. Da die Autonomie des literarischen Werkes eine Reduktion seiner
kommunikativen Leistung auf eine gewöhnliche Mitteilungsfunktion verbietet,
muss die Besonderheit der ästhetischen Funktion in etwas anderem als dem Inhalt
liegen. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf das Zeichen selbst. (Baasner, 115) 73. Jurij M. Lotman geht es vorrangig um eine Klärung der
Voraussetzungen für die strukturalistische Textanalyse im engeren Sinne.
Deshalb werden die umfassenden sozialen Strukturen weitgehend ausgeblendet. Kunst dient der Erkenntnis und hat in dieser Funktion
besondere Eigenschaften. Auch die künstlerische Erkenntnis zielt zunächst auf
die Wirklichkeit. Den Unterschied zwischen künstlerischen und anderen
Erkenntnisweisen sieht Lotman darin, dass die Kunst sich nicht auf Analysen und
Schlussfolgerungen stütze sondern die Wirklichkeit umfassend nachbilde. Diese
Nachbildung bezieht sich nicht unmittelbar auf das Vorbild, sie schafft
vielmehr ein abgehobenes, in sich gerundetes Modell des letzteren. Lotman lehnt
damit die marxistische These, Kunst seine eine Form gesellschaftlichen
Bewusstseins, in ihrer orthodoxen Eindeutigkeit ab; er will die Spezifik der
Kunst begreifen. (Baasner, 115f.) 74. Die Analogiebildung stützt sich nicht auf einzelne,
isolierte Komponenten, sondern besteht in der Entdeckung von weitreichenden
Strukturhomologien zwischen Kunstwerk und Erfahrungswelt. „Das Werk [...]
erfüllt seine Erkenntnisfunktion, wenn seine Struktur die Wirklichkeitsstruktur
adäquat aufdeckt, und zwar in dem Maße, wie es dem am meisten fortgeschrittenen
Bewusstsein der gegebenen Epoche möglich ist.“ (Lotman 1972, 23) Damit schließt der Theorieentwurf an einen fortschrittsgläubigen
Kunstbegriff an. In der Kombination von struktureller Analogie zur Wirklichkeit
und deren Prägung durch das Bewusstsein wird die gleichzeitige Autonomie und
Referentialität des Werkes konstruktiv möglich. Kunst ist infolgedessen als sekundäres semiologisches Modell beschreibbar. Im Gegensatz zum
wissenschaftlichen Modell, dem analytische Akte vorausgehen, habe der Künstler
„eine geschlossene Vorstellung von der Ganzheit des zu reproduzierenden
Objektes, und eben diese Ganzheit modelliert er“. (Lotman 1972, 37) Auf diesem
Wege entsteht die geforderte strukturelle Ähnlichkeit. Literatur ist einerseits ohne Bezug auf die Wirklichkeit
sinnlos und unverständlich, andererseits pocht sie auf ihre differente
Sichtweise. Erst der immer bemerkbare Unterschied zwischen Sachaussage und
literarischem Text erzeugt die Literarizität. (Baasner, 116f.) 75. Zur Individualisierung der künstlerischen Werkstruktur
gegenüber der allgemeinen Struktur des Lebens führt die Auswahl, die der
individuelle Urheber aus dem Angebot der vorhandenen systemischen Möglichkeiten
trifft. Deshalb treten aus dem Text auch die Welt und das einzelne Bewusstsein
des Verfassers gleichermaßen hervor. Allgemeine Struktur und individuelle
Prägung überschneiden sich. Hervorgehoben wird bei Lotman freilich immer die
Seite der Produktion, nicht die Strukturauffassungen der Rezipienten. In seiner überlieferten Materialität wird der Text
deutbar. Seine Wirklichkeitsreferenz muß nicht in jedem Akt der Deutung immer
wieder die gleiche sein, zur literarischen Erkenntnis gehört dann doch ein
Einfluss der Rezeption. (Baasner, 117) 76. Literarische Zeichen können mit den gewöhnlichen
sprachlichen nicht gleichgestellt werden. Jedes komplexe literarische Zeichen
hebt sich ab von allen gleich- wie auch andersartigen, die jeweils auch für
sich eine Struktur erzeugen. Es kann mit seiner geschlossenen Struktur –
insofern sie künstlerisch ist – auf unterschiedliche andere Zeichensysteme
bezogen werden. Dies geschieht in einem aktiven Akt der Rezeption, der
Entscheidungen über die Relationen trifft, in welche die Zeichen eingesetzt werden
sollen. Dabei entsteht eine jeweils unterschiedliche, neue Sicht auf den Text. Die Gegensätzlichkeit des
literarischen Zeichens zu seiner Umgebung hält je nach Auswahl eines
‘Hintergrundes’ verschiedene Bedeutungen bereit. (Baasner, 117f.) 77. Bei der Untersuchung poetischer Texte stehen für
Lotman die textimmanenten Relationen des komplexen Zeichens ‘Wortkunstwerk’ im
Vordergrund; ihre strukturelle Abgrenzung und zugleich funktionale Abhängigkeit
von außertextlichen Beziehungen werden jedoch mitreflektiert. Dabei stehen der
poetischen zunächst alle nicht-poetischen Strukturen (als ‘Hintergründe’)
gegenüber. Für die strukturale Textanalyse reformuliert Lotman die
wichtigsten Positionen in explizitem Bezug auf den Begriff des poetischen
Textes. An die Stelle der Trennung in Inhalt und Form tritt die strukturelle
Verbindung von Form und Bedeutung. Die „Idee“ findet nach Lotman in der ganzen
künstlerischen Struktur ihren Ausdruck. Der poetische Text reproduziert in seiner Struktur die
Abgeschlossenheit gegenüber seiner Umgebung. Da er ein in sich fest gefügtes
und auf sich selbst verweisendes System bildet, so können auch seine Elemente
zunächst nur in bezug auf ihn selbst Bedeutung annehmen. Einheiten der
poetischen Struktur sind morphologische und grammatische Elemente,
Wiederholungen oder auf einer komplexeren Ebene Verse, Strophen sowie die
Komposition als Ganzes. (Baasner, 118) 78. Unter dem Einfluss strukturalistischer Theorieimporte
entstand die strukturale Textanalyse.
Darin wird nicht, wie bei der hermeneutischen Interpretation, die Instanz des
einheitsstiftenden Subjektes in den Mittelpunkt gestellt, sondern der Text
selbst. Wichtigstes Vorbild ist die Analyse des ästhetischen Textes, wie sie
der sowjetische Strukturalist Lotman vorgelegt hat; eine detailliertere
Ausarbeitung bietet Michael Titzmanns Strukturale
Textanalyse (1977). Der Gewinn dieser Art von Analyse besteht zunächst in
einer weitreichenden Formalisierbarkeit der beobachtungen am Text und ihrer
Auswertung. Strukturale Textanalyse orientiert sich an den formalen Vorgaben
der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie. Mit der Bestimmung von
‘semantischen Räumen’ (zu verstehen etwa als Wortfelder im Text mit
benachbarten Bedeutungszusammenhängen), logischen Beziehungen (Äquivalenz,
Opposition) bietet sie ein reproduzierbares Raster der Erfassung von
Komponenten, das nicht – wie in vielen naiv-hermeneutischen Interpretationen –
bloß intuitiv ist. In ihrer theoretisch geklärten, methodischen Komplexität
bietet die strukturale Textanalyse ein Verfahren, das viele
Interpretationsschritte einsichtig und nachvollziehbar macht. Die Textstruktur,
die sie systematisch aufdecken, läßt sich auf ein abstraktes Muster reduzieren,
welches mit den Mustern anderer Texte verglichen werden kann und so zur
Aufstellung epochen-, autor- und gattungsspezifischer Modelle führt. (Baasner,
104f.) 79. (>Kritik)
Der Gewinn der Methodisierung wird freilich erkauft mit der Notwendigkeit,
Texte stets nach dem gleichen umfangreichen Schema zu bearbeiten und nicht auf
ihre auffallenden Besonderheiten hin zu untersuchen. Weiterhin werden die
problematischen hermeneutischen Vorgehensweisen keineswegs abgeschafft oder
umgangen: um semantische Räume oder Relationen zu bestimmen, müssen alle
Komponenten mit uneigentlichen Aussagen erst durch hermeneutisches Verstehen in
die Semantik des Textes eingeordnet werden. Indem dieses notwendig vorgelagerte
hermeneutische Verstehen geleugnet wird, wird zugleich seine theoretische
Reflexion generell verweigert. (Baasner, 105) 80. Der Strukturalismus ist eine Analysemethode, die in
den Humanwissenschaften historische Untersuchungen durch Strukturanalysen
ersetzte. Durch möglichst formalisierbare Beschreibungen sollten der Exaktheit
der Naturwissenschaften vergleichbare Aussagen erzielt werden. Diese
Umorientierung basiert auf der Prämisse einer ganzheitlichen, in sich
dynamischen Struktur kultueller Phänomene. Sie ist bestrebt, die Gesamtheit der
die Elemente eines Systems verknüpfenden Relationen integrativ zu beschreiben.
Diese Grundannahme führte zur Abstraktion vom Individuellen, Einmaligen und
Kontingenten, das sich keiner Systematik fügt. In dieser von der Kontingenz
bereinigten Sicht wird der Struktur Wesenhaftigkeit zugeschrieben, die dem
Individuellen vorgegeben ist und so als unbewusstes Regulativ individueller
Äußerungen fungiert. (Lieske, 511f.) 81. In der Lit.wissenschaft reiht sich der St. in die
Tradition einer werkimmanent orientierten Textkritik ein. Zu Saussure: Das Zustandekommen einer Verständigung mit
konkretem Redeakt ist für Saussure nur möglich, wenn Sprecher und Hörer, Sender
und Empfänger aufgrund der dem Redeakt vorausgehenden Kenntnis der
Sprachstruktur die paradigmatische Stellung des einzelnen Zeichens und seiner
syntagmatischen Kombinierbarkeit (wiederer)kennen. Der Wert des einzelnen
sprachlichen Zeichens resultiert folglich nicht aus seinem Bezogensein auf die
Wirklichkeit, sondern primär aus seiner Stellung im Relationsgefüge des
Sprachsystems, der Sprachstruktur. Mit dieser Emanzipation und Autonomisierung
des Zeichens hat Saussure einem semiotischen Kulturbegriff den Weg geebnet,
welcher ein in sich geschlossenes System ohne die Einbeziehung
außersystematischer Determinanten wissenschaftlich beschreibt. (Lieske, 512) 82. Die Prager Strukturalisten formulierten die Auffassung
vom Kunstwerk als einem autonomen Zeichengebilde, das weder als Ausdruck der
Persönlichkeit des Verfassers noch als Abbild einer außerliter. Wirklichkeit zu
verstehen ist. Was sie am einzelnen Kunstwerk interessiert, ist die spezifisch
ästhetische Komposition des Systems der Sprachzeichen, d.h. das durch die
künstlerische Sprache Bezeichnete, ihr Signifikat also, welches, um als
Künstlichkeit erkennbar zu werden, als Abweichung von der zur Gewohnheit
gewordenen Alltagssprache registriert sein muß. Die Abweichung vom
‘gewöhnlichen Sprechen’, der Mitteilung oder der Erörterung von Fakten wird zum
Kriterium für Lit. und die Komposition eines künstlerischen Textes zu seinem
ästhetischen Signifikat gemacht. (Lieske, 512) 83. Im Übergang von den 30er zu den 40er Jahren tritt
zunehmend ein kontextualistisches Beschreibungsmodell in den Vordergrund,
welches die Organisation von Texten als Funktion einer außerliter.
Bezugswirklichkeit begreift. (Lieske,
512) 84. Ein weiterer wichtiger Impuls für die Profilierung des
St. ging von dem frz. Anthropologen Cl. Lévi-Strauss aus, der archaische
Kulturen im Sinne von Zeichensystemen nach quasi-linguistischen Regeln
analysierte und so eine Kultur in ihrer gesamtheitlichen Struktur
wissenschaftlich zu erfassen suchte. Indem er Kulturen als eine
Erscheinungsformen der symbolischen Tätigkeit des Menschen verstand, konnte er
neben der Beschreibung der jeweiligen kulturellen Manifestationen die
Gesetzmäßigkeiten enthüllen, denen die Symbolisierung der Welt folgt. Für die
Lit.wissenschaft war von besonderer Bedeutung seine Analyse mythischer
Erzählungen aus verschiedenen Kulturen, in denen er die Strukturgesetze des
jeweiligen Mythos aufspürte. Die Attraktivität dieses Ansatzes für eine
strukturalistische Lit.wissenschaft bestand darin, dass der einzelne Text als
Teil eines umfassenden literar. oder kulturellen Korpus verstanden wird und
seine spezifische Ausprägung repräsentativ die Gesetzmäßigkeiten des gesamten
Systems verdeutlicht. Auf diese Weise wird eine Systematisierung der Lit. im
Sinne eines zusammenhängenden Strukturkomplexes von Texten, Motiven und
kulturellen Implikationen möglich.(Lieske, 512f.) 85. A.J. Greimas’ besonderes Interesse galt der
Etablierung elementarer semantischer Paradigmen, die von den jeweiligen Texten
artikuliert werden. T. Todorovs sog. „homologisches Modell“ beruht auf der
Prämisse, dass das Wesen eines literar. Textes, seine Literarizität, in seiner
Transformation eines Sprachsystems besteht, auf dessen Strukturgesetze es permanent
rekurrieren muss, um rezipiert werden zu können. Der literar. Text modifiziert
das ihn generierende Sprachsystem in der Weise, dass dieses Sprachsystem in
quasi verfremdeter Form als Kunst neu produziert wird. In diesem Sinne geht
sein Modell von einer Wechselbeziehung der konstitutiven Textelemente aus, die
in analoger Konfiguration im Verlauf der Geschichte in der Form von Homologien
wiedererstehen. Folglich soll die Aufgabe der Textinterpretation das
Herausfiltern dieser Homologien sein, welcher die narrative Tiefenstruktur des
Textes ausmachen. Todorovs Modell ist für den St. insofern richtungsweisend,
als es die konventionelle Trennung von ‘Form’ und ‘Inhalt’ zerstört und das
‘formale Medium’ des Textes zur Bedeutung erhebt. (Lieske, 513) 86. Die Arbeiten von R. Barthes lassen bereits
poststrukturalistische Ansätze erkennen. Mit dem St. teilt er die Überzeugung
von der fundamentalen Bedeutung der Sprache für die Konstituierung von
Wirklichkeit; die Auffassung der Welt als einer Welt der Zeichen, aus der es
keinen Weg in eine vorsemiotische Erfahrung gibt; die Sicht des individuellen
Textes als Bestandteil einer umfassenderen Textumwelt. Während der St. diese
Prämissen zu einer quasi-naturwissenschaftlichen Grundlegung der
Humanwissenschaften auszubauen versuchte und nach den Grundgesetzen forschte,
die die symbolische Tätigkeit des Menschen determinieren, wird bei Barthes die
Selbstkritik strukturalistischer Positionen sinnfällig, die die Idee der Kultur
als eines der Sprache nachgebildeten Systems zentrierter Strukturen mit relativ
klar zuschreibbaren Bedeutungen verwirft. Seine Argumentation, daß kulturelle
Bedeutungen aus dem Wechselspiel von Zeichen resultieren, welche von Individuen
entsprechend ihres kulturellen Kontextes en- und dekodiert werden, basiert zwar
auch auf der strukturalistischen Konzeption des Textes als einer semiotischen
Struktur, geht jedoch über diesen Ansatz hinaus, wenn er der Textstruktur
stabile werkimmanente Bedeutungen abspricht und diese vielmehr als Teil eines
instabilen kulturellen Kontextes versteht. (Lieske, 513) 87. Im anglo-em. Sprachraum trug die Rezeption des St.
durch N. Fryes Anatomy of Criticism
(1957) maßgeblich zur Ausweitung des werkimmanent orientierten New Criticism
bei. Mit seinem auch als Mythenkritik bezeichneten Verfahren der lit.wiss.
Archetypentheorie bzw. -kritik unternahm er den Versuch, archetypische
Strukturzüge der Lit. herauszuarbeiten. Er entwickelte auf der Grundlage einer
Korrespondenzannahme zwischen Lit., Natur und kollektivem Unbewussten eine
Typologie literar. Helden und eine Theorie der literar. Gattungen, die von der
Prämisse eines kollektiven Unbewussten ausgeht, welches eine gleichsam
vorsprachliche kulturelle Symbolsprache darstellt. Lit. ist somit jenseits des
einzelnen Textes ein den gemeinsamen Regeln ihrer mythologischen Tiefenstruktur
folgendes strukturelles Ganzes, in dem sich die archetypischen Kräfte der
menschlichen Psyche in Analogien zu den ihnen entsprechenden Naturkräften
artikulieren. Fryes Ansatz lässt in stark psychologisierter Form die Rezeption
von Lévi-Strauss erkennen, wenn er Lit. im Sinne eines zusammenhängenden, den
einzelnen Text erst situierenden Motiv- und Strukturkomplexes interpretiert.
(Lieske, 513) 88. Die eigentliche Ablösung der Dominanz des New Criticism
erfolgte mit den Arbeiten von J. Culler und R. Scholes. Cullers Modell – in Structuralist Poetics (1975) – geht von
der Prämisse aus, daß ein Text nur als Lit. wahrgenommen wird, wenn er den
etablierten Konventionen dieses Diskurses entspricht. Deshalb dürfe eine Poetik
sich nicht der Analyse der Texte an sich zuwenden, sondern jener kollektiv
akzeptierten Konventionen, die einem Text den Status von Lit. zuteil werden
lassen (Literarizität). Indem Culler eine Poetik formuliert, die den
Analyseschwerpunkt von textinhärenten Strukturmustern auf die dem Text
kulturell eingeschriebenen Bedeutungsstrukturen verlegt, weist er die Richtung
zu einer poststrukturalistischen Kulturkritik, die Lit. als eine soziale
Institution und deren Rezeption als eine soziale Aktivität begreift. (Lieske
513f.) 89. Die Geschichte des St. ist auch begleitet von
Syntheseversuchen mit nichtstrukturalistischen Ansätzen, wie z.B. dem sog.
genetischen Strukturalismus eines L. Goldmann, der die Integration des St. mit
dem dialektischen Materialismus anstrebte. Im Unterschied zum etablierten St.
versteht er unter Struktur kein archetypisch-ahistorisches Regelsystem, das
sich in den verschiedenen Einzelwerken immer wieder neu manifestiert, sondern
ein ganz und gar geschichtliches Phänomen. Für ein kulturelles Gefüge, das den
Kriterien der Kohärenz und Funktionalität der Teile im Rahmen einer Ganzheit
genügt, hat Goldmann den Begriff der ‘sinnvollen Struktur’ geprägt. Sie ist
nichts Vorgegebenes im herkömmlichen Sinn der Struktur, sondern eine
Zielstellung, die im Lauf der Geschichte zu verwirklichen ist. Daraus folgte
für ihn in seiner Soziologie des modernen
Romans (1964) ein kultureller Geschichtsbegriff im Sinne eines Abbaus
älterer und des Aufbaus neuer Gesamtstrukturen. Ausgehend von diesem
dialektischen Geschichtsverständnis, das die sinnvolle Struktur von Kultur als
Projekt bzw. als Entwurf einer sinnvollen Welt versteht, leitete Goldmann einen
Lit.begriff ab, der eine Homologie zwischen der imaginären Welt der Lit. und
den Denkstrukturen der jeweiligen sozialen Klassen und Schichten etabliert.
Dabei sieht er die Spezifik von Kunst und Lit. in ihrem schöpferischen
Vorsprung vor der Realität, da sie über die Höhe des kollektiven Bewusstseins
der Klassen hinausgeht und deshalb als Motor des Fortschreitens auf ein
sinnvoll strukturiertes Leben dient. (Lieske, 514) 90. Seit den späten 60er Jahren wurden die Prämissen und
systematisierenden Verfahren des St. von Seiten des Poststrukturalismus als
logozentrische Illusionen kritisiert und durch andere Ansätze abgelöst.
(Lieske, 514) |