1.02 Literaturtheoretische und
'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze
1. Man kann sagen, dass die Hermeneutik im 20. Jahrhundert mit der Frage der Überprüfung von Interpretationen das ihr eigentümliche Problem entdeckt. „Die methodische Aktivität der Interpretation beginnt, wenn wir anfangen, unsere Vermutungen zu prüfen und zu kritisieren.“ (Hirsch 1972, 257) (Japp, 276) 2. In Gadamers philosophischer Hermeneutik kommt es nicht so sehr darauf an, was wir tun, sondern darauf, „was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht“. (Gadamer 1965, XIV) Im Anschluss an Heideggers Auslegung des hermeneutischen Zirkels erscheint an unserem Tun nur das wichtig, was wir immer schon tun. In Hinsicht auf die Textauslegung heißt es etwa: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.“ (Ebd., 251) Daraus soll folgen: „Der Zirkel des Verstehens ist also überhaupt nicht ein ‘methodischer’ Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens.“ (Ebd., 277) Gadamer radikalisiert hiermit, was sich bereits im 19. Jahrhundert als Tendenz abzuzeichnen beginnt. Schon Boeckh meinte, die Hermeneutik solle nicht „bloß praktische Regeln“ enthalten, sie solle vielmehr zum Bewusstsein bringen, was sonst nur „bewusstlos“ getrieben werde. Diese Tendenz zur Selbstthematisierung der Hermeneutik wird von Gadamer in Form einer ontologischen Verstehens-Metaphysik zugespitzt: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. (Ebd., 274f.) (Japp, 590f.) 3. Die Hermeneutik wird allgemein, indem sie philosophisch wird. Aus theologischer, juristischer und philologischer Hermeneutik entwickelt sich die philosophische Hermeneutik, die nun beansprucht, den anderen Hermeneutiken ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben. Von hierher entsteht die Grundlagenproblematik des Verstehens und hiermit zusammen die sog. Verstehen-Erklären-Kontroverse, in der die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften sich voneinander abgrenzen. (Japp, 591) 4. Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit (1927) versteht sich selbst als Versuch einer hermeneutischen Phänomenologie. Das Fundament der Diltheyschen Philosophie war das Postulat der Unhintergehbarkeit des Lebens, der Lebenswelt gewesen. Grundlage der Heideggerschen Philosophie ist nun die Frage nach der Seinsgeschichte, nach dem „Sinn von Sein“, und das Postulat der Unhintergehbarkeit der Sprache. Wir befinden uns immer schon in geschichtlich verstandener, sprachlich erschlossener Welt. Der Vorgang des Verstehens ist nicht mit einem Dekodierungsvorgang zu verwechseln, der einen verschlüsselten Text entschlüsselt, wo eine feststehende, immer gleiche Botschaft übermittelt wird. Gegenstand der Auslegung ist nicht ein Text, sondern das Dasein als eigenste, als höchste Möglichkeit der Art und Weise zu sein. Verstehen ist ein „Existential“, das heißt eine Grundbestimmung des Menschen, der sich im Verstehen Möglichkeiten des Seins erschließt. Eigentliches und uneigentliches Verstehen bedingen sich gegenseitig. Verstehen wird dann „eigentliches“ Verstehen genannt, wenn es dem Selbst entspringt. „Uneigentliches“ Verstehen wird es genannt, wenn es sich auf die Welt bezieht. Verstehen als Existential (als allgemeine Bestimmung des Daseins) ist dem Verstehen als Auslegung von Texten (als einem abgeleiteten Modus dieses Existentials) vorgeordnet. „Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen. Wenn sich die besondere Konkretion der Auslegung im Sinne der exakten Textinterpretation gern auf das beruft, was ‘dasteht’, so ist das, was zunächst ‘dasteht’, nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die notwendig in jedem Auslegungsansatz liegt als das, was mit Auslegung überhaupt schon ‘gesetzt’, das heißt in Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff vorgegeben ist.“ (Heidegger 1979, 150) Die Auslegung von „Etwas als Etwas“ will uns bewusst machen, dass wir Dinge nicht ‘an sich’, sondern immer mit unserem lebensweltlichen Vorverständnis als etwas betrachten. Heidegger meint, dass das Bestreben, den ‘hermeneutischen Zirkel’ der Auslegung zu vermeiden, das Verstehen von Grund auf missverstehen hieße. Entscheidend sei, nicht aus dem Zirkel heraus, sondern auf rechte Weise in ihn hineinzukommen. Er hält das Methodenideal konsequenter Subjekt-Objekt-Trennung für eine Fiktion. Heidegger kommt deshalb zu einer neuen Hierarchie der Erkenntnis. Er ordnet grundsätzlich die naturwissenschaftliche Form von Erkenntnis der historischen Erkenntnis als einer Abart von Verstehen unter, die ihre eigenen Voraussetzungen negiert. Das Objekt der Geisteswissenschaften hingegen wird vom Erkennenden zu großen Teilen selbst konstituiert. Welches Textobjekt eine Interpretin generiert, ist nicht unabhängig von ihrem Vorwissen. (>Kritik) Die sprachliche und begriffliche Prägnanz des Terminus ‘hermeneutischer Zirkel’ ist allerdings mit guten Gründen kritisiert worden. Der „hermeneutische Zirkel“ ist ja, wenn er eine Progression der Erkenntnis beschreibt und nicht nur einen Zirkelschluss darstellt, eher als Wendeltreppe oder Spirale zu beschreiben: Wir konstituieren aus unserer Weltsicht eine erste Vormeinung des Ganzen, analysieren die Teile, schließen von den Teilen aufs Ganze, um es prägnanter zu bestimmen, und konstituieren in der Folge im Rückschluss von diesem Ganzen die Teile neu. (>Werkinterpretation) Emil Staiger hat unter Berufung auf Heideggers Lehre Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1939) als Fundament des Verstehens betrachtet, das es erlaube, die Einheit im Mannigfaltigen einer Dichtung darzustellen. In seinem Aufsatz Die Kunst der Interpretation (1955) hat er exemplarisch eine Vollzugsform des hermeneutischen Zirkels der Literaturwissenschaft im genannten Sinne beschrieben. (Rusterholz, 121ff.) Verstehen ist für Heidegger die Seinsweise des Daseins selber. Heideggers Anliegen in Sein und Zeit ist es, das (historische) Dasein menschlicher Existenz zu begreifen. Inmitten einer Welt der Inauthentizität und Entfremdung, der Welt des Man, bleibe dem Menschen nichts anderes übrig, als sich der Sprache als dem „Haus des Seins“ auszuliefern. In der Sprache nämlich zeige sich das Sein. Sprachliche Kunstwerke werden zu Medien, in deren verstehendem Nachvollzug sich dem Interpreten das Sein enthüllt. (>Kritik) Trotz der herausragenden Bedeutung, die Heidegger dem Verstehensakt verleiht, bleibt dieser selbst – am Ende – nur passiv. Ebenso wie Kunst und Sprache kein Ausdruck eines individuellen Subjekts sind, müsse sich auch der Interpret dem Text unterwerfen. Er müsse die Autorität des Textes anerkennen und dürfe ihm nur passiv gegenübertreten. (Jung, 170f.) a) Während der hermeneutische Zirkel zumeist als ein unter allen Umständen zu vermeidender Teufelskreis erscheint, betont Heidegger die Ursprünglichkeit des Verstehens, um dessen Zirkelhaftigkeit positiv zu wenden. „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“ (Heidegger 1984, 153). Heidegger begreift den hermeneutischen Zirkel dementsprechend nicht so sehr als eine philologische oder philosophische Auslegungstechnik, sondern als einen Teil der Verstehensstruktur des Daseins: Im Vorgriff auf die Zukunft erschließt der hermeneutische Zirkel dem Dasein dessen eigene Möglichkeiten. (Geisenhanslüke, 50) b) Mit der scharfen Abgrenzung der hermeneutischen Lehre des Verstehens von dem Erkenntnisideal der Naturwissenschaften führt Heidegger Diltheys Versuch einer Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften zu Ende. (Geisenhanslüke, 50) c) Der Schritt, der Heidegger über bisherige Versuche einer Begründung der Hermeneutik im Begriff des Verstehens hinausführt, besteht darin, die Hermeneutik gegen eine phänomenologische Wesensontologie in die Existenz des Daseins selbst einzubetten. Wie Gadamer hervorgehoben hat, liegt Heideggers Theorie der Versuch zugrunde, die Existenz selbst in ihren wesentlichen Möglichkeiten als einen Prozess des Verstehens zu interpretieren. Die Aufgabe der philosophischen Reflexion besteht darin, den allem menschlichen Verhalten zugrundeliegenden Akt des Verstehens durchsichtig zu machen. (Geisenhanslüke, 51) d) Absetzung von den Selbstbewusstseinsmodellen des deutschen Idealismus. Im Unterschied zu traditionellen Subjektivitätsmodellen denkt Heidegger das Dasein nicht mehr als eine vorliegende Substanz, die sich im Denken und Verstehen reflexiv auf sich selbst bezieht, sondern als den prozessualen Vollzug des Sich-auf-sich-selbst-Beziehens. Erst das Verstehen macht dem Dasein demnach seine eigenen Möglichkeiten zugänglich, indem es in einer Form des zeitlichen Entwurfs bestimmt, was dieses eigentlich sein will. Heidegger unterteilt das Verstehen daher in zwei unterschiedliche Formen: das uneigentliche Verstehen, das sich nicht am Leitfaden der Möglichkeiten des eigenen Daseins bewegt, sondern dieses aus der Welt heraus versteht, und das eigentliche Verstehen, in dem sich das Dasein auf ein Ziel hin entwirft, das mit seinen eigenen Möglichkeiten übereinstimmt. „Auslegung gründet existenzial im Verstehen“ (Heidegger 1984, 148). Im Rahmen der ontologischen Theorie des Verstehens wird das technische Moment der Auslegung zurückgedrängt. (Geisenhanslüke, 51f.) e) Die besondere Bedeutung Heideggers liegt vor allem darin begründet, er sowohl moderne hermeneutische Entwürfe wie den Gadamers als auch antihermeneutische Positionen wie die Derridas erst möglich gemacht hat. Er steht am Anfang des Widerstreites von Hermeneutik und Dekonstruktion in der Postmoderne. (Geisenhanslüke, 52) f) Indem Heidegger einen allgemeinen Begriff des Verstehens entwirft und die Auslegung nur noch als deren Derivat darstellt, hat auch er an dem Zurückdrängen der literarischen Hermeneutik teil, das sich bereits bei Dilthey beobachten ließ. Es klafft eine Lücke zwischen dem philosophischen Anspruch der Hermeneutik und ihrer literaturwissenschaftlichen Relevanz. Außerdem weist der zentrale Begriff des Seins wie der des Sinns des Seins von sich aus keinen erkennbaren Bezug zu Fragen der Kunst und Literatur auf. (Geisenhanslüke, 53). 5. Verstehen im Kontext der Wirkungsgeschichte der Tradition. Hans-Georg Gadamers epochemachendes Werk Wahrheit und Methode (1960) steht ganz ausdrücklich in der Nachfolge Martin Heideggers. Gadamer grenzt sich ebenso dezidiert gegen den Verstehensbegriff als Methodenbegriff ab wie gegen Diltheys Versuche einer hermeneutischen Begründung der Geisteswissenschaften. Nicht durch die Trennung des Interpreten von seinem Gegenstand werde historische Erkenntnis möglich; vielmehr führe Heideggers Interpretation des Verstehens zu einer neuen Dimension der Hermeneutik. Gadamer übernimmt Heideggers Beschreibung und existentiale Begründung des ‘hermeneutischen Zirkels’ und betont deren grundsätzlichen Unterschied zu seinem Verständnis sowohl gegenüber der Tradition Schleiermachers wie gegenüber der Sicht zeitgenössischer analytischer Philosophie noch stärker. Das Verstehen sei weder eine Handlung der Subjektivität noch eine Anpassung an ein bestehendes Dogma, sondern bestimme sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbinde. In diesem Zusammenhang sind zwei schwer verständliche und häufig missverstandene Begriffe zu klären. Mit „Vorgriff auf Vollkommenheit“ meint Gadamer die alles formale Verstehen leitende Voraussetzung, dass nur das verständlich sei, was eine vollkommene Einheit von Sinn darstelle. (>Kritik) Schon hier kann man fragen, ob das für alle Textsorten, und wenn für literarische Texte, dann nur für die klassische Tradition gelte. Für Gadamer besteht der Vollzug des Verstehens darin, „in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinnes zu erweitern“. (Gadamer 1965, 296) Jacques Derrida hat als einer der einflussreichsten Vertreter antihermeneutischer Strömungen die bedenkenswerte Gegenfrage gestellt: „Kontinuierliche fortschreitende Auswirkung? oder nicht eher diskontinuierliche Umstrukturierung?“ (Derrida 1984) Die Erweiterung des Sinns erfolgt nach Gadamer im Kontext der Wirkungsgeschichte der Tradition. Gadamer betont, dass wir, mehr als wir wüßten, immer schon von der Tradition geprägt wären. Der Begriff „Horizontverschmelzung“ meint weder ein unvermitteltes Zusammentreffen von gegenwärtigen und vergangenen Positionen noch gar eine konfuse Vermischung. Vielmehr bezeichnet er einen Prozess der Abhebung von einem Gegenwartshorizont, der sich seiner Bildung durch die Tradition bewusst wird und an ihr seine Vorurteile erprobt, bis er im Prozess des Verstehens den Horizont findet, der als höhere Allgemeinheit Gegenwärtiges und Vergangenes umfasst. Am Überlieferungsgeschehen teilhabend, werden die Verstehenden, dieses bestimmend, von ihm bestimmt. Gadamers Hermeneutik ist von verschiedenen Seiten kritisiert, aber auch von einflussreichen Strömungen der Literaturwissenschaft rezipiert und für die Entwicklung ihrer Methoden und Verfahrensweisen in Anspruch genommen worden. (Rusterholz, 125f.) Gadamer reformuliert Heideggers Passivität des Interpreten unter dem Aspekt des Dogmas und der Autorität der Tradition, die sich dem Verstehenden im einem Kanon überlieferter Texte zeigt. Verstehen ist für ihn ein Akt, in dem der „Bedeutungshorizont“ des (historischen) Interpreten mit dem „Horizont“ des Werks verschmilzt (>Kritik) Wiederum bleibt das Werk in seiner (grundsätzlichen) Andersheit und damit Unabhängigkeit von uns bestehen. Zwar denkt Gadamer den Verstehensprozess als produktiven Akt, durch den einem gegebenen, historisch überlieferten Werk – in bezug auf die Zeit des Interpreten – neue Aspekte, also Deutungsmöglichkeiten abgewonnen werden, das Werk selbst aber ist in einer Tradition gegründet, die vorab vorausgesetzt ist und fraglos gilt. Spätestens hier wird Hermeneutik dogmatisch, weil sie sich durch diese Voraussetzung über alle Kritik hinwegsetzt. (Jung, 171) Gadamer steht in der Tradition Heideggers. Dessen Existenzphilosophie weist Verstehen als einzigen Weg aus, dem ‘Sein’ seinen Sinn abzugewinnen. Damit ist Hermeneutik ontologisch, mit dem Sein bereits gegeben. Da alles Sein durch Sprache erst artikulierbar wird, muss diese Sprache als verstehbar angenommen werden. Der hier emphatisch begrüßte Zirkel des Verstehens setzt die vorhandene Seinserfahrung als Vorverständnis im Subjekt voraus (‘Vorstruktur des Verstehens’). In ihm wirkt nach Gadamer die Autorität der Tradition, das je von den Vorgängern als bewahrenswert Angesehene präformiere einen Horizont des historischen Verstehens. Gadamer wendet sich damit gegen Schleiermacher, der die Eigenleistung des Subjektes im Wiederentdecken eines gegebenen Sinnes hervorhebt. Dagegen behauptet er dessen überwiegende Prägung durch die unentrinnbare Tradition. Der in diesem Konzept festgeschriebene Überlegenheitsanspruch der historisch überlieferten Autorität ist Ausdruck einer konservativen Haltung. Nach Auffassung nicht nur der Zeitgenossen schreibt Gadamer damit die ältere Germanistik fort. Eine geregelte Methode, bekräftigt Gadamer, biete die Hermeneutik nicht, ihr Verstehensbegriff sei dem Erkenntnisideal der analytischen (Natur-)Wissenschaften entgegengesetzt. (Baasner, 95f.) Gadamer sieht in der sprachlichen Kommunikation die Basis des Verstehens. Der von ihm angestrebte methodisch-reflexive Dialog zwischen Werk und Leser stärkt die Position des Interpreten. Aufgrund der dialogischen Grundstruktur jeglichen Verstehens steht für ihn „der universale Anspruch der Hermeutik außer allem Zweifel“. (Gadamer 1984, 24) Auf der anderen Seite wird das literarische Werk selbst hermetisiert. Der Dichtung wird Symbolhaftigkeit und semantische ‘Fülle’ zugeschrieben. Fürt Gadamer „gewinnt das Wort im literarischen Text erst seine volle Selbstpräsenz“. (Ebd., 47) Der Begriff der „Selbstpräsenz“ zielt auf die Prämisse der Intentionalität und damit der Autorität von Texten, die eine hermeneutische Lektüre erst in Gang setzen. Gadamer orientiert sich an der kulturellen Tradition, dem „Überlieferungsgeschehen“, dessen historischer ‘Gewalt’ das Kunstwerk abgerungen wurde und mit deren Hilfe es durch den Interpreten zu erneutem Sagen gezwungen wird. Dennoch vermag der Sinn eines Werks in der Begriffssprache des Interpreten nicht eingeholt zu werden, „weil das Eigentliche unübertragbar bleibt“. (Gadamer 1986, 8) Aus dieser Vorstellung erwächst die Motivation hermeneutischer Verfahren, weil die Uneinholbarkeit Befremden, Unverständlichkeit und Strittigkeit beim Leser hervorruft, die Gadamer für unerträglich hält. Damit wäre Literatur, was ihr „Eigentliches“ betrifft, unlesbar, wenn dieses nicht in der Intuition, das heißt ‘ganzheitlich’ wahrgenommen werden könnte. Hier kehrt die romantische Vorstellung des Individuellen als des Singulären innerhalb einer Sprache wieder, die ohne dessen ‘Inspiration’ allgemein – und gewöhnlich – ist. Literarische Texte sind bei Gadamer und überhaupt in der Hermeneutik nach Schleiermacher von eigenartiger Ambivalenz. Sie sind einmalig, ‘Wort’ in dessen Selbstpräsenz und deshalb uneinholbar, und sie sind als Schrift defizitär, weil sich in ihnen der lebendige Anteil nicht sichtbar überliefert. Daher sind sie doppelt interpretationsbedürftig, um das ‘Wort’ und den intentionalen, dialogischen Anteil zu retten. (Bogdal, 144f.) a) Gadamers Entwurf lässt sich als Erweiterung wie als Reduktion von Heideggers Position verstehen. Als privilegierter Ort der Wahrheitsfindung wird die Kunst bei Gadamer zum Statthalter der Metaphysik. Wie schon Dilthey folgt Gadamer einem geistesgeschichtlichen Ansatz, der das Verstehen auf universale Weise als eine Form der Welterfahrung begreift. (Geisenhanslüke, 54) b) Gadamers Unterfangen beruht auf zwei aufeinander aufbauenden Schritten. Der erste besteht darin, eine Erfahrung von Wahrheit auszumachen, die speziell in der Kunst zutage tritt. (Traditionell wird Kunst ja nicht als Ort des Wahren, sondern als der des Schönen oder des Erhabenen verstanden.) Der zweite Schritt besteht darin, den auf dem Boden der Kunst erarbeiteten Begriff der Wahrheit auf das Ganze der Hermeneutik und damit auf den Bereich der Geisteswissenschaften überhaupt auszuweiten. (>Kritik) Als Wahrheit und Methode der Geisteswissenschaften verkörpert die Hermeneutik einen problematischen Anspruch auf Universalität, der dazu neigt, alles, und insbesondere die philosophische Ästhetik, vollständig in der Hermeneutik aufgehen zu lassen. (Geisenhanslüke, 54f.) c) Das Kunstwerk fordert schon von sich aus sein Verstehen, so Gadamers Ausgangsthese. Damit ist die zweite These verbunden, das Ziel des Verstehens die Verständigung sei. (>Kritik) Indem er das Einverständnis in der Sache als Ziel allen Verstehens ausgibt, stellt Gadamer die Hermeneutik in den Kontext einer ästhetischen Theorie des Konsenses, die insbesondere von postmodernen Theorien des Widerstreits in Frage gestellt wurde. (Geisenhanslüke, 55) d) Im Unterschied zu dekonstruktiven Theorien der Schriftlichkeit orientiert sich Gadamers Theorie der Verständigung an einem Moment der lebendigen Rede, das er im Lesen als der Verlebendigung des geschriebenen Wortes erfüllt sieht. Indem er das Verstehen und den Akt des Lesens miteinander verknüpft, vollzieht Gadamer einen Schritt, der zugleich auf die rezeptionsgeschichtlichen Modelle der Konstanzer Schule um Jauß und Iser vorausweist. (Geisenhanslüke, 55) e) Der privilegierte Bereich von Gadamers Theorie der Hermeneutik bleibt die humanistische Tradition und der Bildungsgedanke der Klassik. Er deutet das Klassische als eine Herrschaftsmacht, die sich im Lauf der Geschichte scheinbar zeitlos erhält. (Geisenhanslüke, 55f.) f) (>Kritik) Indem Gadamer Sein und Sprache gerade durch das Verstehen zu vermitteln versucht, reduziert er sowohl das Sein als auch die Sprache auf ein Modell der Wahrheit, das sich in der Kunst erfülle. Die Grenzen von Gadamers Hermeneutik zeigen sich gerade an der Frage nach der Deutbarkeit moderner Kunst. In seiner Celan-Interpretation verweigert er sich dem philologischen Rückgriff auf Lexika und Enzyklopädien, da diese das wahre Wort der Dichtung nur verstellen würden. Er unterstellt die Arbeit der Auslegung einem Ideal des Verstehens, das sich letztlich nur durch das subjektive Genie des Auslegers rechtfertigt.. Mit der Universalisierung der philosophischen Hermeneutik zu einer allgemeinen Theorie des Verstehens geht ihm die Gestalt einer spezifisch literarischen Hermeneutik verloren. (Geisenhanslüke, 56f.) 6. Emilio Betti grenzt sich in seiner Teoria generale della interpretazione (1955), deutsch: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (1967) und in Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre (1988) von der Heidegger-Gadamer-Tradition ab und entwickelt seine Auslegungslehre in traditioneller Weise als prozesshaft sich entfaltende Subjekt-Objekt-Relation zwischen Interpret und sinnhaltigen Formen (als Objektivationen des Geistes, die Betti entsprechend der jede Geschichtlichkeit negierenden Ontologie Nicolai Hartmanns versteht). (>Verdienste) Die Vorgeschichte dieser Position und eine reichhaltige Verarbeitung der Literatur zur historischen, philologischen, juristischen und theologischen Hermeneutik sind in imponierender Materialfülle dargestellt, so dass Bettis auch für Leser von Interesse bleibt, die seine idealistischen Vorannahmen nicht akzeptieren können. (Rusterholz, 126f.) Betti wandte sich gegen Gadamers seiner Meinung nach subjektivistische Verzerrung der hermeneutischen Auslegungslehre. Gadamer hatte gezeigt, in welcher Weise das Verstehen die Auslegenden immer selbst mit ins Spiel ihrer Auslegung bringt. Dagegen sollte die Norm historischer Objektivität die Interpretation literarischer Texte verpflichten, allein „den beseelenden Schöpfergedanken wiederzuerkennen“ (Betti 1962, 12), den sein Autor in sein Werk einst gelegt habe. (Jacob, 337) Gegen Gadamer gerichtet entstanden alternative Auslegungslehren, die dem Verstehen eine methodische Kontrollierbarkeit sichern sollten. Zu diesem Zweck wurden von Betti neue Kanones (mit einer Tendenz zur Wiedereinführung dogmatischer Regeln) vorgeschlagen. Verbindlich für die Auslegung sollte zunächst die Autorseite sein: die mögliche Mehrdeutigkeit wird auf die Bedeutung eingeschränkt, die dem Autor mit größter Wahrscheinlichkeit unterstellt werden kann. Nach diesem Modell können Kriterien einer ‘richtigen’ Interpretation vorgegeben werden. (Hirsch 1972) Die Betonung der Autorseite hebt die Inhaltskomponente des Textes hervor, da darüber am leichtesten Konsens hergestellt werden kann. (>Kritik) Die oberflächlichste Textebene erhält somit in diesem Modell den Vorzug. (Baasner, 96) 7. Im Gegensatz zu, aber in produktiv-kritischer Auseinandersetzung mit Gadamer versucht Jürgen Habermas die Bedeutung der Hermeneutik für die Sozialwissenschaften zu klären. Für Habermas bedeutet Verstehen freilich nicht Einrücken in einen Traditionszusammenhang, sondern den Gewinn eines „handlungsorientierenden Selbstverständnisses“. (Habermas 1967, 169) Habermas wirft Gadamer vor, sein Konzept der Hermeneutik vermittle nicht nur Einsicht in die Vorurteilsstruktur des Verstehens, sondern rehabilitiere das Vorurteil als solches und verzichte damit auf die Kritik der Tradition durch Reflexion. Gadamer sieht den umfassenden Anspruch der Hermeneutik in der umfassenden sprachlichen Bestimmtheit der gesamten Kultur begründet. Habermas betrachtet dies als Universalitätsanspruch und setzt Gadamer seinen am Modell der Psychoanalyse entwickelten Begriff einer „Tiefenhermeneutik“ und eine „emanzipatorische Ideologiekritik“ entgegen, deren Aufgabe es sei, systematisch verzerrte Kommunikation aufzuklären. Sinnverstehen ist auch für Habermas’ Konzept von Sozialwissenschaft die Voraussetzung jeder Gewinnung wissenschaftlicher Daten. Gadamer kritisiert in seiner Replik die Übertragung des Arzt-Patienten-Modells der Psychoanalyse auf die Gesellschaft. Es erscheint ihm problematisch, ob die Kompetenz zur Bestimmung dessen, was als gesund oder krank zu bezeichnen sei, einer bestimmten Richtung der Sozialwissenschaft zuerkannt werden dürfe. Droht in diesem Fall nicht der Ideologiekritik die Gefahr, selbst ideologisch zu werden? (<Kritik) Andererseits bleibt bei Gadamer die Frage offen, welches denn nun die Kriterien seien, die ‘richtiges’ von ‘falschem’ Verstehen der Tradition unterscheiden, und wie die normativ wirkende Autorität der Tradition zu begründen sei. Die Auseinandersetzungen um Hermeneutik und Ideologiekritik waren im historischen Kontext der Studentenrevolution und neomarxistischer Renaissancen heftiger als heute, wo das Gemeinsame wieder stärker hervortritt als das Trennende. Gadamer und Habermas sind sich einig in der Kritik des Positivismus, und beide zeigen Gemeinsamkeiten in ihrer Kritik des Dekonstruktivismus. Beide betonen die „Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“. Freilich bleibt eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen Gadamer und Habermas bestehen, die insbesondere für die Literaturwissenschaft von großer Bedeutung ist. Im Gegensatz zur radikalen Kritik der Methode bei Gadamer relativiert Habermas die scharfe Polarisierung von geisteswissenschaftlichem „Verstehen“ und naturwissenschaftlichem „Erklären“. Durch Sprachzeichen vermittelte Erkenntnis bedarf sowohl des interpretierenden Verstehens als auch der methodisch geregelten Kritik und Erklärung der Bedeutungs- und Sinnkonstitution. (Rusterholz, 127f.) Bei Habermas rückt das deutende Individuum mit seinen konkreten (bewussten) Interessen und (unbewussten) Bedürfnissen, aber auch in seiner historischen und gesellschaftlichen Eingebundenheit in den Vordergrund. In Habermas’ „kritischer Hermeneutik“ ist Interpretation, wenn sie nicht ‘bewusstlos’ die Tradition wiederholt, kritische Selbstaufklärung und damit Teil eines Emanzipationsprozesses. (Bogdal, 146f.) (>Kritik) Die Argumente der Gadamer-Kritiker sind häufig problematisch. Unakzeptabel ist etwa der Anspruch, durch die Überführung von Hermeneutik in Kritik bereits ein gültiges Wahrheitskriterium für Interpretationen erlangt zu haben. (Jung, 171) 8. Eine gegenüber Gadamer kritische, traditionalistische Richtung vertritt Eric Donald Hirschs Hermeneutik Validity in Interpretation (1967), deutsch: Prinzipien der Interpretation (1972). Hirsch versucht, Gadamers Theorie innere Konflikte und Widersprüche nachzuweisen. Wenn Gadamer den Sinn schriftlicher Aufzeichnung grundsätzlich für identifizierbar und wiederholbar halte, lesendes Verstehen aber nicht als Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern als Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn betrachte, dann widerspreche er sich selbst. Hirsch sieht den Text als eine von der Autorintention eindeutig bestimmte Substanz und Interpretation als Bedeutungszuweisung. Gadamer hingegen betont eine Lösung des schriftlichen Textes vom Autor, der sich im Gegensatz zu mündlicher Rede sowohl vom Verfasser wie von eindeutiger Bestimmung des Adressaten löse. Deshalb sieht Gadamer Interpretation als nicht nur reproduktive, sondern auch produktive Handlung, die sich im dialektischen Prozess der Horizontverschmelzung ereignet. Gadamer betrachtet und beschreibt diesen Prozess als dialektischen Prozess der gegenseitigen Konstitution und Transformation eines Gegenwarts- und Vergangenheitshorizonts, so dass der vergangene Text durch gegenwärtige Auslegung zum Sprechen kommt. Hirsch betrachtet dies als Versuch, die traditionelle Trennung von „subtilitas intelligendi“ und „subtilitas expicandi“, der Kunst des Textverstehens und der Kunst, diesen Text anderen verständlich zu machen, aufzuheben. Er selbst sieht es als möglich an, linear fortschreitend diese Prozesse zu trennen. Ersteres wäre nach Hirsch Aufgabe der Literaturwissenschaft, die die objektiv rekonstruierbare Bedeutung bestimmt („verbal meaning“), während die Literaturkritik die Bedeutsamkeit für konkrete Leser in bestimmten historischen Situationen vermittle („significance“). Für Gadamer aber gibt es kein rein objektives Sinnverstehen, dem in konkretem Bezug auf je eine besondere Situation eine bestimmte Bedeutsamkeit zugeordnet werden könnte. Für ihn fallen Verstehen und Anwendung zusammen. Fraglich und umstritten ist also, ob eine Trennung dieser Akte überhaupt möglich sei? (>Kritik) Ist die Wahrnehmung des Textes nicht immer schon und unausweichlich durch Lebenswelt und Erkenntnis mitbestimmt? Wäre deshalb die von Hirsch genannte Reihenfolge nicht umzukehren? Die von Hirsch stillschweigend vorausgesetzte Trennbarkeit der Akte setzt ja ein beide Aspekte immer schon umfassendes Verstehen voraus. Hirsch postuliert ein (wie er selbst sagt) sehr einfaches Prinzip der Bestimmung der objektiven Bedeutung des Texts durch Rekonstruktion der Autorintention: „[...] das letzte Prinzip der Verifizierung ist jedoch sehr einfach: die imaginative Rekonstruktion des sprechenden Subjekts“ (Hirsch 1972, 298) (>Kritik) Damit sind allerdings zwei Momente ausgeblendet, die kritische Einwände ermöglichen, die Lösung des Texts vom sprechenden Subjekt durch schriftliche Aufzeichnung und die besondere, durch Lösung vom direkten referentiellen Bezug charakterisierte Eigenart des literarischen Texts. Hirsch versucht, Diltheys Konzept des ‘Sichhineinfühlens’ mit modernen linguistischen Mitteln neu zu begründen, indem er die zwischen Autor und Lesenden vermittelnde Kategorie des „Genre“ einführt. Nach Hirsch gehören alle gesprochenen und geschriebenen Sprechakte zu einer begrenzten Anzahl von Genres, die durch die Normen und Konventionen früheren Sprachgebrauchs determiniert wurden. Das Autor und Interpret gemeinsame System von Konventionen der Sprache und des Sprachgebrauchs ermöglicht die Objektivierbarkeit des Sinns. (>Kritik) Es lässt aber die Frage offen, ob damit literarische Texte nicht auf konventionelle Sprachmuster reduziert würden, so dass mit dieser Kategorie des „Genres“ allenfalls eine Hermeneutik normierter Gebrauchstexte, nicht aber eine solche literaturwissenschaftliche Theorie der Interpretation begründet werden könne, die auch die Aktivität und Produktivität der literarisch Lesenden einbezöge. (>Kritik) Ein Grundproblem der Bedeutungs- und Sinnkonstitution ist in diesem theoretischen Ansatz überhaupt nicht berücksichtigt worden, die Tatsache nämlich, dass diese Konstituierungsvorgänge bei verschiedenen Textsorten und je verschiedenen Kommunikationsmodi je verschieden sind. Hirsch reduziert diese Problematik auf den durch den Autorwillen initiierten, durch gemeinsame Kenntnisse der Genre-Konventionen von Autor und Leserinnen garantierten Transport identischer Bedeutung. (Rusterholz, 128ff.) Hirsch strebte – wie Betti – an, der Literaturwissenschaft das Ideal objektiver, methodisch gültiger Rekonstruktion zu erhalten und den einen gültigen, intendierten Sinn eines Werkes zu bestimmen. (Jacob, 337) 9. In produktiver, differenzierterer, aber nicht unkritischer Weise ist Gadamers Hermeneutik in Konstanz rezipiert worden. Hans Robert Jauß folgte in Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1967) Gadamers Kritik des historischen Objektivismus. Jauß übernimmt Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte und der Horizontverschmelzung. Er versucht, Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren, indem er die Literaturgeschichte als Prozess der Rezeption von Texten durch Leser und als Prozess der Wirkung von Texten auf Autoren betrachtet. Literaturgeschichte hat dann nicht eine identische Bedeutung von Texten zu rekonstruieren, sondern die historische Entfaltung des Sinnpotentials zu beschreiben, das sich in der Rezeption aktualisiert und in der Wirkungsgeschichte immer neu vergegenständlicht. Collingwood und Gadamer folgend versucht auch Jauß, einen Text zu verstehen, indem er die Frage zu verstehen sucht, auf die dieser eine Antwort ist; und er begründet die Forderung der Rekonstruktion des Erwartungshorizonts, den die Lesergesellschaft eines bestimmten Zeitraums gegenüber dem literarischen Text ins Spiel bringt. Im Gegensatz zu Gadamer aber sieht er das Klassische nicht als Norm, sondern nur als historisches Moment. Deshalb betrachtet er literaturgeschichtliches Verstehen nicht als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, sondern letztlich als Versuch, die Kluft zwischen Literatur und Geschichte zu überbrücken. Jauß betont im Gegensatz zur traditionellen autorzentrierten Konzeption Hirschs die produktive Funktion des Lesers. Sein Kollege Wolfgang Iser hat sich in Die Appellstruktur der Texte (1971) die Aufgabe gestellt, das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen. Bedeutungen werden danach nicht als rekonstruierbare Substanzen betrachtet, sondern erst im Lesevorgang als Produkt der Interaktion Text – Leser generiert. Der literarische Text ist nach Iser von allen Texten zu unterscheiden, die einen vom Text unabhängig existierenden Gegenstand vorstellen oder mitteilbar machen. Der Text ist aber auch nicht bloße Projektionsfläche des Lesers. Er bietet vielmehr Einstellungen und Perspektiven, die die empirisch bekannte Welt verändern und verfremden. Daraus resultiert eine gewisse Unbestimmtheit, die der Leser auf unterschiedliche Weise verarbeiten kann. Wer den Text auf seine Erfahrung reduziert, normalisiert ihn und vernachlässigt damit die spezifisch literarische Qualität. Wer die Differenz wahrnimmt und produktiv verarbeitet, macht die eigentliche Qualität des literarischen Textes sichtbar. Ein solcher Text sei nie allseitig bestimmt, und diese Unbestimmtheit wachse in literarischen Texten seit dem 18. Jahrhundert, wie Iser in Der implizite Leser (1972) zu zeigen versucht hat. Wenn die Textbedeutung allerdings erst in der Interaktion Text – Leser generiert wird, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Rezeption und objektivierende Analyse zu sehen seien? Wie weit gelingt es, Werksystem und Interpretationssystem zu trennen? Welche Kriterien adäquaten Verstehens sind denkbar? In seinem Buch Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (1976) betrachtet Iser den Text gleichsam als Partitur, die der Leser, indem er dem im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens folgt, konkretisiert. Die Leserin agiert als gleichsam „wandernder Blickpunkt“, der sich durch den Text bewegt, durch immer wieder neue Vor- und Rückgriffe neue Relationen schafft und neue Bedeutungsspielräume und Leerstellen wahrnimmt. Der Autor schreibt sich durch die Rezeptionsdisposition, auf die der Text angelegt ist, und durch die Brüche und Leerstellen ermöglichende Segmentierung und Perspektivierung des Texts in den Text ein. Der Leser konkretisiert diese Aktstruktur des Lesens und konstituiert im Rahmen dieser Spielräume und Lücken Bedeutung und Sinn. Iser und Jauß machen mit exemplarischen Fallstudien deutlich, wie sehr eine Hermeneutik, die Interpretation als Bedeutungszuweisung betrachtet, die differenzierte ästhetische Erfahrung reduziert. (>Kritik) Kritische Stimmen meinten allerdings, dass solch differenzierte Analyse der Leseerfahrung unweigerlich im Subjektivismus individueller Reize und Reaktionen ende. Dies führte Jauß dazu, Wirkung als das vom Text bedingte und Rezeption als das vom Leser bedingte Element der Konkretisation zu beschreiben. Natürlich bleibt dabei die von Vertretern der autorzentrierten Interpretation gestellte Frage offen, welche Norm denn über richtige und falsche Interpretationen entscheide. Hans Ulrich Gumbrecht schlug deshalb vor, „im Rahmen einer deskriptiven Rezeptionsgeschichte die vom jeweiligen Autor intendierte Sinngebung als Hintergrund des Verständnisses und des Vergleichs von Sinngebungen über den von ihm produzierten Text zu benützen“. (Gumbrecht 1975, 392) (>Kritik) Nicht einleuchtend ist hier die grundlegende Voraussetzung, die vom Autor intendierte Sinngebung sei leicht und unabhängig von den Voraussetzungen der Literaturwissenschaft rekonstruierbar. Praktisch dürfte sich die Rekonstruktion der vom Autor intendierten Sinngebung nur bei Verfassern rhetorischer Texte mit eindeutiger Wirkungsintention und Verwendungsfunktion ergeben. Peter Rusterholz schlägt vor, die Zeichenrelationen, die auf Rezeptionsdispositionen verweisen, als Indizien eines vom Autor intendierten Potentials möglicher Sinngebung zu interpretieren. So kann zwar keine Norm, wohl aber ein Vergleichsgegenstand gegenüber anderen Sinnbildungen konstituiert werden, der zusammen mit den von Karlheinz Stierle postulierten historisch-systematischen Rezeptionsmodellen Stufen der Adäquatheit von Rezeptionen und Interpretationen zu qualifizieren erlaubt. Wir könnten Rezeptionsformen, die das Wahrgenommene unreflektiert nach privaten Erfahrungsnormen konkretisieren, historische Analysen, die im Text angelegte Rezeptionsdisposition rekonstruieren, und rezeptionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen unterscheiden. Die Konstanzer Rezeptionsästhetik hat die Literaturwissenschaft zu einer historischen Kommunikationssoziologie entwickelt, die mit Gadamer die Vorstellung eines unabhängig vom Prozess des Verstehens existierenden Objekts des Verstehens negiert, aber gegen Gadamers Negation der Methoden die durch Formalismus und Strukturalismus bereitgestellten analytischen Instrumente einsetzt, um die Steuerung der literarischen Kommunikation durch die Wirkungen des Textes zu analysieren und Aufnahme und Wirkung der Werke im objektivierbaren Bezugssystem zur Lesererwartung zu beschreiben, das sich aus dem Vorverständnis der Gattungen und dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt. (Rusterholz, 131ff.) Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte, das die vermeintliche Unmittelbarkeit des Verstehens im Umgang mit überlieferten Werken destruierte, initiierte andererseits eine neue Aufmerksamkeit für Rezeption und Rezeptionsgeschichte literarischer Werke. So entstand das Programm einer Rezeptionsforschung, in der sich die Geschichte der ästhetischen Erfahrung mit der literarischen Hermeneutik so zu vermitteln suchte, dass der Sinnhorizont des literarischen Werkes erst im Zusammenspiel von Autor, Werk und Leser zu entwerfen war. (Jacob, 338) Ausgangspunkt der Überlegungen von Jauß und Iser ist die Unmöglichkeit der einen richtigen Interpretation eines (historischen) Textes, der sich vielmehr in die Vielzahl seiner verschiedenen und alternativen Lesarten und Deutungsvarietäten auseinander faltet. An die Stelle des Werks und seiner Interpretation treten mithin die Beschäftigung mit und die Analyse von allen möglichen (und unmöglichen) Deutungen. Die Hermeneutik wird offener, pluraler – gesprächsoffener. (Jung, 176) In der Rezeptionsästhetik wird Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte gewissermaßen umgedreht, die Perspektive des Publikums gewinnt die wichtigere Funktion. Leser werden in den Mittelpunkt des Textgestaltens und -verstehens gestellt. Als konstitutiv für Texte gilt nicht mehr die einsame Absicht des Autors, sondern die von ihm unterstellte – oder wirklich vorhandene – Interessenlage des Publikums. Dabei wird entweder Der Akt des Lesens (Iser 1976) oder der historisch zu rekonstruierende ‘Erwartungshorizont’ (Jauß 1970) eines ‘idealen Lesers’ zur wichtigsten Bezugsgröße. Alle auf die Produktionsseite der Textentstehung und des Verstehens fokussierten ästhetischen und hermeneutischen Ansätze werden relativiert. (Baasner, 97) 10. Im Gegensatz zu Gadamer, der die durch die moderne Linguistik und Literaturtheorie bereitgestellten Methoden weitgehend ausklammert, bezieht die hermeneutische Philosophie Paul Ricoeurs diese in weitestem Umfang ein. Sein Buch De l’ interprétation (1965), dt. 1969 ist zwar eine Abhandlung über Freud, enthält aber schon in der Einleitung ein Kapitel über das Gebiet der Symbolinterpretation. Ricoeur analysiert auch die für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik grundlegend wichtige Differenz von mündlicher Rede und schriftlichem Text. Durch Verschriftlichung löst sich der Autor von seiner Rede, gewinnt der Text eine gewisse Autonomie, transzendiert sich der Autor durch die Perspektivierung zunächst des literarischen Textes. Während die mündliche Gesprächssituation auf eindeutige Adressaten verweist, ist der schriftliche Text im Prinzip unendlich großer Leserschaft offen und deshalb vielfältig interpretierbar. Im Gegensatz zum beschreibenden Sachtext, der wie die mündliche Rede auf eine bestimmte wirkliche Situation verweist, eröffnet der literarische Text einen Raum der Einbildungskraft, der zwar auf eine charakteristische Welt verweist, diese aber nicht wie der Sachtext oder der historische Quellentext raumzeitlich eindeutig bestimmt. Der Autor berücksichtigt diese dreifache Distanzierung mehrfach: indem er den Text so formuliert, dass er für sich selbst spricht, indem er die Redesituation mindestens durch Anzeichen skizziert und indem er eine spezifische Rezeptionsdisposition schafft. Diese soll dem Kommunikationsmodus einer bestimmten Gattung, eines Genres des Texts entsprechen und doch – im Falle eines literarischen Textes ersten Ranges – dem Text so viel Universität zugestehen, dass er in verschiedensten historischen Epochen durch verschiedenste historische Leser rezipierbar bleibt. Im Gegensatz zu einem Strukturalismus, der Sprache als System von Zeichen und Regeln, der vor allem die „langue“, den Systemcharakter der Sprache analysiert, beschäftigt sich Ricoeur mit der Semantik und Funktion der Texte im konkreten historischen Kontext. Er versucht, analytische Methodik und hermeneutisches Reflexionswissen mittels einer Dialektik von Verstehen und Erklären zu verbinden. Entsteht das Werk nach Ricoeur durch Distanzierung („distanciation“), durch Lösung des Texts vom Autor, so versteht er in spiegelbildlicher Entsprechung Interpretieren als Aneignung („appropriation“). Er bezieht sich auf den durch Gadamer neu bestimmten Begriff der Applikation als integrierenden Bestandteil jedes hermeneutischen Prozesses. Isers Analysen des Leseakts und Jauß’ rezeptionsgeschichtliche Ästhetik aufgreifend, beschreibt er die Interaktion zwischen Text und Leser als Dialog mit mehreren Phasen verschiedener Qualitäten der Lektüre, von der wahrnehmend genießenden Rezeption vorerst noch unbestimmter Bedeutungselemente zur Thematisierung der provozierten Fragen der Bedeutung, schließlich zur Frage nach dem historischen Horizont des Textes, um endlich die Frage: ‘Was sagt der Text? Auf welche Frage war er eine Antwort?’ in die Frage überzuführen: ‘Was sagt mir der Text? Inwiefern greift er ein in mein Leben? Inwiefern bewegt er nach Prozessen der Wahrnehmung, der Identifikation und Verfremdung der kathartischen Wirkung nicht nur Reflexion und Selbsterkenntnis, sondern wirkt durch die Schaffung neuer Werte und Normen, die der herrschenden Moral entgegenstehen oder sie erschüttern, auch auf mein Handeln im wirklichen Leben?’ (Rusterholz, 134 ff.) Mit der poetischen, schöpferischen Einbildungskraft, die sich in der Dichtung darstelle, verbinde sich, so Ricoeur, immer auch Erkenntnis über die Welt des Textes, wie über Welt und Existenz des Interpreten.(Jacob, 339) Wo Heidegger wie auch Gadamer das interpretierende Subjekt als Hüter der Tradition und damit als (passives) Glied einer Reihe gesehen haben, da aktiviert Ricoeur geradezu die Potenzen des Subjekts. Der Leser als Interpret vertieft, indem er sich deutend mit dem Text auseinandersetzt, seine eigene Welterfahrung; er erschließt sich über den Text neue Möglichkeiten, in der Welt zu sein. Über alle Unterschiede hinweg bleibt jedoch der hermeneutische Verstehensprozess bei Heidegger, Gadamer und Ricoeur in einen existentialontologischen Bezugsrahmen eingespannt, in dem es um die Erhellung der Daseinsproblematik geht. Die hermeneutische Wende der Philosophie, die den (literarischen) Text zu einem ausgezeichneten Reflexionsgegenstand erhebt, ist damit nur uneigentliche Rede über Kunst und Literatur, die zur Eigentlichkeit erst durch die philosophische Daseinsanalytik gekürt wird. (Jung, 172) Für Ricoeur stellt das „Problem des Doppelsinns der Sprache“ (Ricoeur 1974, 19) die eigentliche Herausforderung der Hermeneutik dar. Damit meint er in erster Linie die durch Freud entdeckte Symptomatik der Sprache im Spiel zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Durch die Reduzierung der Hermeneutik auf eine „Theorie der Regeln, die eine Exegese leiten“ (ebd., 20), entlastet Ricoeur sie vom Universalitätsanspruch einer philosophisch-anthropologischen Theorie des Verstehens. Ausgangspunkt bleibt jedoch der klassisch-romantische Symbolbegriff, den er umstandslos mit dem linguistischen Zeichenbegriff gleichsetzt. Mit der Semiotisierung der Hermeneutik wird zumindest die Tatsache eingestanden, dass in der Wahrnehmung des Interpreten nur ein je präsentes Zeichensystem existiert. Dennoch hält Ricoeur an der hermeneutischen Tradition fest, die davon ausgeht, dass sich über die Intention des Autors, über unbewusste Prozesse oder geniale Sprachschöpfung tieferer Sinn unsichtbar-sichtbar in den Text einschreibt. Hermeneutik umfasst für ihn die Wiederherstellung der ursprünglichen „Botschaft“ und die Entmystifizierung ihrer mitgelieferten Selbstdeutungen. (Bogdal, 146) 11. Peter Szondi verfolgte für sein Projekt einer materialen Hermeneutik die Tradition der Texthermeneutik bis ins 18. Jahrhundert zurück. Vor allem erinnerte er sich an Schleiermachers Verstehenslehre als einer „neuen auf die Beobachtung des Sprachmaterials gegründeten Hermeneutik“. Damit lag eine verstärkte Hinwendung zu sprachanalytischen Verfahren nahe. (Jacob, 338) a) Szondi ist bestrebt, die Entwicklung der modernen Hermeneutik zu korrigieren. Bisher sei die Hermeneutik zu sehr an philosophischen Fragen interessiert gewesen, ohne auf die spezifisch literaturwissenschaftliche Relevanz der Lehre des Verstehens einzugehen. Er plädiert für eine hermeneutische Lehre, die philosophische Grundlagen mit philologischen Ansprüchen verbindet. (Geisenhanslüke, 57f.) b) Szondi ist mit Benjamin an einer Aufwertung der allegorischen Deutung interessiert. Er unterscheidet die Aufgabe der Hermeneutik als Sicherung der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung eines Textes. Erst die grammatische und die allegorische Auslegung vermögen zusammen einen gültigen Begriff der Hermeneutik zu definieren. Was Szondi von einer literarischen Hermeneutik fordert, ist die Verbindung der philologischen Bestimmung des Wortsinns mit der philosophischen Kunst der Interpretation. (Geisenhanslüke, 58f.) c) In seiner Celan-Interpretation deutet Szondi die Unverständlichkeit, anders als Gadamer, nicht als Aufforderung zu einer philosophischen Durchdringung der Texte Celans, sondern als Eingeständnis der Grenzen der traditionellen Hermeneutik. Er betont daher, dass das Fehlen von Eindeutigkeit in Celans Texten kein Mangel sei, sondern ihr Strukturgesetz. Daher könne es der Interpretation von Celans Gedichten nicht darum gehen, den Sinn des in ihnen Gesagten hermeneutisch zu entschlüsseln. Das Gedicht muss vielmehr in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden. (Geisenhanslüke, 59). 12. Manfred Frank knüpft ebenfalls an die Hermeneutik Schleiermachers an. Er hält dabei gegen die strukturalistische Bestreitung des hermeneutischen Subjekts an diesem als unhintergehbare Individualität fest. In jedem literarischen Text sei immer auch ein sprachschöpferisches, individuelles Moment am Werk, das seine strukturale Beschreibung in Frage stelle, wie andererseits jeder originelle Sprachgebrauch eines Autors durch eine strukturell geprägte Sprachkonvention vermittelt sei. (Jacob, 338) Das Beispiel Manfred Franks zeigt, dass Hermeneutik heute nicht mehr einsträngig die Tradition phänomenologischer bzw. existentialontologischer Konzepte einfach fortsetzen kann, sondern vielmehr den in anderen Wissenschaften akkumulierten Wissensstand nicht unterschreiten darf. (>Verdienste) Seine Arbeiten demonstrieren ein Problembewusstsein, das nicht unterboten werden darf, will Hermeneutik weiter ihre Stimme und ihr (ohnehin von anderen bestrittenes) Recht auf einen Platz im Konzert der Deutungsalternativen behaupten. Es geht Frank darum, im Gegenzug zur traditionellen Hermeneutik die Einsichten anderer Textwissenschaften (z.B. der Linguistik) zur Geltung zu bringen, zugleich aber auch deren Grenzen unter Rückgriff auf eine an Schleiermacher und Sartre geschulte Hermeneutik sichtbar zu machen. Dennoch bleibt am Ende das alte Problem weiter bestehen: die Subjektivität bzw. Individualität als Methodenproblem. Denn Subjektivität ist nach Frank der letzte, methodisch nicht einholbare oder gar überbietbare Rest in jedem Verstehensakt. Analog zum Werk, in das sich sein Autor auf unvergleichliche Weise eingeschrieben hat, muss auch die schöpferische Aktivität des Interpreten, sein kreatives Mitschaffen, akzeptiert werden. Gegen das doppelte Missverständnis des Strukturalismus, wonach Produzent und Rezipient eines Werkes in Sprachstrukturen befangen bleiben, die sich selbst erzeugen, bringt Frank die Schleiermachersche Einsicht wieder ins Spiel, dass jeder Sprachteilhaber an und in der Sprache mitwirkt, ja Neues in ihr hervorbringt. In bezug auf den Verstehens- bzw. Interpretationsakt bedeutet das, dass dieser als produktiver Vorgang, als „Schaffen“ begriffen werden muss. Jede Auslegung bleibt daher am Ende auf sich selbst verwiesen. Es bleibt ein subjektiver Rest; es bleibt das Individuum als sinnsetzende (also produktive) Instanz, das Verstehen als subjektiver, nicht in Regeln auflösbarer, methodisch-unmethodischer Akt. Was ist Hermeneutik: methodisches Verfahren oder geniale Anschauung? Nach Frank lässt sich diese Frage mit: weder-noch und doch auch (paradox) mit: beides zugleich beantworten. Beides kommt ins Spiel: auf der eine Seite die notwendige und gebotene Reflexion des Wissensbestandes anderer Textdisziplinen und Methoden, die Hermeneutik zur Anwendung bringen muss, auf der anderen Seite die nachdrückliche Betonung des ‘subjektiven Faktors’, der vielfach von eben diesen anderen Disziplinen und Verfahrensweisen zur quantité négligable und zum störenden Element degradiert wird. Dazwischen ist die Hermeneutik situiert. (Jung, 173ff.) Vielleicht wäre Hermeneutik noch am ehesten weniger als Methode denn als das gute oder schlechte Gewissen aller anderen Text- wie Kulturwissenschaften zu bestimmen, das das Bewusstsein von der Subjektivität als Methodenproblem ständig wachhält und einklagt, wodurch sie sich am Ende schließlich noch zur Metatheorie qualifizieren mag. (Jung, 178) Auf die mehrdeutige Auslegung von literarischem Stil zielt Manfred Franks an Schleiermacher orientierte ‘divinatorische Hermeneutik’, die mehr die Fähigkeit zur ‘Divination’ (Erraten) als die methodische Standardisierbarkeit in den Mittelpunkt stellt. (Baasner, 97) Manfred Frank entwickelt seine Schleiermacher-Deutung in der Auseinandersetzung mit Derrida, Lacan und anderen Theoretikern der Gegenwart. Er liefert in seinen Schriften, die auch in anderer Hinsicht Schleiermacher weit hinter sich lassen, das komplexe und durchdachte System einer konkurrenzfähigen modernen Hermeneutik, die plausibel begründen kann, weshalb zwar nicht zwischen einer richtigen und zahllosen falschen, dafür aber doch zwischen richtigeren und weniger richtigen Textdeutungen unterschieden werden kann. (Schneider, 215) Obwohl Frank Verstehen und Interpretieren weiterhin als Grundlage der Aneignung von Texten aufrecht erhält, nimmt er nicht mehr die prätextuellen Bedeutungszuschreibungen z.B. an den „Strom der Geschichte“ (Dilthey) auf. Poststrukturalistischen Kritikern gesteht er zu: „das Subjekt ist nicht länger mehr Herr seines Sinns, es erwirbt sein ‘Selbstverständnis’ im Zeichen-Zusammenhang einer Welt, in deren Struktur eine bestimmte Deutung des Sinns von Sein eingegangen ist“. (Frank 1984, 181). Die neuere Hermeneutik gibt, die „Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache“ anerkennend, zumindest die Vorstellung eines ursprünglichen, mit sich identischen Textsinns auf, den es durch die Interpretation freizulegen gelte. (Bogdal, 147) 13. Im hermeneutischen Verstehen steht das Subjekt dominierend im Zentrum, sein Verhältnis zum Objekt ist zirkulär. Dies gilt um so mehr für die werkimmanente Interpretation, deren ‘Begreifen, was uns ergreift’ den persönlichen Eindruck des Interpreten in den Vordergrund rückt, und damit die individuelle Meinung im Gegensatz zur allgemeingültigen Aussage stark macht. Verstehen richtet sich, nach gemeinsamer Ansicht sämtlicher hermeneutischen Auslegungskonzepte auf die inneren Aspekte des Gegenstandes, seien sie gefasst als Ideen (Manifestationen des Geistes) oder als psychische Positionen und Prozesse in kommunikativen Lebenszusammenhängen (Lebensäußerungen). Damit konzentriert sich das Verstehen auf solche Phänomene, die nicht einfach anhand ihrer äußeren Merkmale und Erscheinungsweisen beobachtbar sind, sondern als Motive, als Handlungsabsichten erkannt werden müssen, die einer relativen Entscheidungsfreiheit der Individuen unterliegen. Ob die Intention mehr im Autor (intentio auctoris), im Text (intentio operis) oder im Leser (intentio lectoris) vermutet wird, verschiebt nur die Blickrichtung. Hier tritt das nach Verstehen strebende Subjekt über eine historische – zeitlich, räumlich und kulturell bestimmte – Distanz mit den Äußerungen eines anderen Subjektes in Kontakt; und zwar bemüht es sich darum, die individuellen Meinungen des anderen Subjektes zu erschließen. Verstehen richtet sich stets auf Bewusstseinsinhalte. In diesem Prozess gewinnt der Gegenstand ein Eigenleben: zwar ist der Text festgeschrieben, doch variieren seine Bedeutung und sein Sinn je nach dem Ausgangspunkt des Verstehensaktes. Der Gegenstand ist also einerseits als Text materiell unveränderlich, andererseits gewinnt er als Aussage erst im Laufe des hermeneutischen Verfahrens seine für das Verstehen relevanten Konturen. (Baasner, 91f.) 14. Es gibt mindestens drei Basismodelle des Verstehens: Es ist beschreibbar als ein erfolgreiches Hineinversetzen in das andere Subjekt, als ein mehr oder weniger mühevolles Zusammensetzen einzelner Teile seiner Äußerungen oder als der schöpferische Neuentwurf dessen, was ein text andeutet. Im ersten Modell geschieht ein Nachvollzug des in der Äußerung Gemeinten, im zweiten dessen Rekonstruktion und im dritten seine erratende (divinatorische) Wiedererzeugung. Insgesamt beruht der Vorgang des Verstehens auf so komplexen intellektuellen Operationen, dass deren Bewusstmachung und Eingrenzung kaum möglich erscheint. Eine Kontrolle bleibt letztlich darauf beschränkt, die Ergebnisse des Verstehens auf ihre Plausibilität hin zu befragen. (Baasner, 92) 15. Generell ist der Sinn literarischer Texte eher dem Verstehen als dem Erklären zugänglich; partiell kann er zwar auch empirisch erfasst und erklärt werden, doch erreicht dies nie die Komplexität, die im Verstehen aufgenommen werden kann. Einer Erklärung oder Erläuterung einzelner Textkomponenten bleibt der integrierende Sinn des Textes gänzlich verschlossen. Die hermeneutische Interpretation darf sich aber durch vermeintlich schöpferisches Verstehen nicht willkürlich über das sozial(-historisch) Erklärbare hinwegsetzen. Die seit den 1960er Jahren intensivierte Auseinandersetzung um den Gegensatz von empirischem Erklären und hermeneutischem Verstehen hat zu einem erkenntnistheoretischen Kompromiss geführt: erklären, was erklärt werden kann, verstehen, was nicht erklärbar ist. Steht statt der historischen Komponente ein aktualisierter Umgang mit literarischen Texten im Vordergrund, ist mit sozialhistorischer Erklärung nichts mehr zu gewinnen. Was ein Text heute für einen Leser bedeutet, welchen Sinn ihm dieser zumisst, hängt vom individuellen Verstehensakt ab. Dies fällt aber nicht mehr in den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis. (Baasner, 93f.) 16. Interpretation steht in einem schlechten Ruf. Interpretation, so lassen sich die Vorbehalte zusammenfassen, sei eine Spielwiese für all diejenigen, die in die von ihnen behandelten Texten etwas hineininterpretieren wollten. Wenn das so wäre, dürfte Interpretation tatsächlich nicht zur Literaturwissenschaft gerechnet werden. Sind schlechte und bessere Interpretationen wirklich zu unterscheiden, und wenn, nach welchen Kriterien? Gibt es völlig falsche unter ihnen? Interpretationen lassen sich methodisch nur in Teilen als Abfolge von Regelmäßigkeitsannahmen (Deutungshypothesen) auffassen, die an einer empirischen Datenbasis (dem Text oder seinen Kontexten) prüfbar sind. Dem steht vornehmlich die mangelnde Erklärbarkeit von Sinn im Wege. Jede Interpretation muss in sich widerspruchsfrei und zusammenhängend sein (Konsistenz), sowohl im Hinblick auf die aus theoretischen Überlegungen heraus gewählte Erkenntnismethode als auch auf die Darstellung. Interpretationsthesen müssen das relevante Wissen der Disziplin beachten, besonders aber bereits vorliegende andere Interpretationen zum Text berücksichtigen. Zugleich sollen sie in diesem Rahmen etwas Neues bieten. Interpretationen sind nie abgeschlossen, weil immer ein weiterer, neuer Aspekt gefunden werden kann. Unterschiedliche Interpretationen sind gleichwertig, wenn sie im Rahmen des zugrundegelegten Ansatzes die genannten Kriterien erfüllen. Wenngleich die genannten Punkte kein Prüfverfahren mit objektiver Strenge erzeugen, bieten sie doch Maßstäbe zur Beurteilung von Interpretationen. Diese Maßstäbe haben sich im Laufe der Zeit bewährt – auch wenn sie die Kritik an der Subjektivität von Interpretationen nicht ganz entkräften können. Die Instanz, die über Akzeptanz oder Zurückweisung von Interpretationen entscheidet, ist die disziplinäre Gemeinschaft. Eine Interpretation setzt sich durch, wenn sie für eine möglichst große Gruppe nachvollziehbar, ihre Ergebnisse also offensichtlich oder überzeugend sind. (Baasner, 103) 17. Noch zu Beginn der siebziger Jahre schien es erstrebenswert, die auf unterschiedliche Weise hermeneutisch fundierten Methoden der Literaturwissenschaft mit den an Saussure anschließenden strukturalistischen und textlinguistischen Methoden zu einem neuen textwissenschaftlichen Paradigma zu verbinden. Dass die Kluft zwischen deskriptiven strukturalistischen und interpretierenden hermeneutischen Methoden dennoch nicht überbrückt wurde, lag nicht allein am Ausbleiben eines konsensfähigen Gesamtkonzepts. Denn inzwischen hatten die profiliertesten Vertreter des Strukturalismus in Frankreich den ‘Szientismus’ ihrer bisherigen Arbeiten selbst kritisiert und zugleich die wissenschaftstheoretischen Prämissen geistes- bzw. humanwissenschaftlicher Verfahren auf eine Weise verworfen, die statt einer Synthese eine radikale antihermeneutische Umorientierung auch in den Literaturwissenschaften nahe legte. Diese ‘poststrukturalistische’ Kritik richtete sich nicht mehr gegen einzelne Methoden und deren Grenzen, sondern stellte die Gegenstände und Untersuchungseinheiten bisheriger Forschung selbst in Frage: den Text als kohärentes, entzifferbares Werk, den Autor als Schöpfer von Sinn und die Geschichte als totalisierbaren, sinnhaften Prozess. Sie setzten dagegen: die Unlesbarkeit der Texte, das Verschwinden des Subjekts und die Textualität der Geschichte. Nicht, welche ‘Bedeutung’ Texte, Subjekte und Geschichte haben, sollte untersucht werden, sondern auf welche Weise sie konstituiert werden und welche heterogenen Praktiken sie bündeln. (Bogdal, 139f.) 18. Die poststrukturalistische Behauptung, dass die Hermeneutik die Antwort überforderter Individuen auf die seit Ende des 18. Jahrhunderts rapide anwachsende Sinnproduktion gewesen sei, lässt sich historisch wohl kaum belegen. Zwar kann man Schleiermachers Hermeneutik als Antwort auf gesellschaftlichen Komplexitätszuwachs sehen, jedoch eher im Sinne von Diskursvernetzungen und Wissensverknüpfungen der Moderne. Die klassisch-romantische Kunst wird erst durch den Symbolbegriff und eine Ästhetik des sinnlichen Scheinens der Idee wieder ‘lesbar’, allerdings nur für jene, die über dieses Wissen verfügen. Texte und mit ihnen die Literatur gelten im Poststrukturalismus nicht länger als Teil eines homogenen Kultur, die auf intersubjektive Verständigung zielt. Für den späten Roland Barthes etwa erscheint das ‘Wort’ als zeitlich unabgeschlossener Prozess, dessen Bedeutung mit jedem neuen Wort verschoben wird und niemals im hermeneutischen Sinn zu verstehen ist. Die Lektüre, die den unendlichen Text weiterschreibt, erwächst einem Begehren, das gerade durch den Mangel an Bedeutung ausgelöst wird. Der Text verbirgt nicht in der Tiefe einen Sinn, den der Interpret im Nachvollzug aufzudecken hätte; er ist eine unendliche Bewegung, die der Leser für einen Moment, den der Deutung nämlich, anhält. (Bogdal, 148f.) 19. Es zeichnen sich drei ernsthafte alternative Ansätze ab, die auf unterschiedliche Weise die hermeneutischen Selbstverständlichkeiten in Frage stellen. (1) Historische Diskursanalyse. Foucaults diskursanalytische Arbeiten sind, methodisch betrachtet, ein Gegenmodell zu Gadamers hermeneutischem Dialog des Interpreten mit dem Text. Genau dessen konstituierendem Moment, der Autonomie des verstehenden Subjekts und des verstandenen Werks, gilt die Kritik – und damit der Vorstellung, dass sich hinter einem Text, der uns nur in seiner ‘Materialität’ gegenwärtig ist, immer ein Subjekt verberge, dessen ursprüngliche Aussage seine eigentliche Bedeutung ausmache. Aus der Vorgehensweise der Diskursanalyse [vgl. die zugehörige Kompakt-Einführung] ergeben sich gravierende Einwände gegen hermeneutische Selbstverständlichkeiten. Zunächst sind das Werk und sein Autor nicht mehr unbefragt Ausgangs- und Endpunkt der Interpretation. Sie werden zu ‘Elementen’ größerer synchroner und diachroner Einheiten. Texte werden radikal auf ihre ‘Materialität’ reduziert, also von Selbst- und Fremdzuschreibungen und damit der Interpretation getrennt. Foucault betrachtet den Autor nicht als Subjekt der Aussage, dessen Intention und deren Inhalt zu untersuchen wären, sondern als ‘Aussagesubjekt’, das erst durch bestimmte Praktiken als ein ‘Subjekt’ konstituiert wird, das sich dann in der Position eines Aussagenden befindet. Bedeutung haben Texte aus dieser Sicht nicht von ‘innen’; sie wird innerhalb kultureller Entwicklungen und vor allem durch Machtbeziehungen von ‘außen’ je historisch hergestellt. (2) Dekonstruktion. Die von Gadamer geprägte literaturwissenschaftliche Hermeneutik ist einem Modell der Repräsentation von Sprache verpflichtet. Ausdruck, Bedeutung und Wirklichkeitsbezug eines Textes entspringen nach diesem Konzept nicht dem System der Zeichen, sondern einem vorgängigen Bewusstsein; Zeichen bilden das Denken eines Subjekts oder die Realität ab. Dass die Dichtung dem Text vorangeht und ihren Sinn in ihm festschreibt, hat Gadamer immer wieder betont. Derrida und der literaturwissenschaftliche Dekonstruktivismus lehnen die Vorstellung einer vorangehenden und sich durch die Zeit bewahrenden Bedeutung als ‘Metaphysik’ ab. Für sie sind ‘Zeichen’ im Sinne einer konsequent strukturalistischen Lesart Saussures die Gegenwart eines ‘Abwesenden’, Lese-Zeichen, die einzig auf die Differenz zu anderen Zeichen eines Systems verweisen. Die Zeichen gehen der Bedeutung voraus, die erst durch die Lektüre hergestellt werden muss. Aber auch die Lektüre vermag die im System präsente Bedeutung nicht zu erreichen, weil sie immer nachträglich ist. Jede Lektüre ist einmalig und wird durch eine neue Lektüre revidiert. Wenn Bedeutung im System der Sprache gründet, dann kann es auch keine kohärente Weitergabe vom Autor über den Text zum Leser geben, welche die hermeneutische Interpretation gegen Verlust zu schützen hätte. Ein Text, der weder seinen Sinn in sich selber hat noch eine Bedeutung, die ihm vorausgeht, kann auch nicht auf einen authentischen oder ursprünglichen Sinn hin entziffert werden. Dekonstruktion unterstellt die interne Heterogenität von Texten, wie die Hermeneutik eine (letztlich Homogenität garantierende) Tiefendimension annimmt. (3) Konstruktivistische Ansätze. Die antihermeneutische Haltung des empirischen Konstruktivismus und der von der Systemtheorie geprägten Literaturwissenschaft erwächst aus ihrer Grundorientierung am naturwissenschaftlichen Paradigma. Dem vagen geisteswissenschaftlichen Interpretieren möchte diese Richtung empirisch fundierte Textdeskriptionen entgegensetzen. Während die literaturwissenschaftliche Hermeneutik Texten als ‘Werken’ Subjekteigenschaften zuschreibt und die interpretierenden Individuen als deutungsmächtige Instanzen anerkennt, streitet der Konstruktivismus ab, dass man (empirisch nachprüfbare) Aussagen über den Text und das verstehende Individuum treffen könne. Text und Leser seien autonome, ‘geschlossene’ Systeme, zu denen wir keinen unmittelbaren Zugang haben und die wir deshalb im emphatischen Sinn der Hermeneutik nicht ‘verstehen’. Zu untersuchen ist daher einzig das uns zugängliche Material: die vielfältigen ‘Interpretationen’, die Individuen äußern oder die in einer Kultur oder Gesellschaft kommuniziert werden. Den literarischen Text sieht der Konstruktivismus als einen Reiz oder Impuls. Dieser löst eine interpretierende Aktivität des Subjekts aus. Was eine konstruktivistische Literaturwissenschaft aufdeckt, sind „primär die Eigenschaften von Beobachtern, nicht die der ‘Gegenstände’, der ‘Texte’. (Scheffer 1993, 145) Sie ist an den kognitiven Vorgängen interessiert, durch die ein Leser Sinn-Welten aufbaut, ‘konstruiert’. Mit dem Poststrukturalismus teilt der Konstruktivismus die Voraussetzung, dass Texte keine in ihnen selbst liegende Bedeutung haben. Als ‘Zuschreibungen’ von Individuen sind die Beschreibungsvarianten so unterschiedlich wie ihre ‘Erzeuger’. Der Konstruktivismus reduziert den literarischen Text auf eine Funktion im Wahrnehmungs- und Verstehensprozess. Daraus folgt eine Vernachlässigung traditioneller literaturwissenschaftlicher Arbeitsfelder und eine Neuorientierung in Richtung einer empirischen Medienwissenschaft. (Bogdal, 149ff.) 20. Gespräche zwischen Hermeneutik und antihermeneutischen Positionen sind extrem schwierig, da die genannten Parteien von völlig verschiedenen philosophischen und sprachtheoretischen Voraussetzungen ausgehen. (Rusterholz 2, 158) 21. Die Rezeption des Russischen Formalismus und des Strukturalismus führte zu einer linguistischen Wende nicht nur der Sprach-, sondern auch der Literaturwissenschaft. So setzt z.B. Klaus Baumgärtner der subjektiven Kunst hermeneutischer Werkinterpretation seine objektive, strukturalistische Formanalyse des Textes gegenüber, die dessen Funktion im sozialen System erforscht. Fernziele dieses Konzepts sind die elektronische Übersetzung dichterischer Texte und eine Poetik, die es erlauben würde, Texte mit exakt bestimmbaren Wirkungen auf die Leser zu schreiben; der Text würde so zur eindeutigen Botschaft mit kalkulierbarer Wirkung. Titzmann will den Pluralismus der Interpretationen durch strukturale Analysen der Rekonstruktion des Einzeltexts und der ihm zugeordneten Kontexte ablösen. (>Kritik) Der literarische Text wird zum Katalog eines Systems von Beschreibungssätzen, die den Text auf kulturelles Durchschnittswissen reduzieren. Vor diesem Hintergrund ist der Radikalismus poststrukturalistischer Strömungen erklärbar. (Rusterholz 2, 159f.) 22. Im Post- oder Neostrukturalismus wird Saussures These, die Sprache sei eine Form differentieller Relationen, radikalisiert. Dadurch werden Begriffe wie „Text“ oder „Kunstwerk“, sofern sie als objektiv rekonstruierbare Substanzen gedacht werden, unmöglich. (Rusterholz 2, 161) 23. Nicht nur das Denken von Hermeneutik und ‘Anti-Hermeneutik’ ist grundsätzlich verschieden, sondern auch die Objektkonstitution. Traditionelle Hermeneutik rekonstruiert ein Textobjekt im Sinne des Autors. An der Rezeptionsästhetik orientierte Hermeneutik beschreibt die Appellstruktur der Texte, die zwischen Text und Leser vermittelt. Derrida analysiert die Suche der Signifikanten nach dem nie Erreichbaren, aber doch immer wieder ersehnten und immer wieder aufgeschobenen Signifikat. De Man reflektiert die kognitive Struktur unauflöslich widersprüchlicher Lektüre. Kein Wunder, dass schließlich Literaturtheorien konzipiert werden, die entweder den Text als reine Projektion des Lesers betrachten oder aber, um der Annahme vollständiger Anarchie und Willkür der Literaturbetrachtung zu entgehen, die These vertreten, das Subjekt der Zeicheninterpretation, die die Deutungen bestimmende Größe, sei die Sozialisationsformen prägende Gemeinschaft, also eine letztlich politische Macht. (Rusterholz 2, 170) 24. Es gibt aber auch einen gemeinsamen Nenner beider Parteien. Die Hermeneutik im Sinne Gadamers und der Poststrukturalismus im Sinne Derridas distanzieren sich vom Repräsentationsmodell der Sprache und von den einfachen sprach- und texttheoretischen Modellen. Derrida und Gadamer lehnen die Vorstellung von Codes, die die identische Zeichenreproduktion, die einen einfachen Bedeutungstransport erlauben, entschieden ab. Diese Modelle erfassen Textsorten und kommunikative Funktionen praktischer Alltagsrede und mechanisierbarer Abläufe von Handlungen. Differenzierteres Verstehen, wie es mitmenschliches Verstehen oder das Verstehen literarischer Texte erfordert, erfassen sie deshalb nicht, weil das Funktionieren dieser Modelle die restlose Konditionierung und Konventionalisierung von Sprache voraussetzt. Sprache reduziert sich dann notwendig auf ‘leere Rede’, die nur wiederholt, was schon einmal viele gesagt haben. Literarische Texte z.B. Mallarmés oder Celans sagen Unsagbares, enthalten aporetische Aussagen, das heißt sie widersprechen sich selbst, verweigern rationalisierbaren Sinn, um doch durch Klang und Rhythmus auf ästhetisches Aussagepotential zu verweisen, das sich nicht nur eindeutiger Bedeutungsrekonstruktion, sondern auch hermeneutischer Bedeutungs- und Sinnkonstitution entzieht. (Rusterholz 2, 175f.) 25. Die Frage, welchen Sinn der hermeneutische Zirkel für die Literaturwissenschaft haben könne, ist häufig gestellt worden. Man kann fragen, ob es sich hierbei überhaupt um einen methodisch vollziehbaren Vorgang handelt – oder um etwas, das wir sowieso schon immer irgendwie tun. Diese zweite Deutung hat insbesondere Heidegger nahegelegt, indem er den Zirkel zu einer Grundstruktur des Daseins erklärte. Aus analytischer Perspektive dagegen erscheint der Zirkel als ein methodisches Quidproquo: als die Ersetzung des einen durch das andere, wobei man beides (eigentlich) nicht hat. Man hat deshalb auch versucht, den hermeneutischen Zirkel aufzulösen bzw. analytisch umzuformulieren. Das Ganze wird z.B. von Göttner-Abendroth als Gesetzeshypothese aufgefasst, unter die das einzelne zu subsumieren sei. Was ist aus hermeneutischer Perspektive als das Ganze eines Romans, z.B. des Mann ohne Eigenschaften, anzusehen? Wir würden antworten, dieses Ganze sei nicht anders als in verschiedenen Interpretationen da, und wären mit dieser Antwort offenbar erneut in einen hermeneutischen Zirkel verstrickt. (Japp, 588) 26. Die Zirkelstruktur ist für die Hermeneutik typisch. Umgekehrt ist es für manche formalisierende Methoden typisch, dass sie ihre Option auf Rationalität und Genauigkeit durch einen Verzicht auf Ganzheitsentwürfe (ganzheitliche Interpretationen) durchzusetzen versuchen. Das ist etwa in Roland Barthes’ Balzac-Lektüre der Fall. Hier wird zwar ein ganzer Text (Sarrasine) gedeutet – und zwar äußerst minutiös, nämlich Satz für Satz und Wort und Wort, aber gerade durch dieses minutiöse Verfahren zerfällt der Text in lauter einzelne Teile, die nacheinander kommentiert, aber nicht zusammen gedeutet werden. (Japp, 589) 27. Paul Valéry kritisiert nicht nur die spezifisch neuzeitliche Überschätzung des Autors, er wendet sich auch gegen die wesentlich ältere Idee, dass es einen wirklichen Sinn eines Textes gebe. Diesen Sinn hatte Sokrates (im Ion) von den Wörtern unterschieden und ihn mit der ‘Meinung’ des Autors identifiziert. Diese Position können wir als hermeneutischen Essentialismus bezeichnen. Wenn Valéry dagegen an diesen Sinn nicht mehr ‘glaubt’, so können wir von der Position eines hermeneutischen Nihilismus sprechen. Im Anschluss an Valéry gibt es nunmehr unendlich viele mögliche Interpretationen eines Textes; aber es gibt keine Instanz mehr, mit der wir entscheiden könnten, welche Interpretation die bessere, geschweige denn die richtige ist. Zwischen diesen Extremen entfalten sich die hermeneutischen ‘Systeme’, die alle auf die eine oder andere Weise auf der Suche nach dem Sinn sind. (Japp, 584) 28. Lange Zeit galt der hermeneutische Imperativ des Verstehens innerhalb der historischen Geisteswissenschaften als eine Selbstverständlichkeit: So wie es der Theologie um die rechte Auslegung der Heiligen Schrift und der Jurisprudenz um die rechte Auslegung der Gesetze geht, so schien es der Literaturwissenschaft um die rechte Auslegung literarischer Texte zu gehen. Erst mit dem „linguistic turn“ kristallisierte sich auch die Gestalt einer neuen Literaturtheorie heraus, die sich von den Imperativen der Hermeneutik weitgehend emanzipiert. Von der hermeneutischen Kategorie des Sinns über die strukturalistische Einsicht in die Abhängigkeit der sprachlichen Bedeutung von der Form des Zeichens bis zur vollständigen Auflösung des Sinns in den Begriffen der sprachlichen Differenz, der Macht des Diskurses oder den Aufschreibesystemen technischer Medien reichen die heterogenen Ansätze der Literaturtheorie. (Geisenhanslüke, 142) |