2 Rezeptions- und Wirkungsästhetik

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2.02 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze

1. „Wirkungsästhetik“ ist die kunsttheoretische Unternehmung, in deren Mittelpunkt die Fragen stehen, welche Wirkung Kunstwerke bei einem Rezipienten hervorrufen und auf welche Weise das geschieht. Dabei kann man nach Arten von Wirkungen unterscheiden: kognitive, moralisch-praktische, emotionale Wirkungen.

Die Wirkungsästhetik hat eine beachtliche Tradition. Besonders die Tragödie war immer ein Gegenstand wirkungsästhetischer Überlegungen, etwa wenn Aristoteles in seiner Poetik als Zweck der Tragödie festlegt, sie solle Erschrecken und Anteilnahme hervorrufen und dadurch die Seele des Zuschauers reinigen; als wirkungsästhetisch gilt vielfach auch Kants Bestimmung des ästhetischen Urteils als interesselosen Wohlgefallens, woraus man ableiten kann, dass es die spezifisch ästhetische Wirkung eines Kunstwerks sei, die Empfindung interesselosen Wohlgefallens zu erregen.

Angewandte Wirkungsästhetik dagegen, ein System von Anweisungen zum zielgerichteten und wirkungsoptimierten Einsatz sprachlicher Mittel in der Rede, stellt etwa die Rhetorik dar. Unter einer literaturtheoretisch grundlegenden „Wirkungsästhetik“ werden in jüngerer Zeit aber vor allem die Modelle verstanden, die der Konstanzer Anglist Wolfgang Iser vorgelegt hat. (Richter, 516)

2. Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik und Rezeptionsforschung befasst sich mit der Aufnahme, im häufigsten Fall mit der Lektüre von Texten. Dabei fragt man nach den Bedingungen und Voraussetzungen, nach den Formen und nach den Wirkungen und Folgen der Rezeption.

Grundlegend für alle Richtungen der Rezeptionstheorie scheint die Auffassung, dass die Bedeutung eines Textes nicht einfach in ihm enthalten ist wie etwa ein bestimmter Stoff in einer chemischen Verbindung, der gleich von wem und unter welchen Umständen mithilfe einer einschlägigen Analyseprozedur herausgelöst werden kann. Vielmehr werde die Bedeutung immer erst während der Rezeption gebildet, und zwar im Wechselspiel zwischen dem Text und der Aktivität des Lesers. Sowohl dieses Entstehen der individuellen Auffassung eines Textes als auch das empirisch greifbare Ergebnis werden häufig „Realisation“ genannt.

In der Diskussion ist umstritten: (1) ob es einen leserunabhängigen Textsinn überhaupt gibt; (2) wir man sich das Zusammenwirken von Textwirkung und Leseraktivität vorstellen könne; (3) ob und gegebenenfalls auf welche Weise die im Text beschlossenen und von Lesern erzeugten Anteile in der Rezeption bestimmt werden können; (4) in welchem Sinn von einer adäquaten Rezeption zu sprechen sei. (Richter, 516f.)

3. Die Rezeptionsforschung entfaltete sich stürmisch gegen Ende der sechziger Jahre, hat aber in die dreißiger Jahre zurückreichende vielfältige Wurzeln vor allem im Umkreis des Prager Strukturalismus, in der phänomenologischen Literaturtheorie Roman Ingardens und der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit ihrer These von der subjektiven Standortgebundenheit alles Verstehens.

Dass man sich gegen Ende der sechziger Jahre enthusiastisch der Rolle des Lesers innerhalb der Kommunikationsstruktur Autor – Text – Leser zuwandte, hatte vielfältige Ursachen: das Ungenügen an der tendenziell geschichtslosen Auslegungspraxis der ‘textimmanenten’ Analyse, die objektive Gültigkeit beansprucht habe, wo doch die Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit verschiedener konkurrierender Deutungen ebenso offensichtlich sei wie die zeitbefangene Subjektivität der Meister der ‘Kunst der Interpretation’.

Die Unzufriedenheit mit dieser Art der Textauslegung traf nun zusammen mit der Forderung nach gesellschaftlicher Emanzipation und Modernisierung, nach Teilhabe an Entscheidungsprozessen – wie in der Gesellschaft und in der Universität so auch in der Beschäftigung mit Texten. Damit verbunden war die Forderung, die als dürftig empfundenen wissenschaftstheoretischen Fundamente der Literaturwissenschaft auf eine sichere, auch ideologiekritisch geprüfte Basis zu stellen und die Rolle des Lesers im Umgang mit Texten aller Art, nicht nur denen eines weltliterarischen Kanons, methodologisch zu reflektieren. (Richter, 517f.)

4. Dass Textauslegung einem historischen Wandel unterlag, dass verschiedene Leser, auch gleich kompetente Leser, die gleichen Texte unter ganz verschiedenen Bedingungen ganz verschieden gelesen und gedeutet hatten, wurde zunehmend als Herausforderung empfunden. 1976 trat Harald Weinrich mit Für eine Literaturgeschichte des Lesers hervor, im selben Jahr erregte Hans Robert Jauß Aufsehen mit seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz wurde nun ein Zentrum rezeptionsästhetischer Studien; 1967 wurde neben Jauß auch Wolfgang Iser dorthin berufen.

Seit Ende der sechziger Jahre hatte sich die Beschäftigung mit der Rezeption von Texten rasch ausdifferenziert. Neben Isers Bemühungen und die hermeneutische Rezeptionsästhetik von  Jauß traten Einzeluntersuchungen zur Rezeption- und Wirkungsgeschichte, z.B. von Mandelkow und Ehrisman. Es bildete sich eine „Empirische Literaturwissenschaft“ heraus, deren Hauptvertreter in Deutschland der ‘radikale Konstruktivist’ Siegfried J. Schmidt und der ‘gemäßigte Konstruktivist’ Norbert Groeben sind. Empirische Rezeptionsforschung arbeitet vor allem mit Methoden, die in der Sozialforschung und in der empirischen Psychologie entwickelt wurden. Groeben versucht dabei auf eine hermeneutisch gewonnene Bedeutungsvorgabe, die dann als ‘adäquate’ Realisation die Funktion einer Interpretationsnorm hätte, völlig zu verzichten und Aussagen über die Bedeutung von Texten sowie Aufschluss über das Zustandekommen der individuellen Deutungen allein aus den empirisch gewonnenen Daten der befragten Rezipienten zu gewinnen. Das Verhältnis von Hermeneutikern und Empirikern zueinander ist vielfach von Skepsis, Argwohn, ja Hochmut geprägt. (Richter, 518f.)

5. Weitgehend unabhängig von der literaturtheoretischen Diskussion nahm, vor allem in den USA, die kognitive Psychologie und mit ihr die empirisch-psychologische Erforschung des Lesens (nicht nur, aber auch von literarischen Texten) und der Aufnahme und Verarbeitung des Gelesenen einen beachtlichen Aufschwung.

Eher zögernd kam seit Ende der siebziger Jahre die Diskussion rezeptionsästhetischer Ideen in den USA in Gang. Beachtliche Verbreitung fanden dann namentlich Isers Entwürfe, die vielfach in das Interpretationssystem des „New Criticism“ eingepasst wurden. Unabhängig davon hatte es in den USA bereits eine intensive Debatte um die Einbeziehung von Leserreaktionen in die Textauslegung gegeben, die unter dem Stichwort „reader-response-criticism“ zusammengefasst wurden. Sie sind teils behavioristisch, teils psychoanalytisch (Norman Lesser, Norman N. Holland) orientiert und interessieren sich in jedem Fall für die individuelle, insbesondere die affektive Leserreaktion. (Richter, 519f.)

6. Als 1976 Isers Der Akt des Lesens erschien, hatte die Rezeptionsästhetik den Höhepunkt ihrer akademischen Wirkung erreicht. Rezeptionsästhetische Ideen wurden in allen Philologien, im Westen wie in der DDR, lebhaft diskutiert. Wie keine andere Theorie hatte die Rezeptionsästhetik im Zeichen einer auf Emanzipation gestimmten Gesellschafts- und Bildungspolitik unmittelbar Eingang in die Literaturdidaktik gefunden, und ihr Einfluss hat hier bis in die neunziger Jahre noch zugenommen, wie sich an den schulischen Rahmenrichtlinien vieler Bundesländer ablesen lässt. Zentral ist hier die Ergänzung, manchmal auch Verdrängung begriffsbestimmter Textanalyse durch die Gestaltung der individuellen Lektüreerfahrung mit Hilfe „produktionsorientierter“ Verfahren: Durch das Umschreiben literarischer Texte (etwa das Weiterschreiben von Textanfängen) lasse sich, so hofft man, sowohl die persönliche Erfahrung des Lesers in die Beschäftigung mit literarischen Texten besser einbeziehen als auch ein angemessenes Verständnis für die Aussage und Form solcher Texte fördern. (Richter, 520)

7. Demgegenüber ist die Rezeptionsästhetik in der universitären Literaturwissenschaft seit Ende der siebziger Jahre zumindest in den Hintergrund getreten. Eine Ursache dafür dürfte sein, dass einige ihrer Ideen in das Grundrepertoire literaturwissenschaftlichen Arbeitens eingegangen sind und damit ihre Auffälligkeit verloren haben. Die genaue Erforschung realer Leseprozesse im Umkreis sozial-, medien- und geschlechtsspezifischer Fragestellungen hat in den vergangenen Jahren überhaupt erst eingesetzt. Ein weiterer Grund ist aber wohl auch, dass sich viele Ideen nicht genügend operationalisieren ließen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass es gerade Iser seinen Lesern nicht eben leicht macht. Der Akt des Lesens ist in der Darstellung weder sehr bündig noch sehr klar. Zwar erweckt der enorme begriffliche Aufwand den Eindruck großer Genauigkeit, bei schärferem Hinsehen zeigt sich aber oft eine eigentümliche Vagheit. (Richter, 520f.)

8. Wolfgang Isers wirkungsästhetisches Konzept. Die Rezeptionsforschung setzt beim Rezipienten und beim Resultat eines Lesevorgangs an, sammelt Daten und Zeugnisse darüber, wie Texte tatsächlich aufgenommen und verarbeitet wurden und gewirkt haben; sie fragt nach den (historischen, sozialen, psychischen, geschlechtsspezifischen usw.) Bedingungen und Folgen der dokumentierten Rezeption. Um solche tatsächlichen Wirkungen aber geht es Iser nicht; er entwickelt ein abstraktes Modell des literarischen Textes als eines „Wirkungspotential[s], dessen Strukturen Verarbeitungen in Gang setzen und bis zu einem gewissen Grade kontrollieren (Iser 1984, 1). Iser verwendet die Ausdrücke ‘literarisch’ und ‘fiktional’ offenbar synonym und interessiert sich für die spezifischen Funktionen, die in ihrem Charakter als fiktionalen gebilden begründet sind. (Richter, 521f.)

9. Isers Thema lässt sich in zwei Fragen formulieren: (1) Wir sind fiktionale Texte beschaffen, und welche Funktion, d.h. welches Wirkungspotential resultiert aus dieser Beschaffenheit? (2) Wie realisiert sich diese Funktion beim Lesen?

In der Frage, wie man sich die Sinnbildung während des Lesens zu denken hätte und welche Rolle dabei der Text, welche der Leser spielen, schlägt Iser einen mittleren Weg ein: Weder ist der Sinn eines Textes vollständig in ihm enthalten und lässt sich durch sachgerechtes Verstehen gleichsam entnehmen (objektivistische Position), noch ist der Text lediglich eine Projektionsfläche für beliebige individuelle Bedeutungszuweisungen (subjektivistische Position). Vielmehr sind fiktionale Texte gleichzeitig so beschaffen, dass sie zwar immer neue und gleich angemessene Realisationen erlauben, zugleich aber doch nicht alle Realisationsebenen als gleichberechtigt akzeptiert werden müssen. Denn fiktionale Texte sind in mancher Hinsicht bestimmt, gleichzeitig jedoch in anderer Hinsicht unbestimmt. Dieser Zentralgedanke von Isers Texttheorie ist in mehrere Aspekte aufgefächert. Zu unterscheiden sind die pragmatische und die semantische Unbestimmtheit fiktionaler Texte. (Richter, 522)

10. Ihrem kommunikativen Status nach unterscheidet Iser fiktionale von nicht-fiktionalen Texten dadurch, dass er sie nicht als Teil einer realen Kommunikationssituation zwischen einem bestimmten Absender und einem bestimmten Adressaten und mit einem bestimmten Zweck ansieht. Vielmehr sind sie entpragmatisiert, und das ist die Bedingung dafür, dass sie an die Erfahrungswirklichkeit vieler verschiedener Leser auch unterschiedlicher Epochen anschließbar sind.

Zur pragmatischen Unbestimmtheit tritt die semantische. Ein fiktionaler Text stellt einen ästhetischen Gegenstand dar, der niemals mit bereits Existierendem identisch ist und ausschließlich mit Hilfe dieses Textes konstituiert wird. Der ästhetische Gegenstand und seine Konstituierung ist aber vom Text nicht vollständig determiniert; er weist – in von Text zu Text variierendem Maße – Momente von Unbestimmtheit auf. Zu deren Behebung bei der Lektüre kann der Leser von Gegebenheiten des Textes ausgehen, ist aber bei der Ausgestaltung des im Text Angelegten unausweichlich auch auf seine Subjektivität angewiesen. (Richter, 522f.)

11. Den Textaufbau beschreibt Iser mit Hilfe der Begriffspaare Selektion und Kombination bzw. Repertoire und Strategien – wohlbekannte Begriffe aus dem Strukturalismus, die Iser aber in einem eigentümlichen Sinn verwendet. Während in der strukturalen Linguistik als Elemente von Texten vor allem linguistisch definierte Einheiten – Silben, Wörter, Sätze – angesehen werden, meint Iser mit Repertoireelementen „das selektierte Material, durch das der Text auf die Systeme seiner Umwelt bezogen ist“ (Iser 1984, 143). In Anlehnung an die Systemtheorie Luhmanns begreift Iser als die Bezugsrealität fiktionaler Texte nicht ‘die Wirklichkeit’ schlechthin, sondern immer nur Wirklichkeitsverarbeitungen, „Interpretationssysteme“ (Iser 1988, 28). Diese würden überhaupt erst zugänglich, indem sie in Sprache gefasst würden.

Literarische Texte können sich auf andere literarische Texte beziehen, die genauso wie die Interpretationssystems usw. im Text „eingekapselt“ seien. In jedem Fall konstituiert sich Isers „Textrepertoire“ aus abstrakten und interpretationsintensiven Elementen, deren Identifikation interpretativer Anstrengung und sprachlich-kulturellen Wissens bedarf. (Richter, 523f.)

12. Die Anordnung der Repertoireelemente ist Aufgabe der Textstrategien. Sie sind verantwortlich für die „textimmanente Organisation des Repertoires“ (ebd., 144) auf allen Textebenen, z.B. für die Handlungsfügung, vor allem aber für die gedankliche Perspektivierung der Repertoire-Elemente. Zugleich zeichnen sie dadurch „jene Bahnen [vor], durch die die Vorstellungstätigkeit gelenkt und damit der ästhetische Gegenstand im Rezipienten Bewusstsein hervorgebracht werden kann“ (ebd., 154). Im Bereich erzählender Texte entspricht dem teilweise der herkömmliche Begriff der Erzähltechnik.

Wenn nun im literarischen Text die ausgewählten Systembruchstücke in einen neuen Zusammenhang eintreten, werden die Grenzen deutlich, die die einzelnen Sinnsysteme bei der gedanklichen Ordnung der Wirklichkeit haben. Die Verpflanzung in den neuen Kontext eines literarischen Werkes erlaubt die „Bilanzierung der Defizite“ der herrschenden Systeme – das ist Isers zentrale These zur Funktion von Literatur.

Im Gleichnis des Hausbaus entsprächen dem Textrepertoire die Bauelemente und den Textstrategien der Bauplan. Dieser Bauplan regelt den Textaufbau und die Vorstellungsbildung im Bewusstsein des Lesers. Es ist gleichsam die Baustelle, auf der – vermittels der kognitiven Operationen, die das Lesen begleiten – der ästhetische Gegenstand, den der fiktionale Text darstellt, überhaupt erst entsteht. Hierbei geht es – und das ist ein wesentlicher Gedanke Isers – nicht nur um das Ergebnis, sondern genauso um den Rezeptionsprozess selbst. Ja, offenbar ist für die ästhetische Erfahrung das, was ein Leser am Ende einer Lektüre in Sätzen festhalten kann, sogar weniger entscheidend als das, was während des Lesens in und mit ihm geschieht. (Richter, 524f.)

13. Iser setzt dabei zwei Dinge voraus, die vielleicht als anthropologische Konstanten anzusehen sind: Jede Informationsaufnahme, also auch jede Lektüre, sei von vornherein von dem Bestreben begleitet, sie in einen individuell befriedigenden Sinnzusammenhang zu bringen. Zum anderen verfüge das menschliche Bewusstsein über die Fähigkeit zu antizipierender Hypothesenbildung und rückwirkender Korrektur der ursprünglichen Erwartung.

Die bei fortschreitender Lektüre entstehenden einzelnen Vorstellungssegmente werden, entsprechend dem fortschreitenden Auftauchen und Verschwinden der Textelemente, durch ständige vorausgreifende Hypothesenbildung und ständige Bestätigung oder Revision der ursprünglichen Erwartung zueinander in Beziehung gesetzt, nämlich zu einem als stimmig empfundenen Ganzen verknüpft, einer „konsistenten Interpretation“ (Iser 1984, 194).

Die Sinnbildung vollzieht sich zumal bei längeren Texten auf der Basis einer sehr großen Zahl zu verknüpfender Vorstellungssegmente und auf mehreren Ebenen. Im Roman oder im Drama gilt es etwa auf der Ebene der Handlung, den ‘plot’ zu rekonstruieren. Dabei unterstellt Iser, dass sich Leser jedoch mit der Rekonstruktion der Handlung zumeist nicht zufrieden geben, sondern sich (wie er selbst) letztlich vor allem für die Ebene der Erkenntnis und Beurteilung der Wirklichkeit interessieren. (Richter, 525)

14. In diesem Lesemodell spielt einer der meistzitierten und schwierigsten Begriffe Isers eine wichtige Rolle: der des impliziten Lesers. Was damit nicht gemeint ist, ist leichter zu sagen, als eine positive Bestimmung zu treffen. Der implizite Leser ist nicht der Leser, der häufig in literarischen Texten direkt angesprochen wird – das wäre etwa ein fiktiver Leser, analog zum Erzähler. Der implizite Leser ist auch weder der Leser, den ein Autor im Blick hat, wenn er seine Texte schreibt – das wäre etwa der historisch zu lokalisierende Adressat oder der intendierte Leser –, noch der reale empirische Leser. Der implizite Leser ist aber auch nicht ein fiktiver idealer Leser, der bei seiner Lektüre alles, was der Text an Bedeutungsangeboten enthält, vollständig realisieren könnte. Er ist überhaupt kein Leser – die personifizierende Redeweise ist leider irreführend. Der implizite Leser ist vielmehr die „Wirkungsstruktur des Textes“ (ebd., 67), und zwar einerseits als Eigenschaft der Texte, nämlich als „Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet“ (ebd., 60), und andererseits (nicht sehr klar) als der „Übertragungsvorgang, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen“ (ebd. , 67). Es scheint, als bezeichne „impliziter Leser“ sowohl die Gesamtheit aller gedanklichen Operationen, die ein Text für eine adäquate Rezeption vom Leser fordert, als auch die entsprechenden kognitiven Operationen und die textlichen Grundlagen selbst. Das Konzept des impliziten Lesers ist ein allgemeiner Beschreibungsrahmen für die bewusstseinsmäßige Form, in der sich alle individuellen Realisierungen aller fiktionalen Texte vollziehen. (Richter, 526)

15. Iser nimmt an, dass fiktionale Texte nicht nur in pragmatischer Hinsicht unbestimmt sind, sondern auch – und vor allem – in semantischer: Vielfach ist in ihnen etwas ausgespart, wodurch der Leser angeregt wird, seine Subjektivität, sein Kombinationsvermögen, seine Vorstellungskraft, sein Weltwissen, seine Wertvorstellungen ins Spiel zu bringen. Dabei unterscheidet Iser „Unbestimmtheitsstellen“ im engeren Sinn von „Leerstellen“ und „Negationen“, und zwar nach der Art der jeweils geforderten Leseraktivität.

Die sinnkonstituierende Aktivität des Lesers ist nach Iser am befriedigendsten, wenn der Leser die einzelnen Vorstellungssegmente selbständig aufeinander bezieht und nicht nur explizite Formulierungen nachbuchstabiert. (Richter, 527)

16. Prinzipiell sind diejenigen Leerstellen, die nur dadurch zustande kommen, dass der Leser bei der Erstlektüre noch nicht über alle Informationen des Textes verfügen konnte, beseitigt, wenn die Lektüre beendet ist. Es gibt aber auch Informationslücken, die sich selbst bei wiederholter Lektüre nicht oder nur mit einem bestimmten Grad an Wahrscheinlichkeit beseitigen lassen. Auch die gründlichste Lektüre kann nicht verbindlich klären, ob Uwe Johnson seinen Jakob Abs durch Unfall, Selbstmord oder gar Mord zu Tode kommen lässt – es bleibt bei „Mutmaßungen über Jakob“.

Außerdem werden mit abgeschlossener Erstlektüre viele Leerstellen überhaupt erst sichtbar. (Richter, 529)

17. Es bleibt Isers theoriegeschichtliches Verdienst, bewusst gemacht zu haben, dass Texte immer schon auf Leser hin orientiert sind und ihre Aktivität erzwingen. In diesem Zusammenhang haben sich eine Reihe der von Iser angebotenen Begriffe als hilfreich erwiesen, wie ‘Leserlenkung’ oder ‘Leserrolle’. Iser hat die Einsicht befördert, dass jede Sinnbildung das Resultat eines komplexen Konstruktionsprozesses im Bewusstsein des Lesers ist, und zwar vom ersten Leseschritt an. Seine Überlegungen haben gelehrt, sich die Frage, was dabei vom Text herkommen mag und was Leistung und Zutat des Lesers ist, nachdrücklicher zu stellen, so dass sie als Fehlerkorrektiv wirken konnten. Auch wird die Frage, welche – kognitiven, aber auch affektiven – Operationen Textdetails in Gang zu setzen vermögen, dank seiner Arbeit entschiedener in den Blick genommen. Und mag sich schließlich auch Isers zentraler Begriff der „Leerstelle“ in der Textanalyse als weniger tauglich erweisen als vielfach erhofft, so hilft er doch in jedem Fall, Formen und Funktionen des bedeutungsträchtigen „Fehlens von etwas“ in Texten schärfer wahrzunehmen. (Richter, 535)

18. Für die Literaturwissenschaft hatte jahrzehntelang die Tatsache im Mittelpunkt gestanden, dass Texte geschrieben werden; Produktions- und Darstellungsästhetik dominierten den wissenschaftlichen Umgang mit Literatur. Texte werden aber auch gelesen und für die Lektüre verfasst; macht nicht sogar erst die Aufnahme bei einem Publikum aus ihnen bekannte literarische Werke? Sind nicht nur die unter ihnen Klassiker, die immer wieder neue Lesergenerationen in ihren Bann ziehen?

Im Kommunikationszusammenhang, in den literarische Texte gestellt sind, ist der Leser eine wichtige Größe. Theoretische Fundierungen dieser Beobachtung haben in der Literaturwissenschaft einige Veränderungen bewirkt. Rezeptionstheorie und -forschung haben Einfluss genommen auf Werkbegriff und Interpretationsverständnis, sie haben mit der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte einen speziellen Zugriff auf die Literaturgeschichte geprägt, die Editionsphilologie informiert und in Verbindung mit literatursoziologischen und empirischen Ansätzen den Blick auf das tatsächliche Leseverhalten gelenkt. Das Interesse an Leser und Leseakt ergänzt und transformiert traditionelle Felder der Literaturwissenschaft, die Impulse der Rezeptionsperspektive sind in allen neueren Ansätzen nachzuweisen. Als selbstverständlich integrierter Bestandteil fällt sie heute vielleicht gar nicht mehr auf – 1967 aber war sie einmal als Herausforderung angetreten, mit Jauß’ Antrittsvorlesung. (Baasner, 179)

19. Jauß’ rezeptionsgeschichtlicher Vorstoß ist in verschiedener Hinsicht symptomatisch für die Neuorientierung der Literaturwissenschaft am Ende der 1960er Jahre: er fordert die Hinwendung zu einer historisierenden Perspektive, die nicht das überzeitliche literarische Werk und dessen gültige Interpretation in den Mittelpunkt stellt, sondern die wandelbaren Bedingungen seiner Aufnahme. Das Werk wird als Text in einer Kommunikationssituation verstanden. Drittens verbindet sich mit dem Rückgriff auf die Literaturtheorie vor allem der russischen Formalisten aber auch des Prager Strukturalismus der Anspruch einer wissenschaftlichen Modernisierung der Literaturbetrachtung: mit rationalen Verfahren soll über die Darstellung subjektiver Empfindungen hinausgegangen werden. Jauß plädiert so für eine entsubstantialisierte Hermeneutik, die einen intersubjektiven Bezugsrahmen für Verstehensprozesse und deren geschichtlichen Wandel annimmt, er verwirft den sinnverstehenden Zugriff auf Literatur aber keineswegs. Im Methodenspektrum positioniert Jauß sich zwischen einer bewahrenden Philologie und den radikalen Neuansätzen empirischer Literaturwissenschaft. (Baasner, 179f.)

20. Ausgangspunkt bleibt das einzelne Werk, in dem die literarischen Strukturen einer Epoche ereignishaft konkretisiert seien. Auf dieser Grundlage setzt sich Jauß mit der marxistischen Literaturtheorie und der formalistischen Schule auseinander, um die „Kluft zwischen historischer und ästhetischer Erkenntnis zu überbrücken“ (Jauß 1970, 168). Der rezeptionsgeschichtliche Werkbegriff ist zunächst negativ und metaphorisch formuliert: „Das literarische Werk [...] ist kein Monument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart. Es ist vielmehr wie eine Partitur auf die immer erneute Resonanz der Lektüre angelegt, die den Text aus der Materie der Wörter erlöst und ihn zu aktuellem Dasein bringt“ (ebd., 171f.). Die hermeneutische Dialogizität des Werks bedarf des aktiven Lesers. Damit wird der Weg eröffnet für die Legitimität verschiedener, selbst gegenläufiger Interpretationen: wird die Instanz der Sinnkonstitution nicht mehr im Werk, sondern in der Rezeption gesehen, dann ist Lektüre nicht Unterwerfung unter die Tradition, sondern immer neue Konstruktion. Die Qualität, die dieses ermöglicht, bleibt eine im Werk angelegte, dieses wird aber nicht als autoritativer, zeitloser Text verstanden. Hierin liegt eine deutliche Distanzierung von erstarrten Hermeneutikkonzepten. (Baasner, 180)

21. Jauß’ erstes Interesse gilt jedoch nicht der Struktur des Textes, sondern dem literaturgeschichtlichen Prozeß: „Geschichte der Literatur ist ein Prozess ästhetischer Rezeption und Produktion, der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den reflektierenden Kritiker und den selbst wieder produzierenden Schriftsteller vollzieht“ (ebd., 172). Der Leser, der literaturhistorische ‘dritte Stand’, soll damit als konstitutive Instanz einer neuen Literaturgeschichte eingesetzt werden.

Jauß’ Gerüst der Literaturgeschichte kennt drei Dimensionen: eine synchrone als Querschnitt zu einem bestimmten Zeitpunkt, eine diachrone als Längsschnitt über die Jahre hinweg und einen Bezug auf die allgemeine (politische wie Gesellschafts-)Geschichte. Die beiden ersten bilden Untersuchungsebenen, deren Schnittlinien über literarischen Strukturwandel Auskunft geben, die dritte bezieht sich auf die ‘lebensweltliche’ Wirkung von Literatur.

Aus einer nicht-werkzentrierten Blickrichtung kann die Gleichzeitigkeit der Rezeption Synchronität von zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Texten herstellen. In der Längsschnittbetrachtung kann an der veränderten Rezeption der Wandel ästhetischer Normen nachgezeichnet werden. In Verbindung mit der angenommenen Innovationsleistung  kommt jedoch der ersten, historischen – ‘im Augenblick des ersten Erscheinens’ sich vollziehenden – Aufnahme eines Werkes besondere Bedeutung zu. (Baasner, 180f.)

22. Die im Querschnitt offengelegten ästhetischen Systeme folgen nicht verbindungslos aufeinander. Jedem Zustand sind Vorher und Nachher als Überwundenes und potentiell ‘Erfragbares’ eingeschrieben, als gelöstes und zu lösendes ‘Problem’. Diese geschichtliche Dimension tritt erst im Vergleich mit weiteren Querschnittsanalysen als Horizontwandel deutlich hervor. Die vergleichende Rekonstruktion ästhetischer Systeme ermöglicht, das Werk in einem literarhistorischen Kontext zu sehen. Jenseits dieser Arbeit im engeren Bereich der Literatur soll aber auch die gesellschaftliche Funktion von Literatur zum Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung werden. Jauß sieht die Literaturgeschichte als eine Sondergeschichte, die zuerst aus sich selbst heraus erklärt werden muss, da sie über die Gesellschaft, in der sie entsteht, hinausweist.. Die ‘gesellschaftliche Funktion’ von Literatur ist für Jauß nicht der Stellenwert, der ihr innerhalb eines sozialen Gefüges zugewiesen wird, sondern ihre potentielle Wirkung, die utopieentfaltende Kraft des ästhetischen Erlebnisses. (Baasner, 181)

23. Kernstück des Jaußschen Entwurfs ist der Erwartungshorizont. Damit sollen „Aufnahme und Wirkung eines Werks“ in einem „objektivierbaren Bezugssystem der Erwartungen“ (ebd., 173) gefasst werden. Der Anspruch der Objektivierbarkeit ist hier das Entscheidende: ermittelt werden soll ein ‘transsubjektiver Horizont’, der vom konkreten Verständnis des einzelnen Lesers – sei er Zeitgenosse des ‘ersten Erscheinens’, späterer Leser oder rekonstruierender Literaturhistoriker – abstrahiert, die individuelle Verstehenshandlung als methodologische Grundlage jedoch beibehält.

Wo genau ist dieser Verstehenshorizont zu lokalisieren und wie ist er zu ermitteln? Idealerweise ist der Erwartungshorizont aus dem Werk selbst zu rekonstruieren. Das gilt besonders für Texte mit selbstreflexiver Konstruktion und poetologischen Passagen, z.B. solche, die literarische Konventionen aufrufen, um die zu zerstören oder zumindest zu verändern. Ein bekanntes Beispiel ist Cervantes’ Don Quichote. (Baasner, 181f.)

24. Die historische Rezeptionsforschung ist dazu übergegangen, verschiedene Facetten des Erwartungshorizonts aus Rezeptionsdokumenten (Rezensionen, Briefen etc.) zu extrapolieren. Sie verschiebt damit den Blick vom Werk als sinnerzeugender Totalität zum kommunikativen Text in literatursystemischen Zusammenhängen. Diese Perspektive ist bei Jauß nicht ausformuliert, aber angedeutet mit Blick auf die Texte, die selbst keine deutlichen Rezeptionshinweise enthalten, ihren Horizont also nicht thematisieren. Der Erwartungshorizont wird bei Jauß an den literaturhistorischen Kontext des Werks geknüpft, in den die ästhetische und außerästhetischer Vorerfahrung (des Produzenten ebenso wie des Rezipienten) eingeschrieben ist.

Die Betrachtung des ästhetischen Ereignisses dient bei Jauß weniger der Erkenntnis einer historischen Literatursituation als der Erkenntnis des Werks und seiner nachhaltigen Wirkung. Am Konzept des Erwartungshorizonts zeigen sich zwei grundsätzliche Probleme der Jaußschen Rezeptionsgeschichte: das Vertrauen auf Objektivierbarkeit bei gleichzeitiger Beibehaltung einer werkzentrierten Interpretationspraxis sowie die nur abstrakte Relevanz werkunabhängiger Institutionen und Instanzen – das gilt auch für den Leser. (Baasner, 182)

25. Die Texttheorie Wolfgang Isers, des zweiten namhaften Vertreters der Konstanzer Rezeptionstheorie,  leistet eine wichtige Ergänzung zur Rezeptionsgeschichte. Iser lokalisiert den Ansatzpunkt der Rezeptionsästhetik in der „Appellstruktur der Texte“. Sein Vorschlag ruht wesentlich auf Elementen der Sprechakttheorie und den literaturtheoretischen Entwürfen Roman Ingardens. Im Mittelpunkt von Ingardens Überlegungen steht die Kategorie der Unbestimmtheit; der literarische Text weise Unbestimmtheitsstellen auf, die durch Konkretisationen gefüllt werden müssen. Im Aufriss ähnlich, aber mit anderem Akzent als Ingarden betont Iser nicht die Notwendigkeit, sondern die vielfältige Möglichkeit der Aktualisierung literarischen Bedeutungspotentials; die Leerstelle im Text wird zum dynamisierenden Element literarischer Kommunikation. (Baasner, 183)

26. Es geht Iser nicht um die Mechanismen der Sinnbildung durch Lektüre, sondern um das in die Struktur literarischer Texte eingeschriebene Konkretisationsangebot, deren Appellstruktur. Der Isersche Leser ist der implizite Leser, der keine historisch konkrete Person ist (und auch keine abstrakte Summe des historischen Publikums), sondern als Textmerkmal (Wirkungsstruktur des Textes) und gleichzeitig als Operation der adäquaten Rezeption (ohne konkreten Akteur) gedacht ist. (Baasner, 183)

27. Werk wird bei Jauß verstanden als Konvergenz von Text und Rezeption. Als virtuelle Struktur erfordert der Text die Konkretisation, erst die ‘aneignende Erfahrung’ konstituiert Bedeutung und damit das Werk. Sinn ist deshalb „nicht mehr als überzeitliche Substanz, sondern als historisch sich bildende Totalität zu fassen“ (Jauß 1973, 32f.). Als Frage bleibt, welche Anteile Rezeption (als die von den konkretisierenden Instanzen ausgehende Aktualisierung) und Wirkung (als das vom Text bedingte Element) jeweils an dieser Operation haben, mit anderen Worten: wie autoritativ bleibt der Text und wie frei wird die Leserinstanz in der Konstitution von Bedeutung? Für Iser wie für Jauß bleibt die Freiheit des einzelnen begrenzt durch die Norm der textadäquaten Konkretisation.

Auch Jauß sieht den Leser vor allem als Adressaten und gesteht ihm keine vom Werk unabhängige Existenz zu: Wandel geht vom ästhetischen Überschuss komplexer Werke aus. In der hermeneutischen Modellvorstellung vom dialogischen Kunstwerk ist der Adressat die antizipierte Frage, der Leser die Antworten konkretisierende Instanz. Nur in Ausnahmefällen rückt ein historisch konkreter Leser ins Blickfeld, sofern er nämlich selbst als produktiver Leser wirkungsgeschichtlich bedeutsam und literaturkritisch oder literarisch produktiv wird. In diesem Fall sind die dokumentierten Lektüren wichtige Ereignisse für die rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Rekonstruktion: etwa Goethe als Leser des Volksbuches von Doktor Faust und Thomas Mann als Leser des Goetheschen Schauspiels. Beide geben mit ihrer jeweiligen Weiterverarbeitung des Stoffes aufgrund ihrer Lektüren wichtige literarische Impulse. (Baasner, 183f.)

28. Die Differenz von Bedeutungspotential und Aktualisierung in der Rezeption ist Grundlage für die literaturgeschichtliche Entwicklung. Die am Horizontwandel ablesbaren Wirkungen literarischer Texte sind das dynamisierende Element der literarischen Evolution. In der Rezeption werden immer Horizonte konfrontiert: innertextueller Horizont und ‘Epochenhorizont’, der sich im rezipierenden Bewusstsein konkretisiert. Angenommen wird eine festgefügte ästhetische Erwartung des Rezipienten, die sich an geltenden Normen orientiert. Das literarische Kunstwerk kann mit diesen Normen brechen und innovative Antworten anbieten, die in der Folge wiederum in den Normbestand ästhetischer Erwartungen eingehen können. Auch das ästhetisch Neue gründet dabei immer im ästhetischen System seiner Zeit. Innovation und Traditionsbildung sind in dieser Perspektive also keine Gegensätze: Tradition entsteht nur durch Wirkung und die setzt Rezeption voraus.

Literatur ist deshalb nicht dazu verurteilt, mit der Epoche ihrer Entstehung unterzugehen, wie es das Postulat der ästhetischen Innovation in einer rigorosen Anwendung vermuten ließe. Der epochemachende Moment wird im Gegenteil oft von der zeitgenössischen Rezeption verkannt und erst auf Umwegen verschiedener Rezeptionsstufen deutlich. Gerade das erneute Gegen-den-Strich-lesen klassischer Meisterwerke verspricht ästhetische Erlebnisse. (Baasner, 184)

29. Trotz der Kritik an der Musealisierung des Literaturkanons ist die Begründung eines solchen also für Jauß ein zentrales Anliegen. Die Kritik mündet deshalb nicht in der Destruktion, sondern in der Revision des Kanons mit dem durchaus didaktischen Ziel, den durch bildungsbürgerliche Pflichtübungen verschütteten Wert literarischer Werke zu aktualisieren. Kanonbildung ist aber nicht die Offenbarung eines objektiven literarischen Werts wie für die traditionelle Hermeneutik, sondern ein Rezeptionsprozess – und damit Veränderungen unterworfen.

Wirkung und Bewertung sind eng an das Innovationspostulat geknüpft. Der Kunstwerkcharakter bestimmt sich aus der Negation von Erwartungen: das Schöne soll nicht epigonal reproduziert, sondern neu geschaffen werden; das Werk soll neue Sehweisen erfordern, bisher unbekannte Erfahrungen anbieten und moralische Lösungen, die über die Wirklichkeit hinausweisen. Neben der ursprünglichen Innovationsleistung ist das spezifische Vermögen des Werks, auch unter veränderten historischen Bedingungen neue ästhetische Erfahrungen zu evozieren, ein Bewertungsmaßstab. Erst die anhaltende Dialogfähigkeit kanonisiert ein Werk. (Baasner, 185)

30. Die verschiedenen Rezeptionsstufen gehen dabei in den Rezeptionsakt ein. Ein Text kann zwar ‘immer wieder neu’ gelesen werden, die erneute Aktualisierung ist jedoch nicht unabhängig von der vorgängigen Deutungsgeschichte. Die Linie einflussreicher Interpretationen prägt den Deutungskanon.

Der literatursystemische Kontext hat auch hier geringeres Gewicht als das Ereignis. In einer weniger werkzentrierten Sicht öffnet die Rezeptionsperspektive jedoch den Blick für eine Kanonforschung, die über Neuinterpretation und Revision hinaus auch die Prozesse der Kanonisierung und ihre Einflussketten untersucht. (Baasner, 185)

31. Auffällig ist, dass die Konstanzer Schule den ‘dritten Stand’ der Leser zwar konzeptionell salonfähig macht, aber weder den konkreten Leseakt, noch den empirischen Leser oder die historischen Leseverhältnisse betrachtet. Die Infragestellung eines feststehenden Erbes, der Autorität des Werks und eines fraglosen Primats der produzierenden Autoren darf in ihren Folgen für das Literaturverständnis trotzdem nicht unterschätzt werden. Sie begründet die Akzeptanz verschiedener Lektüren und die Notwendigkeit der Leserinstanz auf der Basis eines hermeneutisch-historischen Literaturzugriffs, lenkt den Blick auf Kanonisierungsprozesse und bietet einen theoretisch fundierten Ansatzpunkt für die Einbettung von Einzeltextbetrachtungen zu ästhetischen Normvorstellungen oder zur Empirie der literarischen Kultur. (Baasner, 185)

32. Historische Rezeptionsforschung. Vielen ging der Entwurf der Konstanzer Rezeptionsforschung nicht weit genug, da er die Instanzen des impliziten Lesers und des Erwartungshorizonts wiederum als gedankliche Konstrukte in den Zusammenhang hermeneutischer Auslegung einbezog.

Für eine konzeptionelle Erweiterung des wirkungsgeschichtlichen Ansatzes bis zur historischen Situationsabhängigkeit von Rezeptionsereignissen plädiert schon früh Karl Robert Mandelkow. „Erst die literaturhistorische Gesamtschau einer ‘Entwicklung’ der verschiedenen Werke eines Autors, einer Gattung oder einer Epoche hebt naturgemäß die rezeptionsästhetische Kontingenz der Urteilsbildung über das einzelne Werk auf zugunsten einer diese Kontingenz suspendierenden gesetzlich-überhistorischen Stringenz von wie auch immer begründeten Abläufen.“ (Mandelkow 1970, 77f.) Das Musterbeispiel für eine solche Gesamtschau gibt Mandelkow selbst mit seiner Rezeptionsgeschichte Goethes: „Die Geschichte der Deutung und Wirkung Goethes [...] ist zugleich die Geschichte des literarischen Publikums, der literarischen Kritik, der Poetik und der Ästhetik“ (Mandelkow 1980, 19). (Baasner, 186)

33. Mit dem Sammelbegriff der historischen Rezeptionsforschung sollen hier die vielfältigen Verfahren zusammengefasst werden, denen das Interesse an dokumentierten Lektüren und anderen Rezeptionserzeugnissen gemeinsam ist. Historische Rezeptionsforschung kann textorientiert, autororientiert und systemorientiert sein; sie fragt danach wer was wann warum und wie gelesen hat – wobei jede Teilfrage dominant gesetzt sein kann.

Die Rezeptionsperspektive kann so als ein Bindeglied zwischen kultur- und sozialhistorischen Fragestellungen und Literaturwissenschaft betrachtet werden. Die Frage nach dem Lesen und den Lesern führt zur Auseinandersetzung mit den benachbarten Untersuchungen der Bildungsgeschichte, der Buchmarkt- und Buchhandelsgeschichte und zu den Erkenntnissen einer Literatursoziologie, die sich mit den lektürebezogenen Mechanismen sozialer Formation und Differenzierung beschäftigt.

Mit diesen Fragestellungen löst sich die Rezeptionsforschung von der Textinterpretation, vom Autor und von dessen Wirkung. Als leserzentrierte Forschung stellt sie das Lesen als Kommunikationsakt und kulturelle Praxis sowie die Leistung der Literatur für den oder die Leser in den Mittelpunkt. Dabei spezifizieren die besonderen Kennzeichen von Fiktionalität und Poetizität der literarischen Rede auch den Leseakt. Die Frage der ästhetischen Wertung hingegen, die bei Jauß eine wichtige Rolle spielt, tritt zurück. (Baasner, 186f.)

34. Gerade wenn es der Rezeptionsforschung um symptomatische, über den Einzelfall hinaus erklärungskräftige Aussagen geht, muss sie sich mit ihren Quellen kritisch auseinandersetzen. Literatur wird auch in nicht-literarischen Kontexten rezipiert – wenn ein Politiker Schiller zitiert oder eine Versicherung mit Goethe wirbt zum Beispiel. Solche literaturfernen Anwendungen geben Einblick in die Rolle, die Literatur als Autorität in gesellschaftlichen Sinnbildungsprozessen zugemessen wird, zur Erkenntnis von literarischen Texten hingegen werden sie kaum beitragen.

Aber auch Rezeptionsdokumente im engeren Sinn – z.B. Literaturkritiken, Tagebucheinträge usw. – müssen in ihrem jeweiligen Zusammenhang betrachtet werden. Auf die Entstehung einer Rezension beispielsweise haben viele Faktoren Einfluss, es gibt äußere Vorgaben sowie Konventionen des Argumentierens, und auch Rezensenten orientieren sich am Horizont ihres Publikums. Gerade diese Einflüsse erklären aber die interessanten Fälle, in denen ein und derselbe Verfasser einen Text öffentlich verreißt, im privaten Brief jedoch lobt (und umgekehrt). Rezeptionsprozesse zu rekonstruieren, erfordert also eine Quellenkritik, die auf Wissen um die kommunikativen und materialen Entstehungsbedingungen der Dokumente zurückgreift. (Baasner, 187)

35. Empirische Leserforschung. Die Empirische Literaturwissenschaft untersucht Literatur in ihrer kommunikativen Funktion anhand von Beobachtungsdaten. Im Rahmen der ETL Siegfried J. Schmidts wird Rezeption als Handlungsrolle mit einer eigenen Teiltheorie erschlossen.

Die für die Rezeptionsforschung bedeutendste Strömung innerhalb der Empirischen Literaturwissenschaft ist die von Norbert Groeben begründete leserbezogene Rezeptionspsychologie. In Abgrenzung von hermeneutischen Verfahren besteht die empirische Forschung auf einer „systematischen Geltungsprüfung wissenschaftlicher Aussagen durch die intersubjektive Nachprüfbarkeit anhand von Beobachtungsdaten“ (Groeben 1982, 27). Sie importiert die Methoden der empirischen Sozialforschung und strebt an, verstehende Verfahren weitgehend durch erklärende zu ersetzen; dazu werden methodische Anleitungen für die theoriegeleitete Datenerhebung und -sicherung formuliert. (Baasner, 188)

36. Während die hermeneutische Wissenschaft im Leser die Instanz sieht, die ein im Text angelegtes Sinnpotential aktualisiert, geht die empirische Wissenschaft vom Leser als Bedeutung konstruierender Instanz aus. Der Text ist als Textformular (Groeben) oder Kommunikatbasis (Schmidt) Anlass für diese Operationen. Rezeption wird als die bedeutungsgenerierende Verarbeitung textueller Information gefasst. Der Rezeptionsprozess soll erschlossen werden durch Hypothesenbildung und Bedingungs-Ereignis-Annahmen, die das Verhältnis von materialen Textmerkmalen und kognitiver Konstruktion erklären. Als Text-Leser-Interaktion sind subjektive Bedeutungszuweisung und objektive Textfaktoren an der Rezeptionshandlung beteiligt. Daneben besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen pragmatischen und literarischen Texten. Bei letzteren stoßen bestimmte Hypothesen wie jene der Textverständlichkeit aber an Grenzen. (Baasner, 188)

37. Hypothesen über die Gesetzmäßigkeit von Leservoraussetzungen und Rezeptionseffekten können nur mit umfangreichen und aufwendigen Versuchsanordnungen überprüft werden. Dazu werden beispielsweise einer Klasse von Rezipienten, die anhand bestimmter Merkmale ausgewählt werden, Texte vorgelegt. Geprüft werden kann mit Hilfe empirischer Verfahren, ob und wie sich zugeordnete Textbedeutungen ändern, wenn sich die Lesermerkmale ändern, oder ob ein Einstellungswandel aufgrund der Textrezeption zu verzeichnen ist. Für die Literaturwissenschaft ergibt sich hier die Möglichkeit, die kommunikationspraktische Relevanz literaturtheoretischer Annahmen zu untersuchen: wie weit wird beispielsweise die Vieldeutigkeit literarischer Texte akzeptiert, als Kennzeichen von Literatur vorausgesetzt oder vielleicht im Gegenteil als Lektürehemmnis eingeschätzt?

Mit Blick auf historische Situationen lassen sich ganz ähnliche Fragen formulieren, empirische Untersuchungen dieser Art sind aber nicht möglich. Im Gegensatz zur aktuellen Leserforschung, die ausgewählte oder repräsentative Gruppen befragen kann, muss sich die historische mit den zugänglichen Daten zufrieden geben. (Baasner, 189)

38. Die Annahme, Literatur sei, wie sie wirke, ist nicht frei von gefährlichen Simplifikationen: Literaturgeschichte = Wirkungsgeschichte; Wirkung = Aufnahme eines Werkes durch das Publikum. Das kann bedeuten: Zur Interpretation von Kleists Zerbrochnem Krug bedarf es nicht unbedingt der durch Lektüre erworbenen Kenntnis des Stücks, aber unbedingt der Kenntnis der fast 170jährigen Wirkungsgeschichte. Der Autor ist im Kreis derer, die sich seines Werkes bemächtigt haben, nicht mehr zu erkennen. Harald Weinrichs Plädoyer Für eine Literaturgeschichte des Lesers, in dem er empfiehlt, einen „Text nicht vom Sprecher, sondern vom Hörer her zu betrachten“ und dabei „die typischen Leserfahrungen einer Lesergruppe oder eines solchen Lesers, der repräsentativ für eine Gruppe ist“, zu beschreiben (Weinrich 1967, 1026/1031), kann als inzwischen klassisches Beispiel für jene Vereinfachungen gelten, die sich fast notwendig einstellen, wenn man einem als extrem gekennzeichneten Übelstand (Literaturgeschichte = Werkgeschichte mit einem anderen Extrem (Literaturgeschichte = Wirkungsgeschichte = Lesergeschichte) begegnet wird.(Oellers, 234)

39. Hans Robert Jauß hat den Versuch unternommen, die Geschichtlichkeit der Literatur durch die „geschichtsbildende Energie“ der Rezipienten zu sehen: ihre „vorgängige“ Erfahrung des literarischen Werkes bestimme dessen Erscheinung und Wesen als geschichtlich. Den Zugang zum Rezipienten möchte Jauß über den Erwartungshorizont gewinnen, in den hinein jedes Werk gestellt wird. Diesen – sich ständig wandelnden – Horizont auszumessen, ihn unter Voraussetzungen eines gesellschaftlich determinierten Publikums ‘objektiv’ erscheinen zu lassen, sollte Aufgabe des geschichtlich, d.h. soziologisch vorgehenden Literaturwissenschaftlers sein. Im Erwartungshorizont tauchen die Fragen auf, die durch literarische Werke beantwortet werden können. (Oellers, 235)

40. In produktiver, differenzierterer, aber nicht unkritischer Weise ist Gadamers Hermeneutik in Konstanz rezipiert worden. Hans Robert Jauß folgte in Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1967) Gadamers Kritik des historischen Objektivismus.

Jauß übernimmt Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte und der Horizontverschmelzung. Er versucht, Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren, indem er die Literaturgeschichte als Prozess der Rezeption von Texten durch Leser und als Prozess der Wirkung von Texten auf Autoren betrachtet. Literaturgeschichte hat dann nicht eine identische Bedeutung von Texten zu rekonstruieren, sondern die historische Entfaltung des Sinnpotentials zu beschreiben, das sich in der Rezeption aktualisiert und in der Wirkungsgeschichte immer neu vergegenständlicht.

Collingwood und Gadamer folgend versucht auch Jauß, einen Text zu verstehen, indem er die Frage zu verstehen sucht, auf die dieser eine Antwort ist; und er begründet die Forderung der Rekonstruktion des Erwartungshorizonts, den die Lesergesellschaft eines bestimmten Zeitraums gegenüber dem literarischen Text ins Spiel bringt. Im Gegensatz zu Gadamer aber sieht er das Klassische nicht als Norm, sondern nur als historisches Moment. Deshalb betrachtet er literaturgeschichtliches Verstehen nicht als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, sondern letztlich als Versuch, die Kluft zwischen Literatur und Geschichte zu überbrücken.

Jauß betont im Gegensatz zur traditionellen autorzentrierten Konzeption Hirschs die produktive Funktion des Lesers. Sein Kollege Wolfgang Iser hat sich in Die Appellstruktur der Texte (1971) die Aufgabe gestellt, das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen. Bedeutungen werden danach nicht als rekonstruierbare Substanzen betrachtet, sondern erst im Lesevorgang als Produkt der Interaktion Text – Leser generiert. Der literarische Text ist nach Iser von allen Texten zu unterscheiden, die einen vom Text unabhängig existierenden Gegenstand vorstellen oder mitteilbar machen. Der Text ist aber auch nicht bloße Projektionsfläche des Lesers. Er bietet vielmehr Einstellungen und Perspektiven, die die empirisch bekannte Welt verändern und verfremden. Daraus resultiert eine gewisse Unbestimmtheit, die der Leser auf unterschiedliche Weise verarbeiten kann. Wer den Text auf seine Erfahrung reduziert, normalisiert ihn und vernachlässigt damit die spezifisch literarische Qualität. Wer die Differenz wahrnimmt und produktiv verarbeitet, macht die eigentliche Qualität des literarischen Textes sichtbar. Ein solcher Text sei nie allseitig bestimmt, und diese Unbestimmtheit wachse in literarischen Texten seit dem 18. Jahrhundert, wie Iser in Der implizite Leser (1972) zu zeigen versucht hat.

Wenn die Textbedeutung allerdings erst in der Interaktion Text – Leser generiert wird, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Rezeption und objektivierende Analyse zu sehen seien? Wie weit gelingt es, Werksystem und Interpretationssystem zu trennen? Welche Kriterien adäquaten Verstehens sind denkbar? In seinem Buch Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (1976) betrachtet Iser den Text gleichsam als Partitur, die der Leser, indem er dem im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens folgt, konkretisiert. Die Leserin agiert als gleichsam „wandernder Blickpunkt“, der sich durch den Text bewegt, durch immer wieder neue Vor- und Rückgriffe neue Relationen schafft und neue Bedeutungsspielräume und Leerstellen wahrnimmt. Der Autor schreibt sich durch die Rezeptionsdisposition, auf die der Text angelegt ist, und durch die Brüche und Leerstellen ermöglichende Segmentierung und Perspektivierung des Texts in den Text ein. Der Leser konkretisiert diese Aktstruktur des Lesens und konstituiert im Rahmen dieser Spielräume und Lücken Bedeutung und Sinn.

Iser und Jauß machen mit exemplarischen Fallstudien deutlich, wie sehr eine Hermeneutik, die Interpretation als Bedeutungszuweisung betrachtet, die differenzierte ästhetische Erfahrung reduziert. (>Kritik) Kritische Stimmen meinten allerdings, dass solch differenzierte Analyse der Leseerfahrung unweigerlich im Subjektivismus individueller Reize und Reaktionen ende.

Dies führte Jauß dazu, Wirkung als das vom Text bedingte und Rezeption als das vom Leser bedingte Element der Konkretisation zu beschreiben. Natürlich bleibt dabei die von Vertretern der autorzentrierten Interpretation gestellte Frage offen, welche Norm denn über richtige und falsche Interpretationen entscheide.

Hans Ulrich Gumbrecht schlug deshalb vor, „im Rahmen einer deskriptiven Rezeptionsgeschichte die vom jeweiligen Autor intendierte Sinngebung als Hintergrund des Verständnisses und des Vergleichs von Sinngebungen über den von ihm produzierten Text zu benützen“. (Gumbrecht 1975, 392) (>Kritik) Nicht einleuchtend ist hier die grundlegende Voraussetzung, die vom Autor intendierte Sinngebung sei leicht und unabhängig von den Voraussetzungen der Literaturwissenschaft rekonstruierbar. Praktisch dürfte sich die Rekonstruktion der vom Autor intendierten Sinngebung nur bei Verfassern rhetorischer Texte mit eindeutiger Wirkungsintention und Verwendungsfunktion ergeben.

Peter Rusterholz schlägt vor, die Zeichenrelationen, die auf Rezeptionsdispositionen verweisen, als Indizien eines vom Autor intendierten Potentials möglicher Sinngebung zu interpretieren. So kann zwar keine Norm, wohl aber ein Vergleichsgegenstand gegenüber anderen Sinnbildungen konstituiert werden, der zusammen mit den von Karlheinz Stierle postulierten historisch-systematischen Rezeptionsmodellen Stufen der Adäquatheit von Rezeptionen und Interpretationen zu qualifizieren erlaubt. Wir könnten Rezeptionsformen, die das Wahrgenommene unreflektiert nach privaten Erfahrungsnormen konkretisieren, historische Analysen, die im Text angelegte Rezeptionsdisposition rekonstruieren, und rezeptionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen unterscheiden.

Die Konstanzer Rezeptionsästhetik hat die Literaturwissenschaft zu einer historischen Kommunikationssoziologie entwickelt, die mit Gadamer die Vorstellung eines unabhängig vom Prozess des Verstehens existierenden Objekts des Verstehens negiert, aber gegen Gadamers Negation der Methoden die durch Formalismus und Strukturalismus bereitgestellten analytischen Instrumente einsetzt, um die Steuerung der literarischen Kommunikation durch die Wirkungen des Textes zu analysieren und Aufnahme und Wirkung der Werke im objektivierbaren Bezugssystem zur Lesererwartung zu beschreiben, das sich aus dem Vorverständnis der Gattungen und dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt. (Rusterholz, 131ff.)

Gadamers Prinzip der Wirkungsgeschichte, das die vermeintliche Unmittelbarkeit des Verstehens im Umgang mit überlieferten Werken destruierte, initiierte andererseits eine neue Aufmerksamkeit für Rezeption und Rezeptionsgeschichte literarischer Werke. So entstand das Programm einer Rezeptionsforschung, in der sich die Geschichte der ästhetischen Erfahrung mit der literarischen Hermeneutik so zu vermitteln suchte, dass der Sinnhorizont des literarischen Werkes erst im Zusammenspiel von Autor, Werk und Leser zu entwerfen war. (Jacob, 338)

Ausgangspunkt der Überlegungen von Jauß und Iser ist die Unmöglichkeit der einen richtigen Interpretation eines (historischen) Textes, der sich vielmehr in die Vielzahl seiner verschiedenen und alternativen Lesarten und Deutungsvarietäten auseinander faltet. An die Stelle des Werks und seiner Interpretation treten mithin die Beschäftigung mit und die Analyse von allen möglichen (und unmöglichen) Deutungen. Die Hermeneutik wird offener, pluraler – gesprächsoffener. (Jung, 176)

In der Rezeptionsästhetik wird Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte gewissermaßen umgedreht, die Perspektive des Publikums gewinnt die wichtigere Funktion. Leser werden in den Mittelpunkt des Textgestaltens und -verstehens gestellt. Als konstitutiv für Texte gilt nicht mehr die einsame Absicht des Autors, sondern die von ihm unterstellte – oder wirklich vorhandene – Interessenlage des Publikums. Dabei wird entweder Der Akt des Lesens (Iser 1976) oder der historisch zu rekonstruierende ‘Erwartungshorizont’ (Jauß 1970) eines ‘idealen Lesers’ zur wichtigsten Bezugsgröße. Alle auf die Produktionsseite der Textentstehung und des Verstehens fokussierten ästhetischen und hermeneutischen Ansätze werden relativiert. (Baasner, 97)

41. Jauß skizzierte 1967 eine Theorie der literarischen Rezeption, die zum Auslöser einer langjährigen Debatte in der Literaturwissenschaft wurde und in Verbindung mit Wolfgang Isers ergänzender Theorie des Lesers als Element des Textes das Selbstverständnis der philologischen Disziplinen langfristig verändert hat. (Schöttker, 537)

42. Zu Jauß’ erstem Entwurf zur Rezeptionsästhetik. Jauß bezog sich auf Gadamers Wahrheit und Methode. Gadamer knüpft hier an die Tradition der philosophischen Hermeneutik in Deutschland an, geht aber über die Entwürfe seiner Vorläufer Schleiermacher, Dilthey und Heidegger hinaus, indem er die „wirkungsgeschichtliche Verflechtung“ des „historischen Bewusstseins“ betont und den Vorgang des historischen Verstehens als spannungsvolle „Verschmelzung“ der „Horizonte“ von Gegenwart und Vergangenheit begreift.

Doch hat Gadamer daraus keine methodischen Konsequenzen gezogen. Die methodische Lücke, die durch den Verzicht auf die theoretische Durchdringung des „Prinzips der Wirkungsgeschichte“ entstanden war, wollte Jauß ausfüllen. (Schöttker, 539f.)

43. Unter ‘Erwartungshorizont’ versteht Jauß ein „objektivierbares Bezugssystem der Erwartungen“, das sich „für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens“ ergebe und sich aus drei Faktoren zusammensetze: „aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache (Jauß 1970, 174). Der reale Leser kommt in dieser Konzeption nicht vor. Er wird zu einem Konstrukt, das im Werk „vorausgesetzt“ ist und ihm entnommen werden muss (ebd., 177ff.). Nicht der Leser, sondern eine im Text enthaltene Vorstellung vom Publikum rückt damit ins Zentrum der Rezeptionsästhetik. (Schöttker, 540f.)

44. Jauß’ hat diese Konsequenz allerdings in seinem ersten Aufsatz nicht gezogen, sondern erst zum Bestandteil seiner Theorie gemacht, als Wolfgang Iser die begrifflichen und methodischen Grundlagen für die werkimmanente Auffassung des Lesers geschaffen hatte. Daraufhin betonte auch Jauß den „hermeneutischen Vorrang“ eines „impliziten Lesers“ (Jauss 1975a), der von Iser als neue Kategorie eingeführt worden war.

Auch dieser Begriff hat seine Vorgeschichte. Denn zunächst hatte Iser in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Die Appellstruktur der Texte von 1969 den Leserbezug des literarischen Werkes aus der Kategorie der „Unbestimmtheit“ abgeleitet, die er (mit einigen konzeptionellen Verschiebungen) aus Roman Ingardens Buch Das literarische Kunstwerk von 1931 übernahm. Ingarden versuchte hier aus phänomenlogischer Sicht zu zeigen, dass ein literarisches Werk aus „schematisierten Ansichten“ besteht und erst durch „Konkretisationen“ in ein sinnhaftes Phänomen verwandelt wird. (Schöttker, 541)

45. Während Ingarden den methodischen Schritt zum Leser als dem Träger literarischer „Konkretisationen“ nicht vollzog, hat Iser die Kategorie der „Unbestimmtheit“ zum „Umschaltelement zwischen Text und Leser“ gemacht. Die Unbestimmtheits- oder Leerstellen werden damit zur „Basis einer Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist“ (Iser 1970, 248). Da Iser aber ausschließlich die Funktion poetischer Unbestimmtheit für die „Konkretisation“ von Texten untersuchte, blieb seine Idee der Rezeptionsanalyse in erster Linie Textanalyse, während die literatur-historische Dimension des Rezeptionswandels, die Jauß zunächst anvisiert hatte, nicht in den Blick kam.

Die Beschränkung auf die werkimmanente Ebene bleibt auch für die Erweiterungen bestimmend, die Iser an seinem ersten Entwurf vorgenommen hat. (Schöttker, 541)

46. Im Jahr 1967 erschien auch ein Aufsatz von Harald Weinrich mit dem Titel Für eine Literaturgeschichte des Lesers, der wie Jauß von der Vernachlässigung des Publikums in der Literaturwissenschaft ausging und Perspektiven einer Überwindung des Mangels zeigte. Weinrich hat erstmals auf Arbeiten hingewiesen, die die historische und soziale Stellung des Publikums zum Gegenstand von Überlegungen gemacht haben. So wurde hier mit der Erinnerung an die Vorgeschichte der Rezeptionsgeschichte zugleich die Grundlage für ihre Weiterentwicklung gelegt. Es handelt sich dabei um Arbeiten zur Wirkungsästhetik, zur Publikumsforschung und zur Literatursoziologie.

Die Wirkungsästhetik, die vor allem für die Poetik des Dramas grundlegend ist, ist für eine rezeptionsgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft allerdings ein Grenzfall. Denn Aufbau, Stil und Aufführung eines Werkes werden in erster Linie von der beabsichtigten Wirkung auf ein Publikum aus betrachtet. Das Publikum existiert dabei in der Vorstellung des Autors oder Regisseurs, so dass die Wirkungsästhetik eher für die werkimmanente Rekonstruktion von Erwartungshorizonten von Bedeutung ist, wie sie Jauß’ Programm vorsieht. Das gilt auch für Jean-Paul Sartres Essay Was ist Literatur von 1948, den Weinrich ebenfalls als Vorläufer für eien Vorgeschichte des Lesers zitiert. (Schöttker, 545f.)

47. Darüber hinaus hat Weinrich auf Erich Auerbach hingewiesen, in dessen Arbeiten das Publikum seit den dreißiger Jahren als Untersuchungsgegenstand eine zentrale Rolle einnahm. Während Auerbach seine Darstellung des Publikumswandels aus Hinweisen erarbeitet hat, die in den Texten selbst zu finden waren, und historische Dokumente eher ergänzend heranzog, legte Roger Escarpit 1958 den Entwurf zu einer soziologischen Analyse literarischer Werke vor, bei der das Phänomen des gedruckten Buches im Mittelpunkt stand. Escarpits Aufteilung der Literatursoziologie in die Bereiche der „Produktion, Verbreitung und Konsumption“ ist auch für die Rezeptionsforschung grundlegend geworden.  (Schöttker, 546f.)

48. Die Arbeiten von Auerbach und Escarpit repräsentieren zwei Pole der Literatursoziologie, zwischen denen sich auch die Rezeptionsforschung bewegt. Es handelt sich dabei einerseits um Ansätze, bei denen das Werk Bezugspunkt der Analyse ist, andererseits um Ansätze, bei denen das Werk den Ausgangspunkt für die Untersuchung seiner Aneignungsformen bildet. Während die werkorientierte Richtung eher der Literaturwissenschaft zuzuordnen ist, tendiert die leserorientierte Richtung eher zu den Kultur- und Sozialwissenschaften. Doch sind die Übergänge fließend.

Offenkundig geworden sind die Gegensätze erstmals 1967 mit Adornos Thesen zur Kunstsoziologie. Adorno hat hier nicht nur die Ausgrenzung der ästhetischen Dimension aus der kunstsoziologischen Analyse, sondern auch ihre Begrenzung auf die Wirkung von Kunstwerken kritisiert. „Kunstsoziologie“, so Adorno, dürfe nicht nur danach fragen, „wie die Kunst in der Gesellschaft“ steht und „wie sie in ihr“ wirke, sondern habe in erster Linie zu untersuchen, wie sich „Gesellschaft in den Kunstwerken“ objektiviere (Adorno 1967, 102). (Schöttker, 547)

49. Alphons Silbermann hat Grundpositionen einer empirischen Kunstsoziologie skizziert. „Soziologisch kann jedoch die Kunst nur in dem Augenblick erfasst werden, wo sich die Beziehungen zwischen Künstler und Hörer, Leser und Betrachter entfalten, wo also das Kunstwerk nach außen hin appelliert, wo es [...] einen bedeutsamen Augenblick, nämlich den des Kunsterlebnisses, hervorbringt“ (Silbermann 1967, 194).

Schon 1964 hatte Hans Norbert Fügen die Literatursoziologe in diesem Sinne als spezielle Soziologie zu bestimmen versucht, ohne die Untersuchung auf Rezeptionsphänomene zu beschränken. (Schöttker, 547f.)

50. Die historische Leserforschung ist aus der Geschichts- und Kulturwissenschaft hervorgegangen und untersucht die Entwicklung des Lesepublikums und der gesellschaftlichen Bedingungen des Lesens, die wiederum eng mit der Geschichte des Bildungssystems, des Verlagswesens und des Buchhandels zusammenhängen. Wegweisend waren für den deutschen Sprachbereich hier die Arbeiten zur Geschichte des Lesers und der Lektüre von Rolf Engelsing, zur Produktion, Distribution und Rezeption populärer Lesestoffe von Rudolf Schenda und zur Geschichte des Buchhandels von Reinhart Wittmann. (Schöttker, 548)

51. Eine besondere Rolle für die Verbindung von Rezeptionsgeschichte und Hermeneutik spielen die Schriften Walter Benjamins. Zwar ist Benjamins Rezeptionstheorie fragmentarisch geblieben, doch wurde sie im Verlauf der siebziger Jahre nach und nach wiederentdeckt.

Grundlage dieser Theorie ist die Idee des „Fortlebens“ oder „Nachlebens“ der Werke, das als Veränderung ihrer literarischen Substanz aufgefasst wird. Im Artikel Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft von 1931 hat Benjamin die Idee des „Fortlebens“ mit der gegenwärtigen Aneignung von Werken verknüpft. Benjamin betont den Gegenwartsbezug des Interpreten bei der Aneignung von Werken der Vergangenheit.

Doch hat Benjamin die Überlieferung keineswegs aus den Augen verloren. Beide Pole, die Aneignung von Werken  durch Leser der Gegenwart (Hermeneutik) und die Aneignung im Prozess der Überlieferung (Rezeptionsgeschichte) bilden auch in weiteren Arbeiten einen Spannungszustand, der auf methodische Vermittlung ausgerichtet war. (Schöttker, 548f.)

52. Benjamin hat auch auf zwei Arbeiten hingewiesen, die als Vorläufer der Rezeptionsforschung gelten können: Franz Mehrings Lessing-Legende von 1893 und Julian Hirschs Genesis des Ruhms von 1914. Hirsch entwickelte erstmals eine systematische Methode der Rezeptionsanalyse, in deren Mittelpunkt Persönlichkeiten stehen, die wegen ihrer Taten oder Werke auch über den Tod hinaus von einem größeren Publikum verehrt werden. Es ging Hirsch um das Phänomen des Ruhms und seine Erklärung. Methodisch wegweisend ist dabei vor allem seine Unterscheidung zwischen „ruhmerzeugenden und ruhmerweiternden Faktoren“ aufseiten des Individuums (etwa Erfolg, Todesumstände usf.) oder aufseiten der Masse (etwa Sensationsbedürfnis, Bedürfnisse der Presse usf.). (Schöttker, 550f.)

53. Mehrings Lessing-Buch war für Benjamin dagegen in politisch-konzeptioneller Hinsicht von Bedeutung. Mehring wollte zur „Rettung“ des Autors „aus den Philisternetzen der Bourgeoisie“ beitragen (Mehring 1975, 34) und hat damit das Konzept einer Rezeptionsgeschichte als Überlieferungskritik begründet, das Benjamin zu einem Grundgedanken seiner Rezeptionstheorie ausgebaut hat. (Schöttker, 551)

54. Nicht alle Rezipienten sind nach Benjamin für die Analyse der Rezeption von Bedeutung, sondern nur diejenigen, die am Überlieferungsprozess beteiligt sind und auf ein Werk Einfluss genommen haben (Verleger, Kritiker, Interpreten, Übersetzer, Editoren). Je nach Einflussnahme lassen sich dabei Hierarchisierungen vornehmen. Setzen sich im Verlauf der Rezeptionsgeschichte neue Auffassungen durch (in Editionen oder Deutungen), dann verändert sich nicht nur die Rezeption, sondern auch das Werk selbst. Der scheinbare Umweg über die Rezeptionsgeschichte führt zum Werk zurück, weil die in ihm wirkenden Kräfte und Interessen erkennbar werden. Die Analyse der Rezeption bleibt deshalb einem Werk nicht äußerlich, sondern ist Bedingung seiner Erkenntnis. Die aktuelle Aneignung von Werken (die hermeneutische Ebene der Rezeption) und ihre Aneignung im Prozess der Überlieferung (die historische Ebene der Rezeption) werden damit zu einer Einheit verbunden. (Schöttker, 552)

55. Mit seiner Schrift Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1967) eröffnete Hans Robert Jauß ein neues Kapitel literaturwissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung. Literaturgeschichte wird von Jauß nicht mehr als isolierte Geschichte von Werken und Autoren verstanden, sondern erfährt eine (hermeneutisch fundierte) Verankerung im Rahmen der allgemeinen Geschichte. Die Provokation seines Vorschlages einer Rezeptionsästhetik lag in der Schlussfolgerung, dass Literatur zum konkreten historischen Prozess erst durch die vermittelnde Erfahrung derer wird, die ihre Werke aufnehmen. (Müller, 181)

56. Jauß’ Ansatz hat eine Fülle von Forschungsvorhaben initiiert, die das Ziel verfolgen, die – in spezifische sozial- und mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge eingebetteten – Prozesse der literarischen Produktion und Rezeption zu rekonstruieren. (Müller, 181)

57.  Hans Robert Jauß. Der wissenschaftsgeschichtliche Ausgangspunkt der Rezeptionsästhetik lag in der Erkenntnis, dass die bisher vorherrschenden Darstellungs- und Produktionsästhetiken keine Lösung der Frage anzubieten hatten, „wie die geschichtliche Folge literarischer Werke als Zusammenhang der Literaturgeschichte zu begreifen sei“ (Jauß 1970, 169).

Die Rezeptionsästhetik will den ästhetischen und historischen Aspekt der Geschichte von Literatur und deren wechselseitige Vermittlung aufzeigen, um somit den Zusammenhang zwischen vergangener Erscheinung der Dichtung und der gegenwärtigen Erfahrung durch den heutigen Leser wiederherzustellen. Dabei wird vom Grundsatz ausgegangen, dass der Leser keine passive Instanz, sondern einen aktiven Faktor darstellt, der das geschichtliche Leben von Werken in entscheidendem Maße beeinflusst. (Müller, 182f.)

58. Die Untersuchungsmethoden der Rezeptionsästhetik gründen in der hermeneutischen Logik und im hermeneutischen Verfahren von Frage und Antwort; diese gestatten es, Prozesse der Vermittlung zwischen Werk und Rezipient, Wirkung und Rezeption aufzuhellen. Jauß sieht die genuine Leistung der Rezeptionsästhetik darin, über die Bedeutung, die dem Kunstwerk im historischen Kontext von Produktion und Rezeption zukommt, Auskunft zu geben. Dabei ist sie auf Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen angewiesen, was die Chance zu fruchtbarer interdisziplinärer Forschung eröffnet. (Müller, 183)

59. Voraussetzung für die Analyse der Vermittlungs-Prozesse zwischen Werk und Rezipient stellt die ‘Objektivierung’ des Erwartungshorizontes der literarischen Erfahrung dar. Im ersten Entwurf der Rezeptionsästhetik fordert Jauß die Rekonstruktion des Erwartungshorizonts aus den Texten selbst. In seinen späteren Schriften unterscheidet er zwischen dem literarischen Erwartungshorizont und dem lebensweltlichen Erwartungshorizont des Lesers.

Deren Rekonstruktion mittels hermeneutischer Verfahren schließt empirische Untersuchungen der Leserdisposition und der Rezeptionsprozesse von literarischen Texten nicht grundsätzlich aus. Empirische Analysen könnten als ‘pädagogische Veranschaulichung’ und als Absicherung der auf hermeneutischem Wege gewonnenen Ergebnisse dienen. (Müller, 183f.)

60. Über die Rekonstruktion des Erwartungshorizonts sind Rückschlüsse auf den Kunstcharakter des Textes möglich. Die Aufnahme eines Werkes durch seine Leser wird entscheidend von seiner ästhetischen Distanz, d.h. von seinem „Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont und ‘seiner’ Erscheinung“ (Jauß 1970, 177) beeinflusst. Die Kategorie der ästhetischen Distanz bietet sich zur Analyse des Rezeptionsverhaltens des Lesers an: eine geringe ästhetische Distanz impliziert eine eher genießende Haltung des Rezipienten, die den Text in die Nähe der ‘kulinarischen Kunst’ bzw. der Unterhaltungskunst rückt, eine große Distanz fordert stärkere Aktivität und Mit-Wirkung. Die Rezeption neuer literarischer Texte (insbesondere mit bislang unbekannten strukturellen Mustern) bewirkt einen Horizontwandel beim Publikum. (Müller, 184)

61. Re-Konstruktionen des Erwartungshorizontes, der den (historischen) Rahmen für Produktion und (zeitgenössische?) Rezeption eines literarischen Textes bildet(e), erweitern die Erkenntnisinteressen der Rezeptionsästhetik: Der Forscher kann nun Fragen stellen, „auf die der Text eine Antwort gab“, und damit erschließen, „wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann“ (Jauß 1970, 183). Auf diese Weise gerät die hermeneutische Differenz zwischen dem ersten Verständnis eines Werkes durch seine Leser und dem heutigen Verständnis in den Blick des Literaturwissenschaftlers. Dadurch wird die Rede vom zeitlosen, objektiven und ein für allemal geprägten Sinn, der dem Interpreten jederzeit zugänglich sei, als ein „platonisches Dogma der philologischen Metaphysik“ (Jauß 1970, 183) entlarvt. Da dem Text kein zeitloser und fixierter Sinn unterstellt wird, können rezeptionsästhetische Analysen auch keine Kriterien zur Beantwortung der Frage liefern, welche der historisch erfolgten Konkretisationen des Werkes ‘richtig’ oder ‘falsch’ sind. (Müller, 185)

62. Eine derartige Analyse der Rezeptionsgeschichte eines Werkes eröffnet Perspektiven auf die traditionsbildenden Kräfte der Literatur. Tradition setzt nach Jauß Selektion voraus. Er will der Geschichtlichkeit von Literatur in dreifacher Hinsicht gerecht werden: 1. diachronisch, d.h. im Rezeptionszusammenhang literarischer Werke, 2. synchronisch, d.h. im Bezugssystem der gleichzeitigen Literatur wie in der Abfolge solcher Systeme und 3. im Verhältnis der immanenten literarischen Entwicklung zum allgemeinen Prozess der Geschichte.

Die diachrone Betrachtungsweise erlaubt es, ein literarisches Werk innerhalb einer literarischen Reihe zu verorten. Damit gerät auch die aktive Rezeption des Texten durch andere Autoren in das Blickfeld des Forschers. Rezeption und Produktion werden miteinander verknüpft.

Die Durchführung verschiedener synchroner Schnitte soll die Rekonstruktion des literarischen Strukturwandels gewährleisten.

Jauß’ These zur 3. Ebene: „Die gesellschaftliche Funktion der Literatur wird erst dort in ihrer genuinen Möglichkeit manifest, wo die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt, sein Weltverständnis präformiert und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt (Jauß 1970, 199). (Müller, 185f.)

63. Wenn Literatur auf das Handeln und Verhalten des Rezipienten ein-wirkt, dann muss das literarische Handeln (als kommunikativer Akt) im Kontext alltäglichen Handelns neu bestimmt werden. (Müller, 187)

64. Wolfgang Iser. Im Gegensatz zu Jauß, dessen hermeneutisches Paradigma sich auf die Historizität von Literatur in gesellschaftlichen Zusammenhängen richtet, verfolgt Iser das Ziel, auf phänomenlogischer Basis (anthropologische) Grundmuster des Leseaktes zu rekonstruieren. Historik der Literatur und Kulturanthropologie der Literatur – dies sind die beiden Pole der ‘Konstanzer Schule’ und der Rezeptionstheorien. (Müller, 187)

65. Mit Ingarden geht Iser davon aus, dass die Bedeutung literarischer Texte erst im Lesevorgang generiert wird; er entwickelt jedoch eine Neubestimmung der Funktion literarischer Texte. In literarischen Texten entdecken wir zwar viele Elemente, die in unserer alltäglichen Erfahrung eine Rolle spielen, die im Rezeptionsvorgang konkretisierte Welt des Textes besitzt allerdings in unserer Erfahrung nichts Identisches. Iser wendet sich somit explizit gegen Widerspiegelungsmodelle materialistischer Provenienz. (Müller, 188)

66. Den Leerstellen des Textes kommt eine Schlüsselrolle für den zwischen Text und Leser ablaufenden Kommunikationsprozess zu. Ingarden verortete seine Unbestimmtheitsstellen primär in der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten, in der durch den Leser z.B. einzelne, vom Autor nicht entworfene (und damit unbestimmt gebliebene) physiognomische Merkmale des Protagonisten durch eigene Projektion zu besetzen waren. Iser hingegen setzt die Leerstellen des Textes an den Schnittflächen verschiedener schematisierter Ansichten an. Leerstellen – und damit die Unbestimmtheit von Texten – erweisen sich für Iser als grundlegende Faktoren des Rezeptionsprozesses. Sie bedeuten einen Steuerungsmechanismus, der dem Leser keineswegs völlig Freiheit in deren Besetzung durch eigene Projektionen lässt, sondern in der Struktur des Textes ist bis zu einem gewissen Grad auch deren Füllung vorgezeichnet.

Es ist nun als Ziel literaturwissenschaftlicher Forschung anzusetzen, Textstrukturen sichtbar zu machen, durch die im Text Unbestimmtheit entsteht, um dann die aufgedeckten Appellstrukturen des Textes mit der Beschreibung elementarer Leseraktivitäten zu koppeln. (Müller, 188f.)

67. Iser geht von der Annahme aus,  gesellschaftlich-historische Wert- und Normvorstellungen, die das Repertoire von literarischen Texten bilden, im fiktionalen Kontext des Werkes in der Regel eine differenziert abgestufte Negation erfahren. Die Aktivität des Lesers besteht nun darin, ausgehend von seinem (ihm vertrauten) Horizont, die anders gerichtete Zielsetzung des literarischen Textes zu konstituieren. Diesen sinnkonstituierenden Akt sieht Iser als Grundstruktur der Literatur (insbesondere des Romans) an; er fasst ihn begrifflich als den impliziten Leser. Der implizite Leser bezeichnet die im Text vorgezeichnete Leserrolle, die als Steuerungsmechanismus des Lesevorganges fungiert. (Müller, 189)

68. Iser präsentiert außerdem eine Schematisierung des Rezeptionsvorganges, mit der der zeitliche Verlauf der Sinnkonstitution im Leseakt gefasst werden kann. Das einzelne Satzkorrelat verweist auf Kommendes; der von ihm erweckte Horizont enthält Erwartungen. Während der Lektüre werden ständig Erwartungen modifiziert. Das durch die Entscheidungen des Lesers Ausgeschlossene bildet seinerseits einen potentiellen Störfaktor. (Müller, 189f.)

69. Die Zielrichtung von Isers Theorie liegt nicht in der Beschreibung von Textrealisation, sondern in der Entwicklung einer allgemeinen Texttheorie. Er konzipiert diese als allgemeine Wirkungstheorie. Er wendet sich nicht bestimmten „historisch ausmachbaren Lesern“ (Iser 1976, 8) und deren Urteilen zu. (Müller, 190)

70. Iser berücksichtigt auch Ergebnisse gestaltpsychologischer Forschung. Der Leser reagiert im Rezeptionsvorgang fortwährend auf das, was er selbst hervorgebracht hat, denn er nimmt bestimmte Ausgleichsoperationen vor, welche die Tendenzen, die der gebildeten Konsistenz abträglich sind, zu integrieren versuchen. (Müller, 190f.)

71. Iser sieht das Verhältnis zwischen Text und Leser in drei Aspekten begründet: a) dem Geschehenscharakter des Lesens, b) der Konsistenzbildung und den durch das jeweils Ausgeschlossene gebildeten Störfaktoren und c) dem daraus resultierenden Verstricktsein des Lesers in die von ihm hervorgebrachte Textgestalt. Die fundamentale Voraussetzung für die Anverwandlung des Fremden in den eigenen Erfahrungsbereich liegt darin, dass wir die Gedanken eines anderen nur deshalb zu einem uns beherrschenden Thema machen können, „weil diese dabei immer auf den virtualisierten Horizont unserer Person und ihrer Orientierungen bezogen bleiben“ (Iser 1975a, 274). (Müller, 191)

72. In seinen jüngeren Schriften entwirft Iser ein funktionstheoretisches Modell literarischer Texte. Iser interessiert nicht mehr, was Funktion ist, sondern was sie bewirkt, d.h. die pragmatische Dimension des Textes. Vor dem Hintergrund der Austinschen und Searleschen Sprechakttheorie kommt er zu dem Schluss, dass sich fiktionale Rede von alltäglicher Rede vor allem durch die bei ihr nicht gegebene Situationsbezogenheit unterscheidet. Für das Gelingen des fiktionalen Sprechaktes können demzufolge auch keine Konventionen im üblichen Sinne ausschlaggebend sein. In literarischen Texten findet deshalb eine Entpragmatisierung statt. (Müller, 191)

73. Text als Handlung. In der Nachfolge und Weiterentwicklung von Jauß’ Rezeptionsästhetik schlug Karlheinz Stierle vor, den Handlungsbegriff zur tragenden Kategorie literaturwissenschaftlicher Textmodelle zu machen. Literarische Produktion und Rezeption werden als typische Handlungsmuster innerhalb eines gegebenen kulturellen Handlungssystem bestimmt. (Müller, 192)

74. Das Konzept vom Text als Handlung führt dazu, dass sich etwa Gattungs-Kategorien und literarische Gattungen nicht mehr als ontologisch verfestigte Entitäten (‘Lyrik’, ‘Prosa’, ‘Drama’ ...) bestimmen, vielmehr erweisen sie sich als typische Sprach-Handlungs-Muster in spezifischen historischen Zusammenhängen. Literaturwissenschaft und Texttheorie sind so im Rahmen der Handlungswissenschaften zu verorten. (Müller, 192f.)

75. Auch Hans Ulrich Gumbrecht teilt mit seinem Entwurf einer historischen Textpragmatik diese Prämisse. Er unterscheidet zwischen einer normativen Rezeptionsgeschichte (mit didaktisch-pädagogischen Zielen) und einer diskriptiven Rezeptionsgeschichte, die in einer Kommunikations- und Handlungstheorie verankert wird. In dieser Theorie literarischen Handelns kommt der vom jeweiligen Autor intendierten Sinngebung als Vergleichs-Hintergrund und als Verständnis-Rahmen für die vom Leser mit dem Text vorgenommenen Sinngebungen eine entscheidende Bedeutung zu. Damit werden konkrete historische Erfahrungs- und Handlungsschemata von Autor und Rezipient zum dominanten Untersuchungsgegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. (Müller, 193)

76. Die historische Textpragmatik erlaubt eine kontrollierte Re-Konstruktion der historischen Funktion literarischer Texte; d.h. vor dem Hintergrund jeweils spezifischer gesellschaftlich historischer Wissensstrukturen werden Hypothesen über die durch den Lektüreprozess initiierten Veränderungen des Wissens(vorrats) des Lesers (oder einer Gruppe von Lesern) entwickelt und überprüft. (Müller, 194)

77. Jauß und Iser haben ihre Konzepte weiter differenziert. Jauß’ Theorie der ästhetischen Erfahrung und literarischen Hermeneutik (1977/1991) füllt eine zentrale Leerstelle seines Entwurfes einer Rezeptionsästhetik. In seinen frühen Schriften streifte er die Frage der ästhetischen Erfahrung als vorausgesetzter Grundlage aller Rezeption nur am Rande.

Die Wirkungen von Kunst und das ästhetische Vergnügen lassen sich weder auf ideologische Instrumentalisierungen der herrschenden Klasse, noch – im Sinne Adornos – auf Negativität reduzieren. Jauß verweist auf die Unbotmäßigkeit des Schönen und gründet seine Theorie der ästhetischen Erfahrung auf den Begriffen der Poiesis, der Aisthesis und der Katharsis. (Müller, 200)

78. Gründeten Isers Schriften der 60er- und 70er-Jahre vor allem in den Bewusstseinstheoretischen Entwürfen von Phänomenologie und Gestaltpsychologie, so entwickelt er diese Basis im Buch Das Fiktive und das Imaginäre (1991) konsequent zu einer literarischen Anthropologie fort.

Er entwirft eine anthropologische Theorie der Akte des Fingierens, die das traditionelle Oppositionsverhältnis von ‘Fiktion’ und ‘Wirklichkeit’ durch ein triadisches und dynamisches Beziehungsmodell des Realen, Fiktiven und Imaginären ablöst. (Müller, 200f.)

79. Würdigung. Rezeptionstheoretische Modelle haben eine kaum zu überschauende Zahl von Forschungen initiiert. Ihr Anstoß zu einer ‘Verwissenschaftlichung’ der Disziplin hat zu einer wissenschaftsgeschichtlich überfälligen Klärung theoretischer Positionen beigetragen. Die Analyse und Interpretation von Literatur wurde auf ein wissenschaftstheoretisches Fundament gestellt, und die Rezeptionstheorien haben literaturwissenschaftlich-interdisziplinärer Forschung neue und zuvor vernachlässigte Felder erschlossen. So trugen sie z.B. entscheidend zur Aufgabe der elitären Fixierung des wissenschaftlichen Interesses auf ‘Höhenkammliteratur’ bei und ebneten den Weg für Analysen populärer und trivialer Literatur. (Müller, 201f.)

80. Wende von der Werkästhetik zur Rezeptionsästhetik. Diese beruft sich auf das im Text selbst enthaltene Erfahrungspotential, das sich erst in der Geschichte entfalte.

Jauß legt die Rezeptionsgeschichte eines Werkes als das Erreichen einer Bedeutungsfülle aus, die sich in der geschichtlichen Entwicklung vollende.

(>Kritik) Dass auch Jauß noch an einem teleologischen Begriff von Geschichte festhält, der die Bedeutungsdimension des Kunstwerks in den Mittelpunkt rückt. (Geisenhanslüke, 60f.)

81. Iser versteht seine Theorie nicht als Rezeptions-, sondern als Wirkungsästhetik, da sie vom Text ausgehe und dessen Wirkung auf den Leser untersuchen will.

Wie bei Jauß ist es die kommunikative Form der Literatur als Interaktion zwischen Text und Leser, die in das Zentrum der Untersuchung rückt. (Geisenhanslüke, 62)

82. Grimm gelangt zu einer stärker philologisch ausgerichteten Begründung der Rezeptionsforschung. Er orientiert sich stärker an der Frage nach den historischen und empirischen Rahmenbedingungen der Rezeption literarischer Texte. Grimm kommt das Verdienst zu, die Grundlagen für eine historisch-philologisch ausgerichtete Rezeptionsanalyse geliefert zu haben. (Geisenhanslüke, 62f.)


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