5.04 'Übergreifende' Hintergründe
1. Die Positionen des Neostrukturalismus stehen in
Verbindung mit einigen Denk- und Stilrichtungen anderer kultureller Gebiete
(Architektur, bildende Kunst, Medientheorie) der jüngeren Vergangenheit, die
sich selbst als postmodern bezeichnen. Mit dem neuen Epochenbegriff der Postmoderne erheben sie den Anspruch,
die klassische Moderne zu beenden und abzulösen. Kontrovers diskutiert wird, ob es sich um eine
tiefgreifende Epochenzäsur handelt oder bloß um eine zugespitzte Fortsetzung
der klassischen Moderne. Die erstere Position besagt: Durch die Zurückweisung
allgemeiner, feststehender Grundsätze von Weltdeutung würde die Geschlossenheit
des modernen Denkens aufgehoben und mit ihr die Sinnvorgaben der durchgängigen
Vernunft und der zentralen Einheit des selbstbewussten Subjektes. An ihre
Stelle träte eine unkontrollierbare Vielfalt und allgemeine perspektive
Brechung. (Baasner, 119f.) 2. Dekonstruktion richtet sich gegen die
vereinheitlichenden Leistungen des gesamten traditionellen abendländischen
Denkens und seine Ausrichtung auf die Vernunft, die polemisch und abwertend als
‘Logozentrismus’ bezeichnet wird. Dekonstruktion deckt auf, dass die
vermeintlich feststehenden Begriffe, Denkoperationen und Sinnvorgaben nur
intellektuelle Konstruktionen sind, die mit dem Ziel der Herrschaftsausübung
und der einseitigen Festlegung philosophischer Grundsätze erfolgen (Normierung,
Systematisierung). Eine der wichtigsten Instanzen dieser Herrschaftsausübung
ist der Begriff des selbstbewussten Subjekts. Die kritisierten Konstruktionen
seien entweder in ihrer Herkunft auf ein außerweltliches Prinzip bezogen – und
damit ‘theologisch’ –, oder aber zielgerichtet auf einen nur unterstellten,
unbeweisbaren Fluchtpunkt der Geschichte – und somit teleologisch. Diese
Fluchtpunkte sind metaphysisch begründet, das heißt, sie sind der Erfahrung
oder Beobachtung entzogen und nur in Annahmen der Vernunft vorhanden; sie
lassen sich deshalb nur aufrechterhalten, indem der Logos die einseitige
Durchsetzung seiner Prinzipien betreibt. Jedes festgefügte wissenschaftliche
System habe einen solchen letzten metaphysischen Bezugspunkt, freilich ohne
sich dies selbst auch nur einzugestehen. Dagegen richtet sich die
Metaphysikkritik der Dekonstruktion. (Baasner, 120) 3. Das Kunstwort Dekonstruktion deutet die kritische
Absicht schon an, die überall beobachteten Konstruktionen auseinander zu
nehmen, um auf ihre Konstruiertheit aufmerksam zu machen und sich durch diese
Offenlegung ihrem Machtanspruch zu entziehen. Der Terminus weist bereits darauf
hin: er setzt sich aus den Komponenten Destruktion und Konstruktion
gleichberechtigt zusammen, will also nicht das Denken zerstören, sondern es
zerlegen und wieder zusammenfügen. Dies dient dazu, die lang eingeführte
Selbstverständlichkeit impliziter Konstruiertheit sichtbar zu machen und aus
einzelnen herausgetrennten Versatzstücken probeweise andere Gedankengefüge zu
errichten. Dekonstruktion erhebt den Anspruch, aus den Horizonten der auf Logik
ausgerichteten Wissenschaften auszubrechen und außerhalb von deren System sowohl
anders zu denken als auch dementsprechend sprachliche Äußerungen anders zu
interpretieren. Die Perspektive richtet sich auf jene Bereiche, die die
herkömmlichen Ansätze durch methodische Klärungen und Festlegungen ausgrenzen
wollen, weil sie als begrifflich nicht fassbare Elemente die Geltung,
Reichweite und zum Teil sogar die Möglichkeit wissenschaftlicher
Begriffsbildung überhaupt in Frage stellen. Zu diesen aufsässigen Aspekten
gehören unter anderem Züge des Spiels,
der Vieldeutigkeit, der Übertretung von Grenzen, der Verschiebung von Bedeutungen im Umgang
mit Zeichen. Es habe keinen Sinn, Klarheit und Deutlichkeit zu
erwarten; begründet wird die Angemessenheit solcher Opposition zur
logozentrischen Wissenschaftlichkeit durch die Beobachtung, dass solche
widerständigen Denkmöglichkeiten immer schon bestehen, bevor die Herrschaft des
Logos sie durch Ausgrenzung beseitigt: Vielfalt und Uneindeutigkeit seien
früher dagewesen als Ordnung und Logik – und damit nicht allein der Sprache
ursprünglich gemäß, sondern darüber hinaus Opfer der Geschichte des Denkens.
Das zielt auf eine Generalabrechnung mit philosophischen Positionen. (Baasner,
120f.) 4. Derrida nimmt als Ausgangspunkt seiner Überlegungen
eine Aufwertung der Schrift gegenüber dem gesprochenen Wort vor. Begründet
werden soll die Wissenschaft von der Schrift, die Grammatologie. Die Vorstellung von Schrift wird hier abgesetzt
gegenüber Saussures Auffassung, es handle sich um ein der Sprache fremdes, ihr
nur willkürlich zugeordnetes Aufzeichnungssystem. Saussures Trennung zwischen
gesprochener Sprache (phoné) und
Schrift (gramma) bevorzugt die
erstere, die allein die Präsenz der Zeichen jeweils unverändert gewährleiste.
Im Gegensatz dazu erklärt Derrida die Schrift zur ursprünglichen Äußerungsform. Schrift ist das material Überlieferte, das selbst nicht
reden kann; sie bedarf deshalb immer der Auslegung. Und durch diese Eigenheit
droht die Schrift das Geschäft der Bedeutungszuweisung kompliziert zu machen –
wenn nicht gar zu stören. Für Derrida sind diese störenden Eigenschaften so
stark, dass die Schrift im Grunde aus dem Geltungsbereich strukturalistischer
Zeichentheorie ausgeschlossen werden müsse. Aus der widerspenstigen Schrift
wird gewöhnlich erst durch Regeln, durch Konventionen etwas Eindeutiges
gemacht. So stellt nach Saussure Schrift Signifikanten bereit, die ihrerseits
auf die phonetischen Signifikanten verweisen: die Schriftzeichen sind nur
Stellvertreter für die phonetische Seite der Zeichen der gesprochenen Sprache,
sie sind ‘Signifikanten der Signifikanten’. Dieses Platzhalterwesen ist jedoch
für Derrida problematisch. Der notwendige Zusammenhang von Signifikat und
Signifikant wird durch die sekundäre Verweisung in Frage gestellt. Das
sprachliche Zeichen vermittelt somit immer nur eine Bedeutung, die ihm nicht
präzise und unveränderlich zugeordnet ist, sondern in der Kette der Verweisungen verwischt, undeutlich wird. (Baasner, 122f.) 5. Als sekundäres Zeichensystem kann die Schrift nur von
bereits konstituierten Bedeutungseinheiten ausgehen. Die Folgerung lautet, dass
alle Zeichen letztlich eine solche fortlaufende Verweisung enthalten, dass also
Saussures Behauptung, Zeichen seien durch Differenz präzisierte Einheiten von
Signifikant und Signifikat, nicht aufrecht erhalten werden kann. Die Verweisung
der Signifikanten auf andere Signifikanten, ihre ‘Verdoppelung’ im ‘Spiel’ der
Verweise verhindere die Rückführung auf präzise Bedeutungen, die
Vervielfältigung sei nicht reduzibel auf Einheitlichkeit. Um den Prozess der Bedeutungsstreuung zu bezeichnen,
verwendet Derrida den Begriff dissémination.
Auch dieser Terminus stützt sich auf ein Wortspiel, denn das Wort bezeichnet
die Abweichung vom ‘sem’ (dem Element der Semantik) und spielt zugleich auf
‘semer’, das französische Wort für ‘säen’ an. In der Zerstreuung der
Signifikate findet die Aussaat der anderen Bedeutungen, der Abweichung, statt.
Diese Eigenschaft der Zeichen wird schließlich generalisiert; sie gilt nicht
allein für die Schrift, sondern für alle Zeichen schlechthin. „Es gibt kein Signifikat,
das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die
Sprache konstituiert“. (Derrida 1974, 17) (Baasner, 123) 6. All das geht verloren, was in der strukturalistischen
Zeichentheorie, und über sie hinaus in allen Bemühungen der abendländischen
Philosophiegeschichte, einst Sicherheit stiften sollte: „Präsenz des
Gegenstandes, Präsenz des Sinns im Bewusstsein, Präsenz des Selbst in dem, was
man das lebendige Sprechen nennt, und im Selbstbewusstsein“. (Derrida 1986, 36)
Auf der Strecke bleibt auch die Instanz, die in anderen Theorieentwürfen die
Einheit durch Selbstbewusstsein und Identität mit sich selbst gewährleistet:
das Subjekt. Die Zeichen sind im gramma sie selbst, ohne auf die
(hermeneutische) Realisierung durch ein ihnen äußerliches einheitliches
Denkzentrum angewiesen zu sein. Das Spiel erfolgt ohne Halt oder auch nur
Einmischung durch ein Subjekt, der Theorieentwurf ist subjektdezentriert.
(Baasner, 123f.) 7. Die terminologische Neubildung différance verändert an der Schreibweise des französischen Wortes
‘différence’ nur einen Buchstaben. Es tritt eine Verbindung ein zwischen
‘Differenz’ und ‘aufschieben’, die eine Kritik am strukturalistischen
Zeichenbegriff enthält. Die Differenz reicht nach Saussure als Unterscheidungskriterium
aus, um die Zeichen nicht nur wiedererkennbar, sondern vor allem
bedeutungsgleich wiederholbar und damit konstant zu machen. Die Differenz
schafft Identität des Zeichens mit sich selbst über Zeit und Raum hinweg,
solange die Semantik historisch einigermaßen stabil bleibt. Derrida betont
demgegenüber, dass die bedeutungsgleiche Wiederholung ein und desselben
Zeichens praktisch unvorstellbar sei. „Kein Element kann je die Funktion eines
Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element,
das selbst nicht präsent ist, zu verweisen“. (Derrida 1986, 66f.) Das
Verschieben und Aufschieben von Relationen bewirkt eine stetig neue
Bedeutungsproduktion, dien „Produktivität“ der différance. Was entsteht, sind
überraschende, divergente Bedeutungs- und Sinneffekte. (Baasner, 124f.) 8. Dekonstruktion
bezieht sich in einer doppelten Geste (der Umwertung und der Verschiebung) auf
die Ordnung polarer und hierarchischer Oppositionen, in der sich die Metaphysik
der Präsenz formuliert. Sie schließt an die Metaphysik-Kritik Nietzsches,
Heideggers und Freuds an. Metaphysik der
Präsenz ist der ‘Glaube’ an die zeitliche und ontologische Priorität der
reinen mit-sich-identischen Präsenz. Sie manifestiert sich in der Ordnung von
intern hierarchisierten Dichotomien. Diese Anordnungen in Oppositionen wie: das
Sein – das Nichts, Präsenz – Absenz, Wahrheit – Irrtum, Identität – Differenz
usw. bestimmen den zweiten Term jeweils als die bloß negative, korrupte und
unliebsame Version des ersten: So ist Absenz das Fehlen von Präsenz, das Böse
der Abfall vom Guten, Irrtum die Störung der Wahrheit. Diese hierarchischen
Oppositionen sprechen dem ersten der beiden Terme Priorität zu, privilegieren Einheit, Identität, Unmittelbarkeit und
temporale wie räumliche Präsenz vor Abstand, Differenz, Verstellung und
Aufschub. Um die Priorität der reinen Differenz und der Identität
(-mit-sich-selbst) zu sichern, bedarf es des komplementären, rein zu
unterscheidenden und polar entgegengesetzten Anderen, das als ein ontologisch
nach- und untergeordnetes Außen, als
Komplikation, als Negation oder Zerstörung der ‘Präsenz’ gedacht wird. Was sie
derart aus sich ausscheidet und sich entgegensetzt, unterstellt sie sich im
Modell der hierarchisierten Opposition und in den Schemata von: Dialektik, Teleologie oder Eschatologie. Diesem Modell entspricht das für die Philosophie und das
abendländische Denken charakteristische Ideal des sich selbst vollständig
präsenten Sinns, das mit Derrida Logozentrismus genannt werden kann. (Menke 2,
116f.) 9. Gegen das ‘Ideal’ des sich selbst vollständig präsenten
Sinns intervenieren dekonstruktive Lektüren. Die Sprache und die Texte werden
nicht nur von der Philosophie, sondern auch in Modellen der Literatur dem
Primat der Wahrheit, eines Sinns, den sie zu sagen haben, unterstellt. Die
Verpflichtung der Sprache auf den Sinn soll das ‘Heilsein’, die Reinheit, die
Identität der Wahrheit sichern. Eine Garantie von Bedeutung und Wahrheit der
Sätze ist aber so gewaltsam wie unmöglich: Denn insofern die Wahrheit in
der Sprache ihre Repräsentation suchen muss, überlässt sie sich einem Aufschub
der Präsenz. Die Ordnung reiner Oppositionen von Präsenz/Absenz und
Identität/Differenz selbst ist unhaltbar. Wenn die hierarchisierenden
Oppositionen, die die Priorität der Präsenz und der Identität begründen wollen,
dekonstruktiv gelesen werden, dann wird nicht nur die traditionelle Wertung der
beiden Pole umgekehrt. Als „doppelte Geste“ nimmt Dekonstruktion (1.) „eine
Umkehrung der klassischen Opposition und (2.) eine allgemeine Verschiebung des
Systems“ vor. (Derrida 1988, 313) (Menke 2, 117) 10. Wenn Begriffe wie der der Identität, wenn Werte wie
Wahrheit und Subjekt dekonstruiert werden, so geschieht dies nicht aus
Feindseligkeit gegenüber Werten überhaupt oder moralischen Werten der
westlichen Zivilisation im Besonderen, sondern um zu ‘verstehen’, wie diese Werte schon immer von sich
selbst differieren. (Menke 2, 118) 11. Schrift ist das Stichwort, das mit Derrida am
ehesten in Verbindung gebracht wird. In frühen Texten finden sich (1) systematische
Demonstrationen dessen, was dekonstruktives Lesen genannt werden kann, und (2)
Exemplifizierungen, die insbesondere dessen sprachtheoretische Relevanz
ausspielen. (Menke, 243) 12. a) Die Opposition von ‘Stimme’ und ‘Schrift’ setzt
nicht nur beide einander entgegen, sondern enthält eine Wertung: die
unmittelbare Aussprache eines Innern, eines Subjekts und seiner Intentionen
wird der ‘Schrift’ entgegengesetzt, die sich im Veräußerlichen vom Innern und
dem Leben der Intention ablöse und insofern tot, festgeschrieben und unkontrollierbar sei. Die darin
enthaltene Abwehr der verderbenden Schrift ist symptomatisch und exemplarisch
für metaphysische Modelle. Derrida spricht von einem fundamentalen
Phonozentrismus der Philosophie: Die „Privilegierung der Stimme“ ist eine
Formulierung des für die westliche Kultur grundlegenden Ideals einer sich
selbst vollständig präsenten Bedeutung, das Derrida Logozentrismus nennt. Sie
„verschmilzt“, so formuliert Derrida, mit der Metaphysik der Präsenz. Im Phonozentrismus manifestiert sich der
‘Glaube’ an den zeitlichen und ontologischen Vorrang der reinen
mit-sich-identischen Präsenz. Diese muss sich in der Ordnung hierarchisierender
Oppositionen ausprägen; diese ordnen die Absenz (der Priorität) der Präsenz,
den Irrtum (als deren Abweichung) der Wahrheit, die Differenz (der Kontrolle)
der Identität unter, integrieren sie und wehren sie ab. Das Postulat des
Vorrangs der authentischen Stimme vor der angeblich nur sekundären, die
Sprachlaute abbildenden, aber falsch
wiedergebenden und insofern verderbenden Schrift fügt sich diesem Modell ein:
Um das Konzept der Unmittelbarkeit der Selbst-Aussprache (das ‘Stimme’ heißt),
der Selbstpräsentation des Sinns (Logozentrismus) und um mit der Transparenz
des Ausdrucksmediums die Bedeutung und Wahrheit der Sätze zu garantieren,
werden unter dem Namen der ‘Schrift’ Differenz und Abwesenheit abgewehrt: 1.
durch die Unterordnung der Schrift
unter die Stimme als deren bloße Wiedergabe, 2. durch die Verwerfung der Schrift als inadäquater
Wiedergabe. Die Illusion der Durchsichtigkeit der Sprache, die sich als
bloßes Transportmittel möglichst restlos in der ‘Botschaft’ auflösen sollte,
ist darum seit Platon mit dem Vorrang der Stimme und einer Abwehr der Schrift
verbunden. Ihr steht die Schrift
entgegen, die aus der Kontrolle durch den Autor und die Intention stets schon
entlassen ist und darum Distanz, Differenz und Tod einschließt. In der Abwehr
der Schrift soll eine Unkontrollierbarkeit der Sprache abgewehrt werden, die
mit dem repräsentationistischen Regime der Präsenz über eine angeblich bloß
nachgeordnete Abwesenheit und Repräsentation bricht. (Menke 2, 121f.) b) Saussure nimmt einen massiven Ausschluss vor: Schrift,
in ihrem Charakter der Sekundarität und Abgeleitetheit, sei nicht nur ohne
Relevanz für das Gebiet der Sprachwissenschaft, sondern darüber hinaus Ursache
einer Reihe schwerwiegender Irrtümer in den bisherigen Arbeiten zur Linguistik.
(Pross, 412) 13. In jedem Rückgang auf eine vorausgesetzte Einheit wird
eine Ergänzung notwendig, in jeder Supplementierung
aber wird nicht Ganzheit erreicht, sondern eine Doppelung und eine Spaltung
vollzogen. Die vorausgesetzte Einheit ist nicht, ist nie aufzufinden. Was als ein nicht erreichtes Erstes, Ursprüngliches
gedacht wurde, erweist sich als das Produkt und als ein Parasit seiner Wiederholung, seiner Ersetzung und
Ergänzung. Diese ‘befremdliche Struktur der Supplementarität’ subvertiert die
„Logik der Identität“, die die Differenz und die Abwesenheit nur als das
bedrohliche Draußen eines reinen, erfüllten, mit sich identischen Innern denken
kann. Die begründende unbegründbare, die undenkbare
‘ursprüngliche’ Differenz benennt
Derridas Begriff différance. Sie
mutet zu, eine „radikale Andersheit im Verhältnis zu jeder möglichen
Gegenwart“, zum Subjekt und zur Wahrheit zu denken, durch den „irreduziblen
Effekt des Nachher, der Nachträglichkeit“, der damit für jede Gegenwart
eintritt. (Menke 2, 122ff.) 14. Derridas ‘Schrift’(-Begriff) ist einerseits eine
Umkehrung der metaphysischen Hierarchie,
eine Vertauschung von ‘oben’ und ‘unten’, insofern sie dem „von der Tradition
am meisten in Misskredit gebrachten Gegenpol Allgemeinheit“ verleiht. Die
„zweite Geste“ der Dekonstruktion ist die „allgemeine Verschiebung des Systems“
selbst der Oppositionen und der Rangordnung. (Derrida 1988, 313f.) Schrift bezeichnet mit der Abwesenheit,
für die sie steht, also gerade als
die ‘Gefahr’, dass die Sprache nicht auf die Wiedergabe des Gemeinten zu
verpflichten ist, ein Funktionieren aller
Zeichen. Der dekonstruktive Einsatz der Schrift unterläuft das Projekt, an dem
die Literatur wie die Philosophie teilhat, das Projekt nämlich, dass die Texte
sich ‘im Angesicht’ des ‘Inhalts’, den sie meinen, transportieren und lehren,
selbst auslöschen. Die Distanz, die für die Metaphysik der Präsenz ‘Tod der
Unmittelbarkeit in der Schrift’ heißt, kann umgewertet und bejaht werden als
produktive Unkontrollierbarkeit der
Supplementierungen. Die Schrift setzt das Bedeuten einem Spiel der Ersetzungen
aus, das der Kontrolle durch Intention und Sinn nicht untersteht. Die Produktivität der Schrift heißt auch dissémination. Die Dissémination ist eine irreduzible
Polysemie, die dem Horizont der Einheit des Sinns und insofern dem
hermeneutischen Zugriff entgeht. (Menke 2, 122, 124) 15. Die das Eigene mit dem Anderen infizierende Differenz
kontaminiert die metaphysischen Oppositionen und die in diesen gegründete Logik
der Identität. Andersheit zu denken heißt nicht, dem Identischen dessen
komplementäres Gegenteil entgegenzusetzen, sondern das angeblich
Mit-Sich-Identische zu lesen in seiner Angewiesenheit auf und seine
Infiziertheit durch sein angeblich polares Gegenteil. Dekonstruktion liest in
den polaren und hierarchischen Oppositionen die diesen zugrundeliegende
Differentialität, die von diesen ausgeschlossene und subordinierte
unentscheidbare Ambiguität. Dekonstruktion artikuliert die in allen Oppositionen
verdrängte Differentialität. Denn die „Differenzen zwischen Entitäten (Prosa und Poesie, Mann und Frau, Literatur und
Theorie, Schuld und Unschuld)“ beruhen „auf
Verdrängung von Differenzen innerhalb
der Entitäten“. Die differentielle Lektüre von binären Anordnungen erweist
diese als ‘illusionäres’ Produkt von in ihnen verdrängten Differenzen. Und sie
artikuliert, was der „Logik der Identität“, was den polaren Oppositionen
entgeht (obwohl es diese begründet), was in den Texten (entgegen dem, was sie
vielleicht behaupten wollen) als Ausgeschlossenes und in den binären Ordnungen
Verdrängtes gelesen werden kann. Differentielle Lektüren lesen den Text als
Gewebe aus Differenzen, innen durchzogen von dem Anderen im Selben. Dieses kann nicht erneut in der Form einer Opposition
gedacht werden und ebenso wenig als ein Resultat, als eine dritte Position jenseits
der Oppositionen. Es lässt sich keine ‘Position’ der Dekonstruktion in der
Fiktion eines „absoluten Einschnitts oder Bruchs“ stiften. ‘Es gibt nicht’
einen absolut außerhalb liegenden Ort zu erreichen. Darum gibt es für die Texte (Derridas) keine Trennung von
Objekt- und Metasprache. Was die Texte Derridas ‘sagen wollen’, kann nicht
(bloß) als Aussage, sondern muss in der Exposition jener Elemente, die das
Aussagen hintertreiben, gelesen werden. Verwiesen wird dabei auf einen
a-topischen Ort des „Un-Denkbaren“, der der Ordnung der Oppositionen, die
andererseits stets wiederaufgerufen ist, entzogen ist. (Menke 2, 124ff.) 16. Im Begriff des Zeichens
ist (auch traditionell) die abwesende Präsenz mitgedacht: Bezeichnet wird, was
nicht da ist. Das Zeichen bleibt aber in seiner ‘klassischen’ Fassung noch an
die Fiktion einer möglichen Ankunft bei (oder Herkunft aus) einer Präsenz
gebunden. Den Aufschub, der im Bezug auf eine vorausliegende oder endlich
eintretende Präsenz als ein bloß vorübergehender gedacht wird, radikalisiert
Derridas Lektüre dieses Modells zu dem eines Unterwegs ohne Ankunft und ohne
Rückkehr. In dieser Radikalisierung des Konzepts des Zeichens löst sich das
Zeichen aus dem zweiwertigen Modell und tritt, als das diesem Modell zufolge
Sekundäre und Vermittelnde, an die Stelle von etwas, das nie von ungebrochener
Präsenz war, bevor es sich re-präsentierte. (Menke, 245) 17. Die „Metaphysik der Präsenz“ (d.i. die Metaphysik) unterliegt der
Vorstellung einer ungeteilten, restlos bei sich seienden, mit sich identischen
Anwesenheit, deren Möglichkeit und deren Vorrang allein innerhalb der
hierarchisierenden Opposition von Präsenz und symmetrisch dieser zugeordneter
und insofern depotenzierter Absenz gedacht werden kann. In der Formulierung Saussures sind sprachliche Elemente,
Zeichen „rein differentiell“ gegeben, d.h. „nicht positiv durch ihren Inhalt,
sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Termen des Systems
definiert. Ihr genauestes Charakteristikum ist, dass sie das sind, was die
anderen nicht sind“. An die Stelle der Begründung der ‘Differenz’ durch ein
dieser vorangehendes Mit-sich-Identisches tritt bei Derrida die Begründung
dieses durch jene: die Differenzen produzieren erst, was allenfalls als
Element, als ‘Etwas’ auftreten kann. Es ist
erst durch dieses, durch das also, was es nicht
ist. Die differentielle Bestimmtheit aller sprachlichen Elemente hat diese
selbst schon immer ergriffen: jedes Gegenwärtige ‘ist’ nur in dem und durch
das, was es nicht ist. Die Verweisungen, Bezüge und Unterscheidungen, die es
erst konstituieren, schreiben sich in dieses ein, markieren es und
spalten/differieren es von sich selbst. Insofern sind die Konzepte der Präsenz
und des Präsenten abgeleitet: ein „Effekt“ von Differenzen. Différance benennt
die alles ‘Etwas’ erst produzierende spaltende, vervielfältigende Einschreibung
des konstitutiven, unterscheidenden Bezuges eines Elements auf das, was es
nicht ist. Sie macht die hierarchisierende Opposition von ungeschiedener
Identität und sekundärer Vielheit unhaltbar und holt diese ein. (Menke, 246f.) 18. Die differentielle Bestimmtheit aller sprachlichen
Identitäten nach Saussure unterminiert auch jenes Modell des Zeichens, das noch
in der begrifflichen Opposition von Signifikat und Signifikant auftritt. Ihre
Hierarchie ist im Zeichen solange vorausgesetzt, wie der Prozess des Bedeutens
als ein abschließbarer konzipiert wird und er als seinem telos einem ‘Signifikat’ unterstellt wird. Das Konzept des Zeichens
schreibt sich ein in die Reihe der metaphysischen Oppositionen von Außen und
Innen, Körper und Seele usw. Die ‘metaphysische’ Opposition will mit ihrer
impliziten Hierarchisierung, die ihren einen Pol ihrem anderen unterstellt,
ihre eigene Auflösung. (Menke, 247) 19. Die Texte Derridas stellen „das System selbst“, in dem
diese Oppositionen, ihre Hierarchie und ihre Teleologie funktionieren, in
Frage. Sie werten nicht nur die Hierarchie der Oppositionen um, sondern
subvertieren die Oppositionsbildung selbst. In Umsturz und Überschreitung der Oppositionen besteht die doppelte Gebärde der De-kon-struktion.
Für die Entgegensetzung von Signifikat und Signifikanten heißt das: Mit
Saussure/gegen Saussure weist Derrida auf, dass es Bedeutung nicht als solche
‘gibt’, weil jedes Signifikat in die ‘Bewegung
des Bedeutens’, deren Effekt es ist,
erneut als Signifikant zurückgestellt werden kann/muss. Derridas Lektüre zieht
die Differenz von ‘Signifikat’ und ‘Signifikant’ ein – und weiß, dass sie dies
nicht kann. Die ‘doppelte Geste’ der Dekonstruktion exponiert die
Differenz des angeblich mit sich Identischen von sich selbst. Dadurch
subvertiert sie die metaphysischen Modelle von Wahrheit und Sprache, die auf
die Polarität von Identität und
Differenz, Innen und Außen, dem Selben und dem Anderen setzt. Die Gebärde des
radikalen Abschieds von der Metaphysik, die meinte, sich der „metaphysischen
Komplizenschaft“ entledigen zu können, wäre regressiv, weil sie die Differenz
löschte. (Menke, 247f.) 20. Was traditionell als ein ‘Jenseits’ (als Ursprung,
Telos, Zentrum) gedacht wurde, ist eingeschrieben im Text, als Spaltung/Spalte,
die den Text in jedem seiner Elemente durchzieht. Mit der Dekonstruktion ist daher keine neue Position und
kein neues Paradigma erreicht; es ‘gibt’ keine Grenze des Textes der
Metaphysik, jenseits derer der Text sich befinden könnte; es gibt keinen
„entscheidenden Bruch“ mit der Metaphysik und ihren Oppositionen. (Menke,
250f.) 21. Die ‘befremdliche Struktur’ der Schrift ist ‘schon immer’ die Struktur dessen, der ‘lebendigen
Rede’, gewesen, wovon sie angeblich die bloße, falsche Wiederholung und
parasitäre Fixierung ist. Gegen die „Logik der Identität“ erklärt die ‘andere’
Logik des Supplements das angeblich
Primäre und alle Wiederholung Begründende zum paradoxen Produkt seiner
Wiederholung. Was als ein Eigentliches, als ein vorausliegendes oder als telos erwartetes Erstes gedacht wurde,
ist also selbst parasitär gegenüber dem, was es angeblich bloß darstellen oder
vorübergehend ersetzen soll. (Menke, 252) 22. Zu den bekanntesten Strategien Derridas gehört die
Ver-/Ent-Wendung von ‘Namen ‘ als Paläonymen:
ein ‘alter Name’ wird für einen neuen Begriff genommen, entwendet oder
aufgepfropft. Diese Bildungen sind instabil. Insofern das Paläonym, der alte Name in neuer Verwendung, wenn auch umwertend,
seinen alten Kontext erinnert, prägt sich in ihm und seiner Entwendung die
doppelte Geste des de-kon-struktiven Lesens aus. Die Ausstellung der eigenen
Textualität kennzeichnet Derridas Texte nicht als ästhetische, sondern ist
selbst ein theoretischer Zug. In Derridas Texten sucht die ‘Rhetorik’ des weder innen noch außen und sowohl innen
als auch außen, was innerhalb der
Logik der Identität und der Oppositionen, die zitiert werden, ausgeschlossen
ist, einen atopischen Ort des Un-Denkbaren zu eröffnen, und zwar ohne dass
dieser erneut – begrifflich mit-sich-identisch – einnehmbar werde. Derridas
Texte hintertreiben die Restitution ‘identischer’ Begriffe ebenso, wie sie auch
den Gestus des vielsagenden Schweigens (des Wissens für Eingeweihte) vermeiden,
der wiederum ein Unsagbares (ganz Anderes) zu implizieren schiene (gemäß der
geläufigen Rhetorik ‘negativer Theologie’). Die Texte Derridas machen sich (zunehmend) zu Schauplätzen
permanenter Hintertreibungen einer ‘begrifflichen’ Restitution, einer
Restitution, die doch nie vermieden werden kann. (Menke, 254ff.) 23. Es ist keineswegs sicher, dass ein Schreiben über die
Dekonstruktion überhaupt möglich ist. Über etwas schreiben heißt, dass das
eigene Schreiben von dem behandelten Gegenstand getrennt ist, dass es sich mit
ihm nicht mischt und nicht vermengt. Über einen Gegenstand schreiben heißt
auch, dass der Erkenntnisprozess beim Schreiben in eine Richtung läuft: Das Schreiben weiß um seinen Gegenstand, der
Gegenstand aber nicht um das Schreiben. Nun haben Jacques Derrida wie auch Paul
de Man zu zeigen versucht, dass das Schreiben über einen Gegenstand in diesem
Sinn nicht möglich ist. Das ‘Reden über’ wird in der Literaturwissenschaft wie
auch in der Linguistik durch die Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache
ermöglicht. In diesen Disziplinen ist der Gegenstand, über den man redet,
selbst eine Art Reden: Man redet über das Reden. Das Reden des Gegenstands
nennt man Objektsprache, das eigene Reden über das Reden des Gegenstands nennt
man Metasprache. Häufig aber bereitet das Abgrenzen der Metasprache von der
Sprache ihres Gegenstands mehr Schwierigkeiten, als man erwartet. (Martyn, 664) 24. Die Abgrenzung einer Metasprache ist dann unmöglich,
wenn die ‘Objektsprache’ selbst ihre eigene Metasprache ist – wie z.B. im Text Fabel von Francis Ponge. Die Vermutung
liegt nahe, dass die Literatur generell kein bloßes Medium für die
Kommunikation über etwas anderes ist, sondern dass in ihr das Medium selbst zum
Thema wird. Die Literatur spricht demzufolge nicht in erster Linie ‘über’ etwas,
sie stellt sich selbst in den Vordergrund, sie redet ‘über’ sich. Dann wäre es möglich, dass die Literatur ihre
eigene Metasprache ist und dass es daher keine weitere Metasprache ‘über’ sie
geben kann. Wenn aber die Literatur ihre eigene Metasprache ist, gibt
es keine Literaturwissenschaft, sondern allenfalls einen akademischen Diskurs,
der sich mit Literatur beschäftigt. Er stünde angesichts der Unmöglichkeit
eines wissenschaftlich streng objektiven Zugangs zur Literatur vor folgenden
Alternativen. Er könnte seine fehlende Objektivität zu übersehen oder zu
verhehlen suchen; er könnte sie beklagen; er könnte sie durch Anleihen, die er
bei anderen Wissenschaften macht, zu kompensieren versuchen. Oder er könnte in
der Unmöglichkeit einer Metasprache ‘über’ die Literatur deren Besonderheit
situieren und sie explizit thematisieren. Die Dekonstruktion wählt den zweiten
Weg: Sie zeigt, wie der eigene Diskurs über die Literatur immer hinter das
zurückfällt, was die Literatur selbst immer schon über sich sagt. (Martyn, 668) 25. Différance bezeichnet
eine Differenz, die den Zugang zu dem, was man als ein vor jeder
Differenzierung für sich Anwesendes denken könnte, wie etwa ein für sich
bestehendes Sein oder ein für sich bestehender Sinn, unaufhaltsam verschiebt.
Begriffe wie Iterabilität, Spur oder différance
gehorchen selbst dem Gesetz der Dekonstruktion, das sie benennen. Sie sind
selbst der Iterabilität ausgesetzt, denn sie sind nicht einmalig und haben
keinen eigenen oder privilegierten Kontext oder Gebrauch. (Martyn, 670) 26. Auch beim bekannten Goethe-Gedicht, das mit Ueber allen Gipfeln/Ist Ruh’ beginnt,
lässt sich zeigen, dass eine inhärente Selbstreflexivität der Literatur die
Abgrenzung eines metasprachlichen literaturwissenschaftlichen Diskurses
verhindert. Es bleibt eine Distanz zwischen dem Gedicht als Sprache und der in
ihm beschriebenen Stille. Mag der Dichter seine wortmalerischen Künste bemühen
wie er will: Die Vögelein schweigen, er aber nicht. Er verletzt die natürliche
Stille, indem er sie beschreibt. Das Gedicht exemplifiziert die unüberbrückbare
Kluft zwischen einer menschlichen, zum Beschreiben beschränkten Sprache und
einer stummen Natur, die nichts beschreibt, weil sie auch nicht spricht. Diese Kluft wird von den Lesern des Gedichts auf
symptomatische Weise übersehen oder verdrängt. Das, was der Text besagt (die
Natur schweigt), widerspricht dem Gefühl, das er bewirkt (die Natur spricht).
Seine konstative Aussage unterminiert seine performative Wirkung. Die Sprache von Goethes Text ist selbst schon Metasprache:
Sie kommentiert die irrtümliche Verwechslung von Natur und Sprache, die sie
selbst bewirkt. Insofern ist Goethese Gedicht auch ein selbstreferentieller
Text. Diese Selbstreferentialität hat zur Folge, dass die Abgrenzung eines
metasprachlichen Diskurses ‘über’ diesen Text problematisch wird. (Martyn,
672ff.) 27. In dem Maße, wie die Dekonstruktion die vielfältigen
Abhängigkeiten der Wissenschaften von der Tradition der Metaphysik freilegt,
kann das Paradigma Wissenschaft nicht mehr den unverbrüchlichen Boden der
dekonstruktiven Projekte abgeben. Der Versuch einer wie auch immer gearteten
Rückführung dieses Denkens wäre nur um den Preis einer Leugnung dieser Geste
der Selbstbefragung möglich. (Pross, 409f.) 28. Metaphysik-Kritik über den Weg einer Neubewertung des
Begriffs des sprachlichen Zeichens stellt die allgemeinste Form der
Auseinandersetzung von Textualität und Philosophie im Werk Derridas dar. Die
Argumentation Derridas zielt darauf, über eine kritische Lektüre der modernen
Zeichentheorie fundamentale Vorgaben der abendländischen Metaphysik und deren
oft untergründige Wirkung in den modernen Wissenschaften in Frage stellen zu
können. (Pross, 410) 29. Die untersuchten Texte sind nicht bloßes Objekt der
Untersuchung. Es gehört zu den entscheidenden Gesten der Dekonstruktion, ihr
kritisches Vokabular gerade aus den gelesenen Texten selbst zu gewinnen. Der Terminus ‘Dekonstruktion’ knüpft an Heideggers
Formulierung von der Destruktion der Geschichte der Ontologie an.
Dekonstruktion ist als Verfahrensweise konzipiert, die sich bewusst dem
„Paradox“ aussetzt, Kritik als „Verstellen“ semantischer Prämissen im Register
der sprachlichen Strukturen und Werte selbst zu entfalten, die ihr Gegenstand
vorgibt. Es ist problematisch, ‘die Dekonstruktion’ als Singular im Sinne eines
methodologisch definierten Verfahrens der Textanalyse zu beschreiben: Denn in
dem Maße, wie Dekonstruktion nur als Bewegung des Lesens im Sinne der
nachvollziehenden Lektüre der prozessualen Sinnkonstitution und -durchkreuzung von
Einzeltexten existiert, lassen sich nur je unterschiedliche Dekonstruktionen
beschreiben.(Pross, 411) 30. Zu Derridas Saussure-Lektüre: Nachdem die den Text von
Saussure organisierende Opposition von „écriture“ und „voix“ („parole“) zutage
getreten ist und die massive Privilegierung eines der Terme gezeigt werden
konnte, unternimmt es Derrida in einem zweiten Schritt, bei Saussure solche
Denkfiguren auszumachen, die den erklärten Vorannahmen in zunehmendem Maße
widersprechen und den Weg eines alternativen Denkens der Schrift und der
Konstitution von Sinn in Texten weisen. Es sind dies die Prinzipien der Arbritrarität des sprachlichen Zeichens
und der rein differentiellen
Konstitution von Bedeutung in der „langue“. (Pross, 414f.) 31. Die Dekonstruktion erscheint für einen Moment als eine
Art ‘Psychoanalyse’, die den nicht reflektierten Vorannahmen und Anliegen des
wissenschaftlichen Diskurses nachgeht. (Pross, 416) 32. Die Phänomene von Bedeutung und Sinn können nicht mehr
in Begriffen von Präsenz beschrieben werden: Dagegen eröffnet sich die Struktur
eines unabschließbaren Verweisungsprozesses, in dem kein Element in dem Sinne
privilegiert ist, dass diese Bewegung in ihr zum Stehen käme. Derrida
interpretiert die Geschichte des abendländischen Denkens, die Epoche der
Metaphysik, gerade als Folge von Setzungen solcher ausgezeichneter
transzendentaler Signifikate: Sein, Idee, Wahrheit, ratio, Ich, Gott, Mensch
usw.; Entitäten, die am Ursprung des Ganzen der Welt und somit ihrer
Interpretation stehen, die alles, was existiert, organisieren, selbst aber
außerhalb einer solchen Struktur stehen. Dahinter steht das Bedürfnis, in
dieser Struktur einen ruhenden Pol auszumachen. Saussures Denken der Differenz stellt sich dann dar als
Ereignis einer Dezentrierung der Struktur, einer Entgrenzung des Spiels: Vor
dem linguistischen Modell der rein differentiellen Konstitution von Bedeutung
offenbart sich die Setzung transzendentaler Signifikate als Befriedigung eines
„Verlangen[s] nach einem Zentrum“. (Derrida 1972, 424) Dezentrierung heißt
dann: die Aufgabe aller transzendentalen Signifikate. (Pross, 417f.) 33. Die Frage nach dem letztlichen Träger oder Ursprung
der Differenzen in einer „langue“ wird nicht beantwortet; „différance“ nimmt
nicht die Stelle dieses Ursprungs ein, sondern bezeichnet als Konzept genau den
Sachverhalt der Ursprungslosigkeit; damit soll die Möglichkeit eröffnet werden,
Phänomene anders als über ihre Rückführung auf einen Ursprung zu denken.
(Pross, 418) 34. Das Subjekt kann nicht mehr als selbstgewisses,
beisichseiendes Bewusstsein konstruiert werden, das mit anderen Subjekten bloß
im Modus eines Austausches des Eigenen kommunizieren würde. Vielmehr ermöglicht
sich Subjektivität im Denken der „différance“ nur mit dem Bezug auf das absolut
Andere; jede Präsenz eines Subjekts hat so nötig, was sie selbst nicht ist.
(Pross, 419) 35. In der Opposition von „signifiant“ und „signifié“ ist
bei Saussure noch das metaphysische Denkmuster am Werk, Bedeutungen unabhängig
von einem als materiell und äußerlich gedachten Träger, dem Signifikanten, in
einer Region reiner Idealität zu denken. Sobald aber die Differenzialität
sprachlicher Zeichen beide Aspekte des sprachlichen Zeichens betrifft, sich
also Signifikant und Signifikat nur rein differentiell über ihre Relation zu
anderen Zeichen bestimmen, wird die strikte Trennung der beiden Aspekte
fragwürdig: Auch das Signifikat teilt diese Notwendigkeit, Beziehungen zu
unterhalten mit dem, was es nicht selbst ist. (Pross, 420) 36. In Derridas Lektürepraxis wird zunächst die zentrale
binäre semantische Opposition des Texts aufgesucht, deren Hierarchie auf der
Abwertung eines der beiden Terme beruht, der als sekundär oder supplementär
ausgewiesen wird. Es folgt der Nachweis, dass die Merkmale des ausgeschlossenen
Terms auch für den anderen Term dieser Opposition gelten. Die Bewegung der
dekonstruktiven Lektüre besteht somit darin, im Verlauf ihrer Entfaltung die
begriffliche Unterscheidung aufzuheben, mit der sie eingesetzt hat. Zugleich
wird jedoch im dritten Schritt der Begriff für den ausgeschlossenen Terminus
beibehalten und zur Beschreibung der allgemeinen Struktur weiterverwendet, die
die Lektüre als grundlegend für beide Terme der hierarchischen Opposition
ausgewiesen hat, wie z.B. „Schrift“ weiterhin für das differentielle, nicht
ursprüngliche Moment von Sprache verwendet wird, das die Dekonstruktion der
metaphysischen Opposition von Rede und Schrift als deren verdrängte
Grundstruktur erwiesen hat. Die fortgeführte Verwendung des Begriffs „Schrift“ ist
demnach nicht mit einer einfachen Aufwertung des marginalisierten Terms einer
semantischen Opposition zu verwechseln. Vielmehr verweist sie auf die
notwendige Differenz, die die signifikanten Einheiten zuallererst konstituiert,
indem sie sie als Opposition differenziert und gleichzeitig aufeinander bezieht
und so erst die Textbewegung von Sinntotalisierung und -durchkreuzung
ermöglicht. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf die Kohärenz der
Struktur und Einheit des Sinns, sie sucht systematisch die Momente auf, an
denen ein Begriff divergierende Argumentationslinien verbindet. In dem Maße,
wie dekonstruktive Lektüre den autoritativen Aussagen eines Textes gegenüber
seinen Inkohärenzen und Ambiguitäten keine Priorität zugesteht, wendet sie sich
bei der Wahl ihrer Themen verstärkt den „Randgängen“ zu: sowohl den
thematischen „marges“ innerhalb der philosophischen Tradition als auch den von
der Kritik wenig beachteten Texten innerhalb des Kanons sowie des Werkkorpus
einzelner Autoren. (Pross, 421f.) 37. Der Begriff ‘Dekonstruktion’ entzieht sich einer
eindeutigen Bestimmung, da er selbst gerade die Unmöglichkeit jeder eindeutigen
Bestimmbarkeit und semantischen Begrenzbarkeit sprachlicher Zeichen beinhaltet.
Er bezeichnet den doppelten Gestus zwischen Kritik und Affirmation, zwischen
der radikalen Demontage überlieferter Begriffsgerüste und dem gleichzeitigen
Bewusstsein, grundsätzlich nicht ohne diese auszukommen. Die D[ekonstruktion]
ist daher keine schematisch anwendbare Methode, sondern ein gewissermaßen
subversives Prinzip der Annäherung an Texte ‘von innen her’, die diese in ihren
potentiell unendlichen Bedeutungsverästelungen, ihrem über die manifeste
Textintention hinausgehenden Bedeutungsüberschuss und ihrer dabei unvermeidlich
hervortretenden inneren Widersprüchlichkeit expliziert. Insbes. stellt sie die
Art und Weise heraus, in der die je spezifische Sprache, Form und Rhetorik
eines Textes der eigenen Aussage so weit entgegenlaufen, dass sie deren
Hauptinhalte letztlich selbst wieder dementieren. (Zapf, 82) 38. Die Kritik der D. an der logozentrischen ‘westlichen’
Tradition des Denkens und der Textauslegung besteht darin, dass diese die
intertextuelle Offenheit und Vieldeutigkeit kultureller Erfahrung in die
Zwangsmuster eines vereindeutigenden Systemdenkens presst, in dem das
vorgebliche Interesse an Erkenntnis häufig nur ein Interesse der Machtausübung
und der ideologischen Realitätskontrolle verbirgt. Der Akt der D. ist von hier
aus intendiert als Selbstbefreiung des Denkens aus gewohnten Grenzziehungen und
Hierarchisierungen, die oft genug zur Rechtfertigung des Hegemonieanspruchs
einer Kultur, Klasse, Rasse oder eines Geschlechts über das andere missbraucht
wurden. (Zapf, 82f.) 39. Der entscheidende Bruchpunkt zwischen Strukturalismus
und Poststrukturalismus bzw. Dekonstruktivismus liegt dort, wo dem
quasi-naturwissenschaftlichen Systemdenken des Strukturalismus mit seiner
Annahme allg.gültiger Grundgesetze der symbolischen Tätigkeit des menschlichen
Geistes, der er allen Ausprägungen kultureller Aktivitäten zugrunde liegen sah,
seine Basis entzogen wurde. Derrida zeigt, wie die unhinterfragte Prämisse
eines festen Zentrums kultureller Strukturen und Zeichensysteme zu
unauflöslichen Paradoxien führt und wie der Versuch einer ontologischen
Fundierung der sprachlichen Zeichenaktivität durch ein ‘transzendentales
Signifikat’, d.h. eine letzte bedeutungsgebende Instanz, immer wieder durch den
niemals stillzustellenden Prozess der Signifikanten subvertiert wird, die sich
in ständiger wechselseitiger Verschiebung befinden. Der Signifikant als der
materielle Zeichenträger rückt damit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit,
während gleichzeitig die Seite des Signifikats, des Bedeuteten und
Bezeichneten, in höchstem Maße problematisiert
wird. Die Suche nach einem transzendentalen Signifikat wirkt nur noch als ein
niemals erfüllbares Begehren fort, das durch die ‘Unruhe der Sprache’, das über
alle Text- und Bedeutungsgrenzen hinausschießende Spiel der Signifikanten,
immer wieder aufgeschoben und weitergetrieben wird. Es gibt kein Inneres mehr
ohne ein Äußeres, keine Bedeutung jenseits der konkreten Zeichengestalt. Dieses
Äußere der Zeichen, ihre sinnlich-materielle Gestalt, wird aufgefasst in
Analogie zum ‘Körper’, der aus seiner langen Zwangsherrschaft durch den ‘Geist’
befreit werden muss. Für die Lit.kritik folgt daraus, dass der Text von den
logozentrischen Bedeutungsansprüchen befreit werden muss, denen er durch das
traditionelle Verfahren der Interpretation unterworfen wird. Es gilt, die
materielle Seite der Texte ernst zu nehmen, ja diese als konventionelle
Bedeutungsstrukturen ‘unlesbar’ zu machen und in ihrer reinen, jede
eingrenzbare Bedeutungszuschreibung sprengenden Textualität zum Vorschein zu
bringen. (Zapf, 84) 40. Die Schrift wird bei Derrida nicht verstanden in einem
empirischen oder historischen Sinn, etwa als konkrete historische Entstehung
bestimmter Schriftsysteme, sondern als diesen vorausgehende ‘Ur-Schrift’, als
universales Apriori menschlicher Kultur. Mit dem Axiom der Unhintergehbarkeit
der Sprache hängt das zweite Axiom des D[ekonstruktivismus] zusammen, das der différance: Es gibt keine Identität,
sondern nur Differenz, keine Kernpunkte des Denkens, sondern nur ein Netzwerk
aufeinander bezogener Zeichen, eine unendliche Kette immer weiterverweisender
Signifikanten. ‘Bedeutung’ ergibt sich nur aus dieser Beziehung und Differenz
zwischen den Zeichen, sie ist damit prinzipiell entlang der gesamten
Signifikantenkette verstreut und niemals in einem Zeichen vollständig gegeben.
Umgekehrt impliziert jedes Zeichen die Wiederholung seines früheren Gebrauchs
und ist damit niemals urspr. gesetzt. Gleichzeitig ist es durch seine
differentielle Beziehung zu anderen Zeichen seinerseits in seiner Bedeutung
nicht eindeutig eingrenzbar und ‘identifizierbar’. Jedes Zeichen und jeder Text
gehen über die ihnen subjektiv zugeschriebenen Bedeutungen hinaus, da diese
immer schon unterschwellig auf andere, nichtintendierte Bedeutungen bezogen
sind, die die beabsichtigte Eindeutigkeit und Abgeschlossenheit jedes Diskurses
sprengen. (Zapf, 84) 41. Die Auflösung herkömmlicher binärer Oppositionsmuster
resultiert nicht in einem einfachen Umkehrungsverfahren, sondern im Versuch,
das Denken in Identitäten und Oppositionen von innen her zu überwinden. Der D.
ist in wesentlichen Aspekten ein Neuschreiben der zentralen westlichen Konzepte
und Positionen von deren Rändern her, von dem ‘Supplement’, das jene Konzepte
zugunsten ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit unterdrückt, die aber bestimmend
in sie als Bedingung ihrer Möglichkeit hineinwirkt und sie so apriori
unterminiert. Die Geschichte logozentrischen Denkens erscheint von hier
aus als Domestizierung der Offenheit und abgründigen Mehrdeutigkeit der
Sprache, durch die Zwangsstrukturen eines vereindeutigenden Systemdenkens, das
seine Definitionsmacht über die Realität durch hierarchisch-wertende
Begriffsoperationen zu stabilisieren suchte. An die Stelle von System, Zentrum
und Struktur tritt im D. der Begriff des ‘Spiels’, das Derrida als ‘Abwesenheit
eines Zentrums’ bestimmt. Hieraus ergibt sich eine typische Ambivalenz des D.
zwischen Desillusionierung und avantgardistischer Aufbruchsrhetorik. Negation
und Affirmation greifen eigentümlich ineinander, da die Zerstörung bisheriger
Scheingewissheiten und harmonisierender Sinnkonstruktionen des Daseins
gleichzeitig als eine bisher nicht da gewesene Befreiung ungebundener Denk- und
Lebensenergien aufgefasst wird, die gegen die Systemzwänge traditioneller
Wissenschaft, die Machtstrukturen der Gesellschaft, die Rollenmuster der
Geschlechter oder die Interpretation von lit. Texten gleichermaßen
mobilisierbar sind. (Zapf, 85) 42. Der D. wirkt sich auch auf die Sicht des menschlichen
Subjekts aus, dem nicht mehr eine einheitliche Identität zukommt, sondern das
ein mixtum compositum verschiedener
Antriebskräfte und Selbstbilder ist, die oft im Konflikt zueinander stehen.
Unsere ‘Identität’ ist so eine plurale Identität; sie ist keine zentrierte
Struktur, sondern ein Ort des Spiels verschiedener Bilder des Selbst ohne
festen Grund und ohne festes Zentrum. Ja, sie ist nicht bloß durch das Spiel
verschiedener Selbstbilder, sondern bis in ihr Innerstes hinein durch das Spiel
von Texten bestimmt. Dies hat für die Kommunikation zur Folge, dass die
Subjekte sich auch gegenseitig opak sind und Verstehen zur Fiktion wird, die
einen unaufhebbaren Bruch zwischen den einzelnen überdeckt. Hierin liegt eine
unmittelbare Antithese zur Hermeneutik, die ja das intersubjektive Verstehen,
in welcher Begrenztheit auch immer, zur zentralen Kategorie ihres Kultur- und
Lit.begriffs hat. Die Vorstellung gelingender Kommunikation ist eine Spätform
des humanistischen Idealismus; für das Verhältnis der Subjekte zueinander gilt:
Der Bruch ist der Bezug. (Zapf, 85) 43. Zu den meistdiskutierten Methoden der letzten Jahre
gehört fraglos der sogenannte Poststrukturalismus,
den wir als charakteristisches Produkt des demokratisch-pluralistischen
Zeitalters auffassen können. Die ontologische und die semiotische Emanzipation
werden von den Vertretern dieser Richtung nicht als mögliche Optionen des
modernen Schriftstellers und Theoretikers, sondern als unumgängliche Komponente
jedweder sprachlichen Äußerung aufgefasst. Saussures Gedanke einer Eigendynamik der
Bedeutungsveränderung wird von den Poststrukturalisten ausgeweitet und
radikalisiert. Die linguistische Radikalisierung wurde von Derrida entwickelt.
Derrida erklärte im Unterschied zu Saussure, dass die Bedeutung eines Wortes
nicht nur von der Differenz zu seinen bedeutungsverwandt Nachbarwörtern,
sondern von der Differenz zu sämtlichen (neuen und alten) Wörtern der Sprache
abhängt. (Schneider, 221f.) 44. Wie man leicht erkennt, ist es unter dieser Annahme
nun allerdings schwierig, überhaupt noch von so etwas wie der festen Bedeutung
irgendeines Wortes zu sprechen. Und tatsächlich unterstellt Derrida, dass die
Bedeutungen den Wörtern gleichsam permanent entgleiten. Es gibt keine feste
Bedeutung irgendeines Wortes, sondern nur das unendliche Spiel der permanent
fluktuierenden Bedeutungen, das innerhalb von Wörtern oder Texten immer nur
provisorisch stillgestellt werden kann (und soll). Wörter besitzen demnach
Derrida zufolge keine feste Identität, sondern stellen proteusartige,
fluktuierende Gebilde dar, deren Bedeutung beständig wechselt und die keinerlei
festen Bedeutungskern besitzen. Töricht wäre nach dieser Sprachauffassung jeder
Autor und Interpret, der die Sprache als kontrollierbares Werkzeug der
Kommunikation auffassen wollte. Möglich und wünschenswert ist nach Derrida
lediglich eine bewusste Hingabe an die unkontrollierbaren Wandlungen der
Bedeutungen, und jede Deutung kann demzufolge nur als aussichtsloser Versuch
zur Fixierung eines von Natur aus nicht Fixierbaren aufgefasst werden. Da dies
auch die Erklärungsversuche und theoretischen Konzepte der Dekonstruktivisten
selbst betrifft, sind deren Texte meistens in einer sperrig-unverständlichen
Sprache verfasst, die zum Ausdruck bringen soll, dass sich dieses Konzept (wie
alles andere auch) prinzipiell nicht mitteilen oder beschreiben lässt.
(Schneider, 222f.) 45. De Man unterstellt seinen Ansatz ganz im Gegensatz zu
hermeneutischen Entwürfen einer Melancholie des Scheiterns, da das Lesen keine
Form der Identität herstelle, sondern die unaufhebbare Trennung von Subjekt,
Text und Geschichte aufzeige. In Frage steht damit die Grundvoraussetzung des
hermeneutischen Ansatzes: es so etwas
wie das Verstehen eines Texte überhaupt gebe. (Geisenhanslüke, 64) 46. Heideggers Ansatz lässt sich auch als Ansatz für eine
„antihermeneutische“ Wendung der Literaturtheorie verstehen, die sich nicht
länger dem Begriff der geschichtlichen Kontinuität und Identität verschreibt,
sondern die Momente von Diskontinuität und Gewalt zutage fördert. Unabhängig von der philologischen Forderung nach dem angemessenen Verstehen
der zu verhandelnden Sache verschreibe sich das philosophische Denken einer
Gewalt der Auslegung. Das Ziel der Auslegung liege entsprechend nicht darin,
das Gesagte zu deuten, sondern das Ungesagte des Textes zutage zu fördern. Heideggers Affirmation der Gewalt lässt sich nicht mehr
mit der hermeneutischen Forderung nach einer vernünftigen Einsicht in die Sache
vereinbaren. (Geisenhanslüke, 64f.) 47. Alternative zu herkömmlichen hermeneutischen
Verfahren. Heidegger will einen Begriff der Auslegung etablieren, dem es nicht
mehr darum geht, denn Sinn eines Textes zu erfassen und in seiner
verallgemeinerbaren Objektivität und Geschichtlichkeit auszuweisen. Er vertritt
vielmehr die Überzeugung, in den
überlieferten Texten der Metaphysik und der Literatur ein Ungedachtes zur
Sprache kommt, das sich nicht vollständig in Verstehen übersetzen lässt. Diese Einsicht teilt Heidegger mit Nietzsche und Freud.
(Geisenhanslüke, 65f.) 48. Nietzsches Gleichsetzung von Macht und Interpretation
deutet Hamacher als Subversion der traditionellen Hermeneutik zugunsten einer
Hermeneutik der Gewalt. Nietzsches Hermeneutik des Willens geht es darum, die
Herrschaftsregeln zu rekonstruieren, die zu einer bestimmten historischen
Konstellation geführt haben; vgl. Foucault. (Geisenhanslüke, 66) 49. Auch bei Freud lässt sich ein Moment der Gewalt der
Auslegung ausmachen. Derrida unterstreicht,
es Freuds Theorie der Entzifferung nicht um die Restitution eines
ursprünglichen Sinns geht. Der energetische Charakter des psychischen Apparats
verrate vielmehr die Spuren des Unbewussten als Resultat eines durch einen
Gewaltakt hervorgerufenen Einschreibeprozesses, demzufolge die hermeneutische
Kategorie des Sinns nur von ursprünglich destruktiv ausgerichteten
Kräfteverhältnissen abgeleitet sei. (Geisenhanslüke, 66f.) 50. Versuch einer Überschreitung des strukturalistischen
Denkens im Zeichen der Differenz. Geht es dem Poststrukturalismus wie schon dem
strukturalistischen Denken zunächst um eine Kritik des hermeneutischen
Zusammenhangs von Sinn und Subjektivität, so treten Foucault, Deleuze und
Derrida in der gleichen Weise dazu an, den Strukturalismus zu überwinden. Sie
orientieren sich nicht mehr an der Idee eines in sich geschlossenen
taxonomischen Feldes, sondern an dem Zusammenhang von Sprache und Differenz.
Damit geben sie zugleich das Wissenschaftsideal des linguistischen
Strukturalismus auf. „Die Strukturalisten nehmen die Linguistik als Modell und
versuchen ‘Grammatiken’ zu entwickeln [...], aus denen die Form und die
Bedeutung literarischer Werke ableitbar ist; Poststrukturalisten untersuchen
die Art, wie ein solches Projekt durch die Arbeit der Texte selbst subvertiert
wird. Strukturalisten sind davon überzeugt, dass systematisches Wissen möglich
ist; Poststrukturalisten behaupten die Unmöglichkeit eines solchen Wissens“
(Culler 1999, 21). Im Zentrum des poststrukturalistischen Denkens steht nicht
mehr der Versuch, eine neue und in sich kohärente Form der Wissenschaft
aufzubauen, sondern die Anstrengung, den wissenschaftlichen Anspruch, der den
Strukturalismus wie die philosophische Hermeneutik leitete, kritisch zu
hinterfragen und letztlich im Begriff der Differenz aufzulösen. Die Einsicht in
die systematische Unmöglichkeit wissenschaftlich verbürgten objektiven Wissens
verbindet die unterschiedlichen Theorien der Dekonstruktion. (Geisenhanslüke,
90f.) 51. Die allgemeinen Grundlagen der Dekonstruktion
errichtete Derrida, indem er im Anschluss an Nietzsche und Heidegger den
Logozentrismus der abendländischen Metaphysik offen legt: In Derridas Augen
verpflichtete sich das philosophische Denken seit der Antike einer Vorstellung
der lebendigen Präsenz, die ihr Ideal in der Idee einer mit sich identischen
und sinnerfüllten Stimme erkannte, gegen das die Dekonstruktion einen neuen
Begriff der Schrift geltend zu machen versucht. (Geisenhanslüke, 91) 52. Problem, das der Dekonstruktion von Beginn an zu
schaffen machte. Impliziert Derridas Aufwertung der Schrift gegenüber dem
Logozentrismus der abendländischen Metaphysik eine Privilegierung des Textes,
der zur Matrix jeder möglichen Erfahrung des Subjekts wird, so stellt sich
zugleich die Frage nach den außertextuellen Bedingungen des Wissens als Grenze
der Dekonstruktion. Sowohl Foucaults Theorie der Diskursanalyse als auch die
neuen Kulturwissenschaften verfolgen vor diesem Hintergrund die Spur einer
Materialität, die sich nicht einfach mit dem dekonstruierten Begriff der
Schrift in Übereinstimmung bringen lässt. (Geisenhanslüke, 91f.) 53. Lyotard.
Über den von Adornos Ästhetik etablierten Vermittlungszusammenhang von
Autonomie und Subversion der Kunst geht die postmoderne Ästhetik hinaus, indem
sie zwar an dem autonomen und tendenziell subversiven Charakter moderner Kunst
festhält, den Begriff der Negativität jedoch aufgibt. An ihre Stelle tritt im
Denken Lyotards die Idee einer affirmativen Ästhetik im Zeichen des Erhabenen. Bekannt wurde Lyotard mit seiner Definition der
Postmoderne als Ende der großen Erzählungen. (Geisenhanslüke, 92) 54. Paralogien sind nach Lyotard Regeln, die im
Unterschied zu den allgemeingültigen großen Erzählungen der Moderne nur noch
eine lokale, strategisch ausgerichtete Gültigkeit für sich beanspruchen. Indem
Lyotard die Paralogien zum Paradigma eines jederzeit offenen und
unabgeschlossenen Systems erklärt, vollzieht er zugleich jene Öffnung des geschlossenen
Feldes der Struktur, die das poststrukturalistische Denken insgesamt
auszeichnet. Freigesetzt werden soll damit das schlechthin Neue als dasjenige
Moment, das sich in kein etabliertes Modell des Wissens fügt. Die Absage an
einmal etablierte Regeln führt Lyotard fast zwangsläufig zu einer radikalen
Philosophie der Regellosigkeit. Schon der Begriff des Experimentierens verrät,
Lyotard einer Logik der Avantgarde vertraut, derzufolge noch gültige Formen
ästhetischer Erfahrung allein in der Überbietung des Vergangenen auszumachen
sind. (Geisenhanslüke, 92f.) 55. Der Leitbegriff der ästhetischen Erfahrung nach
Lyotard ist der der Intensität. In Anknüpfung an Freud verbindet Lyotard vor
allem in seinen Schriften der siebziger Jahre die beiden Begriffe der Libido
und der Intensität, um die Freisetzung von Energiequantitäten als das Ziel
aller Kunst darzustellen: Bestehende, fest besetzte Materie soll in frei
zirkulierende Energie zurückübersetzt werden. Mit der Freisetzung sinnlicher
Intensitäten verfolgt Lyotard zugleich das nur vage formulierte Ziel einer
Philosophie des Singulären. Ist das Sinnliche für Lyotard von sich aus immer
schon das subversive Einzelne, das sich im Widerstreit mit dem übergreifenden
Allgemeinen des Geistes befindet, so gilt ihm die Kunst als der Versuch, die
Sensibilitäten zu erweitern. Der Versuch der Erweiterung der Sensibilität durch
die Versinnlichung des Nichtdarstellbaren nennt den Grund von Lyotards Ästhetik
im Zeichen des Erhabenen. Damit verbindet sich konsequenterweise die Absage an
die Bestimmung der ästhetischen Theorie als einer Form der Kritik. Affirmativ
ist Lyotards Ästhetik in ihrem Grundgestus, da sie den regellosen Intensitäten
als dem singulären Sinnlichen gar nicht anders als affirmativ begegnen kann:
Das bloße Erscheinen ist für Lyotard zugleich schon die Legitimation der
sinnlichen Intensitäten. (Geisenhanslüke, 93) 56. Die Rückkehr zu Kants Ästhetik gewinnt für Lyotards
Denken in den achtziger Jahren zunehmend an Bedeutung. Der Begriff des
Erhabenen gewinnt eine zentrale Stellung in Lyotards Ästhetik. Lyotard, der
sich dabei eher an der bildenden Kunst als an der Literatur orientiert, ordnet
der Kunst der klassischen Moderne den Begriff des Erhabenen zu, um jene
Dialektik von Avantgarde und Überbietung weiter zu entwickeln, die schon seine
Ästhetik der Intensitäten in den frühen siebziger Jahren bestimmte.
(Geisenhanslüke, 93f.) 57. Der Begriff des Erhabenen nennt ein wesentliches
Moment moderner Kunst: das Problem der Nichtdarstellbarkeit. Kant hatte behauptet, dem Erhabenen im Unterschied zum Schönen
keine Form der unmittelbaren sinnlichen Anschauung adäquat sein könne, weil in
ihm eine übersinnliche Idee zur Geltung komme, die sich nur indirekt als
Zeichen für die Überlegenheit der menschlichen Vernunft über die Natur
erschließen lasse. Lyotard interessiert sich weniger für das moralische
Argument, das Kants Argumentation zugrunde liegt, als vielmehr für die
ästhetischen Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind: es Gegenstände gibt, die nicht darstellbar sind und die daher
eine indirekte Form der Darstellung erfordern. Dabei gelten Lyotard
insbesondere Barnett Newman und die abstrakte Kunst der Moderne als Beispiel
für eine Reflexion auf Nichtdarstellbarkeit. (Geisenhanslüke, 94) 58. Lyotard bestimmt das Erhabene als das „“ eines
singulären Ereignisses. Indem er das Erhabene als ein singuläres Ereignis
beschreibt, als die bloße Faktizität dessen, das erscheint, führt er auch die
Theorie des Erhabenen auf das Modell einer affirmativen Ästhetik zurück, derzufolge
das unbestimmte Sinnliche und Ereignishafte der Kunst in der Malerei in nichts
anderem als dem materiellen Vorhandensein von Farbe und Bild bestehe. Mit Lyotards Theorie des Erhabenen ist die Ästhetik an
ihrem Ende angekommen. (Geisenhanslüke, 94f.) 59. Deleuze.
Bereits in seiner frühen Untersuchung Logik
des Sinns (1969) formuliert Deleuze eine kritische Hinterfragung des
hermeneutischen Sinnbegriffs, dem er eine paradoxe Grundstruktur nachzuweisen
sucht. Der Lewis Carrol entlehnte Einblick in die Paradoxien des Sinns führt
Deleute zu einer radikalen Absage an die hermeneutische Tiefendimension eines
literarischen Textes zugunsten der Privilegierung seiner reinen Oberfläche. Hier macht sich das Erbe Nietzsches bemerkbar, demzufolge
Sinn immer nur als Effekt einer selbst nicht dem Begriff des Sinns
unterworfenen Instanz zu verstehen ist. (Geisenhanslüke, 95) 60. Deleuze gelangt dann zu einer radikal
anti-systematischen Form des Denkens, die sich insbesondere dem Zugriff von
Freuds Begriff des Unbewussten verweigert. Deleuze lässt sich von der zusammen
mit Guattari formulierten Vorstellung des Unbewussten als einer ewig
produzierenden Wunschmaschine leiten, die jede Form der Ödipalisierung des
Subjekts unterlaufe. (Geisenhanslüke, 95f.) 61. Als Gegenbegriff zum psychoanalytischen Begriff des
Mangels entwickelt Deleuze den des Rhizoms als einer wild wuchernden Struktur,
die es erlaube, Singuläres frei von allen Versuchen der Hierarchisierung mit
Singulärem zu verbinden. Deleuze hat neben seinen philosophischen Arbeiten immer
wieder Monografien zu literarischen Werken, vor allem zu Kafka und Proust
vorgelegt, die den anti-systematischen, lustbetont-anarchistischen Impuls
seines Denkens zu veranschaulichen helfen. Ziel von Deleuze ist es nicht, eine plausible
Interpretation von Kafkas Gesamtwerk vorzulegen, sondern die „Fluchtlinien“ zu
bezeichnen, die der Text gegen die Versuche zu seiner Reterritorialisierung
anbiete. Deleuze plädiert in diesem Zusammenhang für einen Begriff der offenen
Lektüre insbesondere unter Zurückweisung der psychoanalytischen Lesart Kafkas,
die sich über den Brief an den Vater zu legitimieren weiß. Deleuze unterstellt Kafkas Werk keinem einheitlichen
Sinnzentrum, um über den Leitbegriff der Maschine gleichwohl die Momente der
Bürokratie, der Moderne und des Faschismus als Ausgangspunkt von Kafkas
Schreiben miteinander zu verbinden. Kafkas literarische Sprache erscheint in
diesem Zusammenhang nicht mehr als ohnmächtiger Reflex auf die Gesetze des
Vaters, sondern als Flucht vor der bürokratischen Kälte der Moderne in eine
„kleine“ Literatur. So erscheint die Literatur bei Deleuze als Paradigma der
postmodernen Dezentrierung eines Sinnzentrums, das sich allen begrifflichen
Zuschreibungen entzieht. Das verbindet Deleuze mit Derrida und Foucault.
(Geisenhanslüke, 96f.) 62. Derrida. Der
Ausgangspunkt von Derridas Theorie ist die Kritik am geschlossenen
taxonomischen Feld des Strukturalismus. Indem der Strukturalismus die Ebene der
langue als ein geschlossenes Feld von
Zeichen begreift, das auf der Differentialität seiner einzelnen Elemente
beruht, denkt er die Differenz nach Derrida nicht radikal genug. Statt die
Differentialität des Zeichens selbst zum Ausgangspunkt der eigenen Theorie zu
machen, verlasse sich das strukturalistische Denken auf die Idee, die Struktur über ein Zentrum verfüge, das
der Differenz selbst nicht mehr unterworfen sei. Grundgedanken der Dekonstruktion: Das Zentrum eines
geschlossenen Feldes könne sich nur außerhalb der Struktur seiner selbst
befinden: Als das, was die Struktur regiert, nimmt es die widersprüchliche
Position eines Mittelpunktes ein, der zugleich innerhalb wie außerhalb der
Struktur liege. Es kann der Philosophie daher nicht darum gehen, mit Hilfe des
Begriffes der Struktur eine neue Wissenschaft zu erstellen, sondern darum, die
Paradoxien aufzuzeigen, die die Rede von einem nur scheinbar in sich kohärenten
Wissenssystem erst ermöglichen. Der kritische Grund der Dekonstruktion, den sie
mit der Diskursanalyse teilt, liegt in der Dezentrierung des strukturalistischen
Systemgedankens zugunsten eines offenen Systems, das sich in der
unabgeschlossenen Form des Spiels jeder Letztbegründung zu entziehen versucht.
(Geisenhanslüke, 97f.) 63. Zweites Argument. Als das Moment, das zugleich
innerhalb wie außerhalb der Struktur liege, diene das Zentrum nur als
Supplement einer unaufhebbaren Form der Abwesenheit. Derrida geht davon
aus, das geschlossene Feld der
sprachlichen Zeichen in seinem Zentrum eine fundamentale Leerstelle aufweise,
die durch die Versuche, der Struktur einen in sich kohärenten Mittelpunkt zu
verleihen, nur kaschiert werde. Anders als Lacan begreift Derrida die
Leerstelle, die die Struktur regiere, jedoch nicht als Zeichen für die
Abwesenheit des Phallus, sondern als Abwesenheit schlechthin, als den Entzug
des Seins. (Geisenhanslüke, 98) 64. An diesem Punkt folgt Derrida Heidegger. So wie für
Heidegger das Sein in der Geschichte der Metaphysik immer als Präsenz gedacht
wurde, so besteht für Derrida die Metaphysik in einem Denken der Präsenz, das
er auch im Strukturalismus wiedererkennt, insofern dieser die These von der
Differentialität der Zeichen durch die Idee der Systempräsenz aufhebe. Der
Verborgenheit des Seins bei Heidegger entspricht in Derridas Theorie die
Abwesenheit eines Zentrums, das nur über seine Supplementierungen zugänglich
ist. Für Derrida wäre die Geschichte der Supplemente als die der wechselnden
Zentren der Struktur daher zugleich ein Abriss der Geschichte der Metaphysik.
Allerdings zieht Derrida aus diesem Sachverhalt eine andere Konsequenz als
Heidegger. Ihm geht es nicht um die Wiedereinführung der Seinsfrage in die
Philosophie als vielmehr um die Ersetzung des geschlossenen Feldes des
Strukturalismus durch ein unendliches Spiel von Differenzen, das keinerlei Form
der Zentrierung mehr zulasse. Die Arbeit der Dekonstruktion gilt demnach zum
einen dem kritischen Nachweis der verschiedenen Supplementierungsprozesse, die
die Geschichte der Metaphysik erfahren habe, zum anderen der Erarbeitung einer
anti-systematischen Wissenschaft, die das unendliche Spiel der Zeichen als
Selbstauflösung jeden wissenschaftlichen Anspruchs nachzeichne.
(Geisenhanslüke, 98f.) 65. Derrida geht ferner über Heidegger hinaus, indem er
die Dekonstruktion der Präsenz mit der der Stimme verbindet. Die Geschichte der
Metaphysik erscheint als die Geschichte der Abwertung der Schrift durch die
Stimme, die bis zu Platon zurückreicht. Ziel seiner Darlegungen ist der
Nachweis der Aporien, denen ein Denken unterworfen ist, das die Präsenz des
Seins als lebendige Stimme deutet. An die Stelle des Gegensatzes von lebendiger
Stimme und toter Schrift setzt er einen neuen Schriftbegriff, dessen Konturen
er in der Grammatologie (1967)
umrissen hat. Was sein Denken in den Blick zu rücken versucht, ist nicht die
Differentialität des Zeichens, sondern die Differenz selbst, das Spiel, das es
erst ermöglicht, er Differenzen gibt.
Diese Form eines jeder sprachlichen Differenz vorgängigen Prozesses, für den
Derrida das Kunstwort der „différance“ einführt, definiert er zugleich als eine
„Urschrift“ in der Form einer „Spur“. Am Ursprung der Differenzen steht mit der
Spur die différance als eine Form der
zeitlichen Nachträglichkeit und der räumlichen Verschiebung, die keinen
Ursprungsort mehr kenne. Es handelt sich um eine Theorie, die keinerlei
Ursprünglichkeit mehr kennen will, weil sich im Spiel der Differenzen jede Form
der Ursprünglichkeit selbst aufhebt. Die Differenz selbst denkt Derrida daher
konsequent als eine Bewegung, die jedem Ursprungsdenken entsagt. Saussures
Neubegründung der Sprachwissenschaft im Zeichen der Semiologie setzt Derrida
daher die Grammatologie als eine neue Wissenschaft der sprachlichen Differenz
entgegen. (Geisenhanslüke, 99f.) 66. Probleme: Derridas Denken der différance formuliert letztlich eine Re-Philosophierung des
modernen Sprachdenkens. Es liegt ein genuin philosophischer Gestus vor, der die
linguistischen Grundlagen des modernen Sprachdenkens zu überschreiten versucht.
Die Überbietung führt in einen Bereich, der in paradoxer Weise selbst die Voraussetzungen
von Derridas Kritik am geschlossenen Zentrum der Struktur erfüllt: Als
unendliches Spiel der Differenzen markiert die différance in ihrer zentralen Position für Derridas Denken einen
Platz der Leere, der sich nur deswegen der Bewegung der Dekonstruktion zu
entziehen versucht, weil er das Prinzip des Entzugs des Seins selbst nennen
soll. Was im Rahmen der différance
nicht mehr möglich ist, wäre eine Dekonstruktion der Dekonstruktion.
(Geisenhanslüke, 100) 67. Der Begriff der Schrift tendiert dazu, die Grenze
zwischen Philosophie und Literatur aufzuheben. Lesen sich Derridas Texte
einerseits selbst wie Sprachkunstwerke, so wendet sich Derrida andererseits
häufig literarischen Texten und damit der Frage nach der Relevanz seiner
Theorie für die Literatur zu. Im Mittelpunkt seines Interesses steht wie schon
bei Adorno oder Deleuze mit Autoren wie Artaud, Mallarmé, Kafka oder Celan vor
allem die Tradition der klassischen Moderne. Celan-Interpretation: Herangehensweise, die keine
hermeneutische Form der Einheit mehr zulassen will. In den biografischen,
intertextuellen und geschichtlichen Bezügen von Celans Gedichten erkennt
Derrida eine Umschrift von Daten, die sich letztlich der Deutbarkeit entziehe. In dem Maße, in dem die sprachliche Wiederholung das
Singuläre, Einzigartige, in einer metonymischen Verschiebungsbewegung nicht
zulasse, öffne sich in Celans Lyrik der kryptische Raum eines Verborgenen, das
selbst nicht darstellbar sei und nur als Abwesendes in den Text hineinwirke. Am
Beispiel Celans wird die Literatur der Moderne damit zu einem Paradigma der
dekonstruktiven Leistung der Sprache. (Geisenhanslüke, 101f.) 68. (>Kritik)
Derridas Interpretation ist von der philosophischen Vorgabe der Dekonstruktion
als einer Theorie über die Unmöglichkeit sprachlicher Bedeutungszuweisungen
abgeleitet. Die Affinität zwischen Celans Lyrik und Derridas Philosophie ist
letztlich zu vage, um verdecken zu können,
Derrida seien Interpretation nur im Rahmen einer Sprachauffassung
formulieren kann, die weniger den Gedichten selbst als vielmehr der Annahme des
grundsätzlichen Scheiterns sprachlicher Bedeutungszusammenhänge geschuldet ist.
(Geisenhanslüke, 102) |