5.07 Ziele/Perspektive
1. Die Dekonstruktion (de Mans) spielt sich im Problemfeld
eines dilemmatischen Verhältnisses von uneigentlicher und eigentlicher
Sprachverwendung, von Figuralität und
Literalität, ab. Wird der Text als
rhetorisches Gebilde ernst genommen, offeriert er eine Vielzahl unvereinbarer
Sinnangebote; wird er als Medium eines einheitlichen Sinnangebotes
wahrgenommen, verliert er seine Literarizität. In einer beispielhaften Lektüre
führt de Man anhand von Marcel Prousts Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit vor, wie das Lesen im Roman selbst als
irreführende, missverständliche Tätigkeit dargestellt wird. Die Rhetorik unterwandert mit ihren Gestaltungsmitteln die
Ordnung der Grammatik – und damit die Logik. Literarische Texte aber sind
aufgrund ihrer figürlichen Redeweise Ausbünde an Rhetorik und können umso
weniger auf logische Strukturen zurückgeführt werden. Ziel und Aufgabe der
Lektüre ist es, die rhetorischen Verfahren aufzudecken und in ihrer
Funktionsweise zu verfolgen. Damit kann gerade nicht die Erzeugung
einheitlicher Interpretationen gemeint sein, sondern das Offenlegen der
Schwierigkeiten, die Literatur dem Verständnis entgegenstellt; Lektüre schließt
das Sichverlieren in rhetorische Verweise des Textes ein. Dekonstruktion wendet
sich gegen die überlieferten Leseweisen, die der Kanon den Texten zuordnet,
indem er weniger die Texte überliefern als vielmehr ihre Lektüre
vorherbestimmen will. Kanon enthält nicht die Geschichte von Texten, sondern
eine Reihe von Leseanweisungen, die deren falschen Lektüren vorausliegen. Die
vermeintlichen ‘ewigen Wahrheiten’, die nach traditioneller Auffassung durch
die Texte repräsentiert sein sollen, sind Ausdruck des Herrschaftsanspruchs einer
Interpretationstradition, die die Literatur in seine jeweils eigenen
Interessenströmungen einordnen und sie sich somit unterwerfen will. Diese einseitige
Vereinnahmung von Texten im Kanon
bezeichnet de Man als Ideologie, der
die Dekonstruktion die Grundlage, nämlich die Blindheit und Gutgläubigkeit des
Publikums, entziehen soll. Erst die Einsicht in die Unlesbarkeit, in das
Allegorische der Literatur, führe zu einem offenen, aufnahmebereiten Umgang mit
Texten. Dabei geht es weniger um die Seite des Rezipienten als um
die Leistung der rhetorisch aufeinander verweisenden Zeichen. Was geschieht,
geschieht im Text. Da die Verschiebungen und Verweisungen des figürlichen
Redens nicht allein auf Literatur beschränkt sind, sondern auch Bestandteile
jeder Sprachverwendung sein können, existiert letztlich in dieser
Betrachtungsweise kein theoretisch bestimmbare feste Grenze zwischen Literatur
und Nichtliteratur. (Baasner, 126f.) 2. Lesen ist ein unabschließbarer Prozess, weil mit den Konstruktionen, die die Bedeutungsbildung abschließen sollen,
dasjenige zu lesen ist, was dadurch ausgeschlossen wird. Dekonstruktive
Aufmerksamkeiten richten sich einerseits auf das Funktionieren von Strukturen
und deren Effekt der Fixierung und andererseits auf die diese auflösenden und
unterlaufenden Momente. Es kommt darauf an, wie vordergründig Behauptetes in
einem Text systematisch angewiesen ist auf nicht übereinstimmende
bedeutungstragende Elemente, die der Text, um etwas zu behaupten, an seinen
Rand gedrängt hat, was unter der Perspektive von Intentionalität,
Bedeutsamkeit, Repräsentativität als bloßes Randphänomen verbucht und ignoriert
wird. Ein solches anderes Lesen gewinnt damit ‘das Verlorene’ wieder, insofern
es analysiert, was geschieht, wenn ein Text allein in Funktion seiner
Intentionalität und Bedeutsamkeit gelesen wird. Die Heterogenität des Textes,
die Ambiguitäten, die Inkohärenzen, Diskontinuitäten und Unterbrechungen werden
von einem im genannten Sinne aufmerksamen
Lesen artikuliert. Für diese treten Begriffe ein wie Derridas Schrift, différance oder dissémination und de Mans Rhetorik. (Menke 2, 119) 3. De Man spricht von der Diskrepanz zwischen dem, was ein
Text predigt, und dem, was er praktiziert. Das rhetorisch
aufmerksame Lesen dekonstruiert, so de Man, jene Modelle, die die Einheit
und Identität der Texte als Werke oder die des Sinns voraussetzen, d.h.
restituieren, wie: Hermeneutik, Ästhetik oder auch philosophische
Epistemologie. Rhetorisches Lesen ist ein
destabilisierender Prozess. Die von den Man gelesenen „Denker“ scheinen „sämtlich dazu
verurteilt zu sein, letztlich etwas ganz anderes zu sagen, als sie zu sagen
beabsichtigen“ (de Man 1993, 189); gemeint sind damit nicht bloß zufällige
Fehler, obwohl es natürlich auch solche gibt. Darin manifestiert sich vielmehr
die Blindheit der Texte, insofern sie etwas meinen oder ‘predigen’, dem
gegenüber, was sie tun oder ‘praktizieren’. Diese Blindheiten der Texte
demgegenüber, was sie tun, um etwas zu meinen, können zu unseren Einsichten
werden. (Menke 2, 119f.) 4. Das Aushalten der Unentscheidbarkeit der Lektüren ist
die Zumutung und die Aufgabe des Lesens und Schreibens, das dekonstruktiv
genannt werden kann. (Menke 2, 136) |