5.10 Einzelne Ansätze
1. Barthes ist der Autor, der maßgeblich verantwortlich
ist für die Entfaltung des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus im
Frankreich der sechziger Jahre. Mit der Balzac-Analyse S/Z (1970) findet die entscheidende Überschreitung des
strukturalistischen Paradigmas statt: Dem exemplarischen Projekt einer
strukturalistischen „Erzählgrammatik“ wird dort Möglichkeit und Relevanz
abgesprochen. Der prozessuale Charakter des Lesens wird zum Prinzip der
Analyse: Er verhindert genau jene Überführung des Textes in die statische
Präsenz einer Struktur, die den Sinn des Werkes halten soll. Auch bei Barthes
lässt sich somit die charakteristische Geste einer Dynamisierung wichtiger
Konzepte verfolgen. (Pross, 423) 2. Eine programmatische Übertragung von Derridas Theorie
der Dekonstruktion auf den Bereich der Literaturwissenschaft und -kritik findet
in den siebziger Jahren durch die Vertreter der Yale-School, Geoffrey Hartman,
J.H. Miller, Harold Bloom und Paul de Man statt. Die Rezeption von Derridas
Philosophie knüpft dort verstärkt an die Tradition des „New Criticism“ an,
stellt doch die programmatische Textimmanenz und die Emphase des Begriffs der
Lektüre die Nähe zum Konzept des „close textual reading“ her. Bemißt der „New Criticism“ den Text an der Kongruenz von
Form und Inhalt, die die Kohärenz und Einheit des Texts als Ausdruck eines sich
selbst bewussten Sprechens zum Ausdruck bringt, so verneint dekonstruktive
Lektüre den Begriff der Intentionalität keineswegs. Sie modifiziert ihn
vielmehr dahingehend, dass darunter die dominante Argumentationslinie eines
Textes zu verstehen ist, deren Totalisierung als Sinnzentrum jedoch immer von
der differentiellen Dynamik des Texts selbst überschritten wird. Das Augenmerk
gilt daher denjenigen Aspekten, in denen Texte sich der Abgeschlossenheit und
Einheit des Sinns entziehen. Geht man mit Barbara Johnson davon aus, dass Texte stets
durch binäre, hierarchische Oppositionen strukturiert sind, die ihr
begriffliches Wertesystem konstituieren, so macht es sich eine sich als
dekonstruktiv verstehende Literaturwissenschaft zur Aufgabe, Texte systematisch
nach der Verdrängung von Differenzen innerhalb der Terme zu befragen, die ihrem
Begriffssystem zugrunde liegen. Damit eröffnet sich ein breites Spektrum von
thematischen Oppositionen und Differenzen als Gegenstand der Lektüre. Feministisch argumentierende Literaturwissenschaftlerinnen
wie C. Chase, Sh. Felman und B. Johnson haben die Geschlechterdifferenz als
Gegenstand eines „Dekonstruktiven Feminismus“ etabliert. (Pross, 424f.) 3. Der D. hat sich innerhalb der anglo-am. Lit.kritik
zunächst hauptsächlich auf die Periode der Romantik konzentriert, in der nicht
zuletzt Versuche, Lit. und Kritik aneinander anzunähern, ihre Wurzeln haben. Er
ist aber inzwischen längst auf alle möglichen Epochen und Texte der Lit.geschichte
angewendet worden, wobei nach einer Phase intensiver Produktivität eine gewisse
Monotonie der Ergebnisse unverkennbar war. (Zapf, 86) |