6 Intertextualität

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6.05 Die wichtigsten Ansätze

1. Die Arbeiten Julia Kristevas bilden den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Intertextualitätstheorie.

(a) In ihren Schriften, die Ende der sechziger Jahre im Umkreis der Gruppe Tel Quel (einer Verbindung linker französischer Intellektueller) entstanden sind, entwickelt Kristeva eine ‘Translinguistik’, die die Textgrenzen auflöst, was soweit geht, dass prinzipiell jedes Zeichensystem als Text begriffen werden kann. Auf diese Weise werden soziale Strukturen zu Texten und Texte zu Ideologemen. Wenn Kristeva Intertextualität als die Transposition eines Zeichensystems in ein anderes definiert, so bedeutet das, dass es ihr nicht nur um den Kontakt zwischen literarischen Texten geht, sondern auch um die Interaktion zwischen Text und Gesellschaft, Text und Geschichte.

(b) Kristeva ordnet das poetische Wort auf einer horizontalen Kommunikations-Achse an, die Sender (das schreibende Subjekt) und Empfänger (Leser) miteinander verbindet, und auf einer vertikalen Ebene, wo das Wort in seinem Kontext steht. Diese beiden Ebenen findet sie in Bachtins Dialogizitätskonzept wieder, der hier von Dialogizität und Ambivalenz spricht. In seiner Vorstellung vom dialogischen Wort geht Bachtin von einer Zweistimmigkeit aus; das Wort wird als hybride Konstruktion begriffen, in der zwei Stimmen, zwei Sprachen, zwei Kontexte aufeinandertreffen, so dass es eine innere Dialogizität erlangt. Ambivalenz ergibt sich eben daraus, dass jedes Wort in einen Kontext eingebettet ist. Der entscheidende Schritt, den Kristeva für die Intertextualität macht, ist die Übertragung des dialogischen Wortes Bachtins auf den dialogischen Text.

Ausgehend von Bachtin entwickelt Kristeva ihre Vorstellung von der poetischen Sprache als double, als Doppelzeichen: Jedes sprachliche Zeichen ist ein Doppelzeichen, ist dialogisch und ambivalent. Das Zeichen wird dabei nicht in seinem Binarismus von Signifikant und Signifikat als doppeltes begriffen, sondern das Doppeltsein wird auf die Ebene der Signifikanten verlagert. (>Textauffassung) Für die Ebene des Textes bedeutet das, dass jeder Text andere Texte impliziert, als Text an sich schon gedoppelt ist.

In Kristevas Theorie geht nicht nur Bachtin als ‘anderer Text’ ein, auch Derrida und Lacan hinterlassen ihre Spuren. Indem Derrida, Lacan und Kristeva die Einheit des Zeichens aufbrechen und die Signifikanten in den Mittelpunkt stellen, evakuieren sie das Signifikat und destabilisieren so die Zuweisung von Sinn. In Anlehnung an Lacan kann die Konsequenz gezogen werden, dass ein Text für einen anderen Text oder neben einem anderen Text stehen kann, doch repräsentiert nicht mehr ein Text einen Sinn.

(c) Kristevas Idee vom double geht zudem auf Starobinskis Arbeit über de Saussures Anagramm-Studien zurück: de Saussure vermutet in den saturnischen Versen, die er untersucht, Anagramme, d.h. Wörter, die durch Zerstückelung und kryptische Techniken der Buchstabenverstellung in die Verse eingeschrieben sind. De Saussures Anagramm wird von Kristeva zum Paragramm entwickelt, zum Doppelzeichen, das eine Lektüre notwendig macht, die unter der Textoberfläche, die unter der Textoberfläche Spuren eines anderen, ‘fremden’ Textes ahnt.. Eine solche Lektüre fordert der russische Formalist Tynjanov zum Beispiel für die Texte Dostoevskijs, bei denen Gogol immer als Folie mitgelesen werden muss. Das Doppelzeichen zieht eine weitere Konsequenz nach sich: die Vorstellung vom Schreiber als Leser, vom Schreiber, der das Gelesene im Schreiben doppelt. Schreiben wird als „produktives Lesen“ (Kristeva) interpretiert. Die Lektüre des fremden Textes erzeugt einen intertextuell organisierten Text, einen Intertext.  (Schahadat, 367ff.)

2. Eine andere Folie für die Intertextualitäts-Theorie ist der russische Formalismus mit seinem linearen, vektorial gerichteten Einflussmodell; zentral ist in diesem Rahmen Jurij Tynjanovs Parodietheorie. Eine Schaltstelle zwischen Intertextualität und Einfluss nimmt hingegen Harold Bloom ein, der den formalistischen Evolutionsgedanken aufgreift, diesem jedoch eine psychoanalytische Dimension  verleiht und zudem dekonstruktive Prämissen in sein Einflussmodell einbindet.

Tynjanovs Parodie-Aufsatz (1924) ist ein früher Beitrag zum formalistischen Evolutionskonzept, in dem die Parodie den Normbruch im herrschenden literarischen System bezeichnet und die Ablösung einer literarischen Richtung durch eine andere bewirkt. Der Kampf des verspäteten Nachkommen gegen den unvermeidlichen Vorläufer, der das Zentrum von Blooms Schriften bildet, ist in Tynjanovs Aufsatz über Dostoevskijys Auseinandersetzung mit Gogol schon angelegt. (Schahadat, 372)

3. Michail Bachtins (1895-1975) Theorie der „Dialogizität“ beruht auf seiner Auffassung sprachlicher Kommunikation. Er kritisiert an der Linguistik Saussures, dass sie nur die situationsinvariante „Bedeutung“, nicht aber den besonderen „Sinn“ einer sprachlichen Äußerung erfasse. Dieser wird erst verständlich, wenn man auch die besondere Situation berücksichtigt, in der sich der Sprecher mit seiner Äußerung an einen Hörer richtet. Erst in ihrem komplexen Sinn referiert die Äußerung auf Wirklichkeit. Kein Satz ist mit rein sprachlichen Mitteln auf einen fixen Sinn festlegbar – ein und derselbe Wortlaut kann, je nach Verwendungssituation, unterschiedlichen Sinn tragen.

In mündlicher Rede kann der Sprecher mit Hilfe außersprachlicher Mittel wie Gestik und Mimik über den propositionalen Gehalt seiner Worte hinaus eine persönliche Haltung zum Ausdruck bringen, die den aktuellen Sinn der Äußerung mitbestimmt. Aber auch einer weitgehend auf das Medium der Sprache reduzierten schriftlichen Äußerung ist die Position ihres Urhebers abzulesen. Bachtin geht so weit zu sagen, dass jede sprachliche Äußerung vom „verbal-ideologischen“ Standpunkt ihres Sprechers imprägniert ist. Damit ist nichts Subjektiv-Privates gemeint. Bei Bachtin erscheint der Sprecher in seiner Rede stets als kollektives Subjekt, als Repräsentant soziologisch fixierbarer Gruppen, deren spezifische „Sprache“ er spricht. Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens je nach sozialer Situation und Funktion an unterschiedlichen Sprachen Anteil.

Indem der Sprecher sich eines kollektiven Sprachgebrauchs bedient, bezieht er sich auf den Gegenstand seiner Äußerung stets in einer sozialtypischen Färbung. Die anderen Sprachen bilden einen latenten Hintergrund für die explizite Rede. Darüber hinaus wird die sprachliche Kommunikation auch durch den Bezug auf den Gesprächspartner in der eigenen Rede dynamisiert.

So entsteht durch die Konfrontation verschiedener Sprachen und der durch sie repräsentierten Weltsichten eine innere Dialogizität. Eine sprachliche Kommunikation zu verstehen heißt, sie als Szenario einer Auseinandersetzung widerstreitender Weltsichten zu erkennen.

Obwohl Bachtin einerseits behauptet, dass jede Äußerung dialogisch sei, spricht er andererseits auch vom Gegensatz zwischen „monologischer“ und „dialogischer“ Rede. Bachtin sieht die „ptolemäische“ Welt des monologischen Bewusstseins besonders in Epochen wie dem Hochmittelalter oder in oralen Gesellschaften ausgeprägt. Zwar gebe es auch in monologischen Gesellschaften verschiedene „Sprachen“, doch seien diese durch die zentrale Position einer einzigen Weltanschauung (etwa der katholischen Kirche) hierarchisch geordnet. Das dialogische Bewusstsein der „galileischen“ Welt sei hingegen durch die Koexistenz einer Vielzahl konkurrierender Weltsichten dezentralisiert. (Martinez, 430ff.)

4. Die literarische Rede ist nach Bachtin durch dieselben Züge charakterisiert, die für sprachliche Kommunikation allgemein gelten. Schriftliche Kommunikation ist gegenüber mündlichen insofern defizitär, als sie bei der Vermittlung von Sinn auf außersprachliche Mittel wie Mimik oder Gestik und auf den gemeinsamen Situationsrahmen verzichten muss. Bei schriftlichen Mitteilungen gibt es eine räumliche und zeitliche Differenz zwischen Entstehungs- und Rezeptionskontext des Textes. Fiktionale Texte fügen eine weitere Differenz hinzu, indem sie eine imaginäre Kommunikationssituation entwerfen, die der Leser allein aus dem Text heraus rekonstruieren muss.

Bachtins Interesse gilt jenen Fällen, in denen ein fremdes Wort mit der Rede des Sprechers interferiert und so ein  „zweistimmiges Wort“ entsteht. Beim „zweistimmigen Wort“ sind zwei Typen zu unterscheiden: die explizite Reproduktion des fremden Wortes und die verdeckte Anspielung auf das fremde Wort in der eigenen Rede.

(1) Im Fall der „Stilisierung“ reproduziert der Autor das fremde Wort einer Figur vor dem Hintergrund seines eigenen, von der Figurenrede abweichenden Standpunktes, so dass ein „objektivierender Schatten“ auf das fremde Wort fällt und es mit einer zweiten „Bedeutungstendenz“ belegt. Das Wort dient so „gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors“. (Bachtin 1979, 213) Eine Verschärfung der Stilisierung stellt die Parodie dar: Die verdeckte Autorstimme bestreitet implizit den Wahrheitsanspruch der Figurenstimme.

(2) Zweistimmigkeit entsteht auch, wenn der Autor in eigener Sache zu sprechen scheint, dabei aber in einer „hybriden Konstruktion“ indirekt auf ein fremdes Wort Bezug nimmt. Als Beispiel nennt Bachtin das unterwürfige, die eigenen Aussagen sogleich wieder infragestellende Sprechen oder auch beleidigende Anspielungen. (Martinez, 433ff.)

5. Bachtin sieht die Literatur in zwei große Gruppen zerfallen, welche antagonistische Grundkräfte repräsentieren, die jede Kultur prägen: einerseits die zentripetalen Kräfte der Vereinheitlichung und Zentralisierung, andererseits die zentrifugalen Kräfte der Dezentralisierung und Differenzierung. Monologische Werke sind charakteristisch für zentralisierte Kulturen, dialogische Werke hingegen Ausdruck zentrifugaler Tendenzen.

Das Hochmittelalter ist für Bachtin Beispiel einer weitgehend zentralisierten Kultur, die aber von einer zentrifugalen, subversiven „zweiten Welt“ des Karnevals begleitet wurde. In der Renaissance fand die „Lachkultur“ schließlich auch Eingang in die Hochkultur. Ihr Grundzug ist die Subversion der traditionellen, ernst-offiziösen Lebensform. Die Karnevalisierung zerstört nicht anerkannte Werte, aber relativiert ihren absoluten Geltungsanspruch. (Martinez, 435f.)

6. Bei Bachtin erscheinen monologische und dialogische Tendenzen in der Literatur einerseits als anthropologische Konstanten, deren Kampf die gesamte Literaturgeschichte durchzieht. Andererseits beschreibt er Dialogizität als Emanzipation aus monologischen Anfängen, also als historisch spätes Stadium einer linearen Entwicklung. In dieser Perspektive gelten die Romane Dostoevskijs als erste vollständige Verwirklichung des dialogischen Prinzips in der Literatur. Bachtin erklärt ihn zum Schöpfer des „polyphonen Romans“. (Bachtin 1971, 201)

Die Protagonisten des polyphonen Romans vertreten unvereinbare Standpunkte, deren Konkurrenz nicht durch eine übergeordnete Autorinstanz entschieden wird. Nicht nur die Positionen der Figuren, sondern auch die des Autors sind im polyphonen Roman in die wechselseitige Relativierung einbezogen.

Dabei hält Bachtin jedoch an der Existenz einer „letzten Bedeutungsinstanz“ fest, nämlich an der „Intention des Autors“. Auch wenn der Autor nicht direkt spricht, wird seine Intention doch indirekt verwirklicht. (Martinez, 437f.)

7. (>Kritik) In Bachtins literaturgeschichtlichen Analysen vermischen sich deskriptive und normative Elemente. In Dichtotomien wie „monologisch“ vs. „dialogisch“, „zentripetal“ vs. „zentrifugal“ wird die jeweils zweite Hälfte favorisiert. Wenn ein Autor der dialogischen menschlichen Wirklichkeit gerecht werden möchte, dann – so wird suggeriert – sollte er dialogisch verfahren. Auf diese Weise wird die Legitimität monologischer Literatur ausgeblendet.

Bei Bachtin vermischen sich auch Aussagen über anthropologische und Aussagen über historische Sachverhalte. Ist Dialogizität eine Konstante menschlicher Wirklichkeitserfahrung,  oder ist sie ein historisches Phänomen, das nur in bestimmten Epochen dominiert?

Ferner: Ist das Phänomen der Dialogizität auf den Gegenstandsbereich der literarischen ‘Worte’ beschränkt, oder betrifft es auch die Analyse des Literaturwissenschaftlers? Bachtin vertritt die Meinung, die Literaturwissenschaft müsse selbst dialogisch verfahren. Dialogisches Verstehen ist aber nicht elbe wie das Verstehen von Dialogizität. Man sollte zwischen Objekt- und Metasprache unterscheiden. (Martinez, 440f.)

8. Bachtins Ideen blieben jahrzehntelang weitgehend unbeachtet. Von den sechziger Jahren an erlangten sie jedoch über Julia Kristeva auch internationale Verbreitung. Mit Bezug auf Bachtin prägte Kristeva den Namen „Intertextualität“ für eine Theorie, die sich allerdings von derjenigen Bachtins in wichtigen Punkten unterscheidet. Seither ist unter diesem Namen eine Vielzahl von Ansätzen entstanden, die methodisch und konzeptionell oft weit auseinander liegen. (Martinez, 441)

9. Als der Begriff Intertextualität in den 60er Jahren von Julia Kristeva im Umfeld der Gruppe „Tel Quel“ geprägt wurde (Kristeva 1978, 69), hatte er in erster Linie politische und kulturkritische Implikationen. In seiner weiteren Entwicklung ist dieser Anspruch jedoch zunächst in den Hintergrund getreten; entworfen wurden eine Intertextualitätstheorie und ein Instrumentarium für die Textanalyse.

(>Literaturtheoretische Grundannahmen) Den Ausgangspunkt bildete Kristevas Konzept vom Text als double, als Doppelzeichen, das neben dem manifesten immer noch einen latenten Text umfasst. (Lachmann, Schahadat, 677)

10. (>Ziele/Perspektive) Intertextualität bezeichnet den Text-Text-Bezug. Dabei handelt es sich um eine Literaturbetrachtung, die nicht den geschlossenen Text ins Zentrum der Lektüre rückt, wie der Strukturalismus oder der New Criticism, sondern die Funktion der anderen Texte in einem gegebenen Text.

In der Literaturwissenschaft konkurrieren ein eher traditioneller Ansatz mit einem progressiveren, der theoretische Positionen des Dekonstruktivismus in die Textanalyse einbringt. Die erste Richtung instrumentalisiert Intertextualität zu einem hermeneutischen Handwerkszeug, ohne Konzepte wie Text und Sinn zu hinterfragen; die Lektüre zielt ab auf eine eindeutige Interpretation, auf die Erhaltung eines letztlich einen Sinnes. In den letzten Jahren tendieren intertextuelle Analysen jedoch dazu, eben diesen einen Sinn zu vermeiden; betont werden Ambivalenz, Doppelkodierung und Überdeterminierung des intertextuell organisierten Textes.(Lachmann, Schahadat, 677f.)

11. Anleihen wurden bei der Rhetorik und den Anagrammstudien Ferdinand de Saussures gemacht. Generell lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden. Eine Richtung versucht, die Markierungen zu erfassen, die auf die Doppel- oder Mehrfachkodierung des Textes verweisen, die andere beschreibt die Relation zwischen den Texten. Hat erstere den Anspruch, eine Intertextualitätsgrammatik zu erstellen, so zielt letztere auf die Sinnerzeugung ab, die durch das Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer Texte und Kontexte in Gang gesetzt wird; diese Tendenz steht im folgenden im Mittelpunkt.

Die Relation zwischen den Texten lässt sich mit Hilfe dreier Modelle genauer bestimmen: des Modells der Partzipation, der Transformation und der Tropik. Diese drei Modelle entsprechen den Strategien des Weiter-, Um- und Widerschreibens, die der manifeste Text im Umgang mit dem Vorläufertext einsetzt. (Lachmann, Schahadat, 678)

12. Einige Prämissen:

(1) Die intertextuelle Lektüre zielt auf die semantische Ebene der Texte ab, da diese der Ort ist, der durch das Aufeinandertreffen verschiedener Sinnpositionen affiziert wird. Erzeugt wird ein semantischer Mehrwert, der von Sinnkomplexion bis hin zur Sinnzerstäubung reichen kann.

(2) Die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen den Texten schließt die der kulturologischen Begründbarkeit ein. Intertextualität ist epochenspezifisch verankert, denn intertextuelle Praktiken variieren, ebenso wie intratextuelle Verfahren, von Epoche zu Epoche. Jede literarische Richtung baut Allusionen und Zitate auf eine Weise in die Texte ein, die ihrer Poetik entspricht.

(3) Begreift man die intertextuelle Dimension des Textes als Gedächtnis des Textes, in dem ein anderer, fremder Text erinnert, abgelöst oder weitergeschrieben wird, so erscheint Literatur als Gedächtnis der Kultur. Der Umgang mit dem fremden Text (Bewahren, Verbergen, Zerstören) zeugt von der Einstellung zur antezedenten Kultur und von seiner Selbstbestimmung im Rahmen der Kultur. Das bedeutet, dass Intertextualität eng mit einem Gedächtniskonzept verschränkt ist. (Lachmann, Schahadat, 678)

13. Partizipation meint den intertextuellen Dialog, das heißt die sich im Schreiben vollziehende Teilhabe an den Texten der Kultur. Ein Text, der an fremden Texten partizipiert, schreibt sich ein in die Tradition, wobei Tradition nicht als diachrone Textkette zu verstehen ist, sondern als offener Raum, als Textuniversum.

Durch ihr poetologisches Programm, das auf die Teilhabe an und den Dialog mit der vergangenen Kultur abzielt, avancieren die russischen Akmeisten – dazu gehören vor allem Anna Achmatova (1889-1966), Nikolai Gumilec (1886-1921), Ossip Mandel’stam (1891-1938) – zu klassischen Vertretern einer Intertextualität der Partizipation. Das akmeistische Gedicht erscheint als lyrische Replik in einem unendlich andauernden Gespräch, das nicht nur mit der vergangenen, sondern auch mit der gegenwärtigen Kultur geführt wird.

Der poetischen Handlung, die schreibend-erinnernd einen Kontakt mit der Literatur herstellt, entspricht die akmeistische Poetik, die Begriffe wie Schreiben – Text – Gedächtnis – Dialog in den Mittelpunkt rückt.

Die Zitate fremder Texte dominieren die akmeistische Lyrik, so dass diese ohne die Aufdeckung des intertextuellen Subtextes oft unverständlich, kryptisch wirkt. Das gilt z.B. für Anna Achmatovas Poem ohne Held (1940-1962), dessen zahlreiche Zitate die Aufschlüsselung der in den Text eingegangenen fremden Stimmen herausfordern. Der erste Teil des Poems evoziert das Silberne Zeitalter der russischen Kultur, speziell in Petersburg. Als die Verkörperung dieser vergangenen Epoche gilt Achmatova der symbolistische Dichter Alexandr Blok (1880-1921). Die scheinbar zusammenhanglos aneinandergereihten Zitate aus Blok-Gedichten haben die Funktion, die Epoche als Ganzes auferstehen zu lassen. Es wird eine metonymische Reihung entwickelt, durch die die Gegenwart (1940) mit den vergangenen Texten und in einem weiteren Schritt mit der vergangenen Epoche verbunden wird.

Die Partizipation an den Texten der Kultur geschieht in Achmatovas Poem mit Hilfe einer Poetik der Berührung, der Kontiguität; das Aufrufen der fremden Texte gestaltet sich zu einer Teilhabe an der fremden, vergangenen Kultur, die von der gegenwärtigen im Textspeicher aufbewahrt wird. (Lachmann, Schahadat, 679f.)

14. Im Gegensatz zur dialogischen Teilhabe, welche die antezedente Kultur sichtbar macht, neigt der transformierende Gedächtnisakt dazu, den früheren Text zu verbergen, ihn unkenntlich zu machen und den fremden als eigenen Text zu präsentieren. Intertextuelle Beziehungen solcher Art zeigen eine Tendenz zur Kryptik, wobei die originären Spuren verdeckt werden. Die Folge ist die Unterwerfung des fremden poetologischen Programms unter das eigene.

Transformation lässt sich als ein Überschreiben begreifen: der fremde Text wird dem eigenen gleichgemacht. Als Beispiel bietet sich der russische Symbolismus an. In Bloks Drama Die Rose und das Kreuz (1912) werden zwei Prätexte miteinander kombiniert, um eine spezifisch symbolistische Sujetstruktur hervorzubringen, das Sujet vom „Dichter auf der Suche nach dem Ideal“, das für alle Texte Bloks bestimmend ist. Die beiden Prätexte sind das provenzalische Romanepos Flamenca aus dem 13. Jahrhundert und Aleksandr Puskins romantisches Gedicht Der arme Ritter (1929). Die Abschrift des Prätextes im Posttext ist stellenweise so genau, dass das symbolistische Drama teils wie eine bloße Reproduktion des provenzalischen Vorläufers wirkt. Die Rose und das Kreuz ist auf Literatur gemachte Literatur.

Augenfällig ist, dass Flamanca ein offensichtlicher, Puskins Gedicht jedoch ein verborgener Prätext ist, so dass die Transformation fast unmerklich geschieht. Der fremde Text aus einer fremden Kultur und einer fremden Zeit wird in Verbindung mit einem Text, der fester Bestandteil des symbolistischen Lektürekanons ist, zu einem quasi-eigenen Text transformiert. (Lachmann, Schahadat, 681f.)

15. Tropik: die Abwendung des Vorläufertextes. Dieser Typus der intertextuellen Relation schließt an den Tropus-Begriff Harold Blooms an und bedeutet den Versuch der Überbietung, der Abwehr und Löschung des Vorläufertextes, ein Wegwenden des Vorläufers. Bloom begreift Literaturgeschichte als einen ständigen Kampf des späteren Dichters gegen den früheren. Gegen die Tradition des „Vaters“ und „Gottes“, dem der jüngere Dichter ausgesetzt ist, stellt Bloom den Begriff des Einflusses. Einfluss bedeutet die Möglichkeit, sich gegen die Tradition zu wehren; denn Einfluss ist für Bloom eine Trope, die einerseits den Begriff der Tradition ersetzt, andererseits auch sein scheinbares Gegenteil meint, Abwehr. In einander abwechselnden Phasen der Imitation und der Ablehnung des Vorläufers finden ein mis-reading der Vorläufertexte und deren re-writing als revisionärer Akt statt.

Eine tropische intertextuelle Beziehung herrscht zwischen den Romanen Fedor Dostoevskijs und der Poetik seines Vorläufers Nikolaj Gogol. Ein weiteres Beispiel ist Popovs Roman Vorabend ohne Ende (russ. 1993). Schon der Titel verweist auf Ivan Turgenevs Roman Vorabend (russ. 1859). Popovs Roman ist eine fast wörtliche Wiederholung der Figuren, Dialoge und des Sujets des Romans, der ihm als Vorlage dient.

Popovs Figuren wirken wie Reinkarnationen von Turgenevs „überflüssigen Menschen“. Wenngleich Popovs Text auf den ersten Blick das postmoderne Diktum von der unendlichen Wiederholung des immer schon Gewesenen vorzuführen scheint, wird auch deutlich, dass das Neue eben doch nicht das Alte ist. Popov banalisiert und parodiert den Vorläufertext, der von selbstlosem Opfermut und grenzenloser Liebe handelt. Zugleich wirkt die parodistische Verkehrung auf Turgenevs Ursprungstext zurück; Imitation und Abwehr gehen ein komplexes Beziehungsgefüge ein. (Lachmann, Schahadat, 682f.)

Blooms Beharren auf dem Autor als Subjekt des Textes distanziert ihn von den Intertextualitätsmodellen, die räumlich, nicht zeitlich strukturiert sind; seine Fixierung auf einen begrenzten literarischen Kanon, in dem starke Dichter mit anderen starken Dichtern konkurrieren, entwirft eine elitäre Literaturgeschichte.

Neuere Arbeiten, die Blooms Einflussmodell aufgreifen, formulieren es um. Blooms psychoanalytischer Ausgangspunkt wird durch eine politische Perspektive ergänzt, indem die Kritiker Einfluss mit Hegemonie und Macht assoziieren, gegen die sie eine offene, multiperspektivische Intertextualität stellen. Dadurch lässt sich der restriktive Kanon entgrenzen. (Schahadat, 373)

Bloom sieht literarische Produktivität durch „anxiety of influence“ bestimmt und rekonstruiert die Literaturgeschichte als einen intertextuellen, aber innerliterarischen Kampf von Autoren gegen ihre kanonischen Vorbilder. Jeder bedeutende Autor sei unweigerlich auf literarische Vorbilder bezogen und versuche gleichzeitig, sie zu verdrängen. In ödipaler Ambivalenz verbleibe er zwar unter dem Einfluss des übermächtigen „Vaters“, müsse dessen Werke aber notwendig mißverstehen („misreading“), um eine selbständige künstlerische Artikulationsmöglichkeit zu finden. (Martinez, 443f.)

16. Die drei Modelle: Partizipation, Transformation und Tropik zeugen von einem unterschiedlichen Umgang mit dem vergangenen Text und mit der vergangenen Kultur: von Bewahren, Usurpieren, Abwehren. Doch sind diese verschiedenen Gedächtnisakte nicht klar voneinander abzugrenzen, denn alle Texte partizipieren und transformieren. Vielmehr ist es die Dominanz des einen oder anderen Modells, die sich behaupten lässt. (Lachmann, Schahadat, 684)

17. Als ein Grenzphänomen, das sich aus verschiedenen Quellen speist, wird Intertextualität von Denkrichtungen unterschiedlichster Provenienz aufgegriffen, mit einer oft verwirrenden Terminologie belegt und auf verschiedene Weise funktionalisiert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der, dass Intertextualität einen Text-Text-Bezug bezeichnet.

(>Literaturtheoretische Grundannahmen) Literatur wird dabei nicht als eine kontinuierliche Linie aufeinanderfolgender Werke gedacht, sondern als ein Textuniversum, ein Netzwerk, in dem die Texte miteinander in Kontakt treten und sich aufeinander beziehen, so dass (jeder) Text als ein „Gewebe“ (Barthes), als ein „Mosaik von Zitaten“ (Kristeva) erscheint.

Die einen verstehen Intertextualität als politisch subversives Potential (Gruppe Tel Quel), die anderen fassen sie als hermeneutische Technik unter neuem Namen (Intertextualität statt Einflussforschung) oder auch als eine dekonstruktive Lektüre-Strategie auf; zudem begünstigt die Offenheit des Konzepts Versuche, eine Intertextualität(stheorie) avant la lettre zu entdecken, z.B. bei antiken Autoren Die in verschiedene Richtungen strebenden Diskussionen lassen sich systematisieren, indem unterschieden wird zwischen einer theoretischen, einer deskriptiven und einer literatur- bzw. kulturkritischen Dimension der Debatte. (Schahadat, 366)

18. Die Theoriebildung ist von den ästhetischen und philosophischen Prämissen der amerikanischen Dekonstruktion beeinflusst, so dass sie die These von der Unlesbarkeit der Texte in den Mittelpunkt rückt. In der Textinterpretation konkurriert ein eher traditioneller Ansatz (rein textdeskriptiv) mit einem progressiveren, der versucht, die Ergebnisse der theoretischen Diskussionen für die Textanalyse zu nutzen.

Sei es nun eine Lektüre, die Eindeutigkeit im Sinn hat, oder eine, die Polyvalenz betont – in beiden Fällen richtet sich der Fokus der Leserschaft auf die semantische Ebene der Texte, die durch das Aufeinandertreffen verschiedener Sinnpositionen affiziert wird. Die Intertextualitätstheorie ist genetisch zu verstehen in Abgrenzung von einem autonomen und auktorial verankerten Textbegriff einerseits und von einem linearen, vektorialen Einflussmodell andererseits. Während sowohl der Strukturalismus als auch der New Criticism Sinnkonstitution textimmanent (intratextuell) zu etablieren versuchen, richtet eine Theorie der Intertextualität den Blick auf die Text-Text-Bezüge. (Schahadat, 367)

19. Kristevas kulturkritischer Ansatz impliziert die Vorstellung vom Text als einer „politisch transformativen Praxis“ (Mai, 41, in: Plett 1991). Diese politischen Implikationen wurden in der weiterführenden Diskussion zunächst ausgespart. In letzter Zeit hat sie jedoch neue Impulse gewonnen. Verschiedene Beiträge des Sammelbandes von Clayton / Rothstein (1991) sehen Intertextualität als Möglichkeit, sich gegen ein traditionelles Einfluss-Konzept zu wehren, denn mit Einfluss wird Macht (von männlichen Dichtern auf Dichterinnen, von weißen Autoren auf die Literatur von Minderheiten) ausgeübt, während Intertextualität eine dynamische Interaktion erlaubt. Still/Worton konstatieren eine – auf traditionelle Konzepte feministischen Denkens zurückgehende – hierarchische Opposition zwischen phallischem Monologismus und femininer Empfänglichkeit. Dadurch kann das Prinzip des Monologischen als Kennzeichen maskulinen Hegemonialstrebens begriffen werden, Dialogizität oder Intertextualität hingegen lassen sich als Figuren der „Weiblichkeit“ deuten. (Still/Worton 1990, 30) (Schahadat, 369f.)

20. Aus dem Anspruch, den Text-Text-Kontakt zu beschreiben, ergab sich eine Vielzahl von Begriffen, die jeweils unterschiedliche Aspekte in dieser Relation betonen. Ein uneinheitlich verwendeter Begriff ist der des Intertextes, mit dem Riffaterre den früheren Text, den Prätext meint, während Smirnow und Greber darunter den intertextuell organisierten Text verstehen, d.h. der Intertext ist der Posttext – in diesem Sinne wird er auch hier verwendet.

Genette unterscheidet, ausgehend von einer „Transtextualität“ (all das, was den Text „in eine geheime oder manifeste Beziehung zu anderen Texten bringt“) fünf Typen des Text-Text-Bezugs: Intertextualität (hier: die „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen“ in Form von Zitat, Plagiat oder Anspielung), Paratextualität (die pragmatische Einrahmung des Textes durch beigeordnete Texte wie Titel, Motto, Vor- oder Nachwort etc.), Metatextualität (ein impliziter Kommentar eines Textes über einen anderen), Architextualität (ein unausgesprochener Text-Text-Bezug [Martinez: taxonomische Zugehörigkeit zu bestimmten Gattungen, Textsorten oder Schreibweisen]) und Hypertextualität (der spätere Text wird als „Text zweiten Grades“ gelesen, „der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist“. [Vgl. auch Martinez, 442f.]

Mit ihrer Terminologie von Geno- und Phänotext für den früheren und den späteren Text betont Kristeva den textgenerativen Aspekt der Intertextualität und impliziert, dass zwischen den Texten immer ein Akt der Interpretation und auch der Transformation stattfindet. Andere Begriffe, die in die Diskussion eingegangen sind, sind Prätext und Posttext (womit die zeitliche Achse der Relation betont wird) und manifester Text und Referenztext. (Schahadat, 370)

Zu Genette: Bei intertextuellen Bezügen ist zwischen Einzeltextreferenz und Systemreferenz Genette: Architextualität) zu unterscheiden, d.h. zwischen Verweisen auf individuelle Prätexte oder aber auf literarische Muster wie Gattungen oder Schreibweisen. Die intertextuellen Bezüge können außer der semantischen auch andere Ebenen des Textes betreffen, nämlich linguistische Aspekte wie Graphie, Interpunktion, Phonologie, Morphologie, Lexik oder Syntax, aber auch Aspekte der metrischen, rhetorischen oder erzählerischen Gestaltung. (Martinez 443)

21. In den genannten Ansätzen rückt der Text in den Mittelpunkt der Lektüre, und zugleich wird der Aspekt der Intentionalität sekundär. Bachtins Dialogizitätsmodell geht von einer Produktionsästhetik aus, im Entwurf Kristevas wird Intertextualität als Aktivität des Textes aufgefaßt. Der Text als écriture erzeugt Intertextualität. Im weiteren hat sich der Schwerpunkt von der Kreativität des Textes auf die Seite des Rezipienten verlagert. Ein Beispiel dafür ist Riffaterres Ansatz. Stierle unterscheidet zwischen einer produktionsästhetischen und einer rezeptionsästhetischen Intertextualität. Eingebettet in ein Konzept von der „Literatur als Gedächtnis“ wiederum tritt die Frage nach Produktion oder Rezeption in den Hintergrund – beide werden in einem Gedächtnisraum angesiedelt, in dem der Text selbst zum Mittelpunkt wird und an dem Autorin und Leserin gleichermaßen teilhaben. (Schahadat, 370f.)

22. Feststellen lassen sich somit unterschiedliche Grade der Erweiterung des Textbegriffs und der Akzeptanz oder auch der Betonung von Sinnerzeugung in den verschiedenen Konzeptionen: Kristeva und Barthes postulieren die totale Entgrenzung, die Interaktion zwischen Text- und Lebensraum, die endlose semantische Produktivität des Textes, die Egalisierung zwischen Schreiber und Leser, zwischen Autor und Kritiker. Auf der anderen Seite wird hingegen eine „Reakademisierung des Konzepts“ versucht, indem ein Instrumentarium und eine Metasprache entwickelt werden, deren Aufgabe darin liegt, das Auseinanderstreben der semantischen Bewegungen zu kontrollieren. In expliziter Ablehnung von Kristevas Transgression spricht z.B. Laurent Jenny von einer „Arbeit der Transformation und der Assimilation mehrerer Texte, die von einem zentralen Text geleitet werden, der die Leitung des Sinns kontrolliert“. (Jenny 1976, 262)(Schahadat, 371)

23. Die intertextuelle Fragestellung unterscheidet sich von der Einflussforschung dadurch, dass sie die Interaktion zwischen den Texten betont, nicht den Einfluss. „Einfluss geht nur in eine Richtung, während Intertextualität eine flexible Beziehung zwischen den Texten etabliert“. (In. Clayton/Rothstein 1991, 50) Dabei wird dem Posttext eine Mehrdeutigkeit zugestanden, die sich aus der Konfrontation des einen Textes mit einer Vielzahl von Referenztexten ergibt.

Seit Aufkommen der Intertextualitäts-Debatte sind verschiedene Modelle entwickelt worden, um die unkontrollierbar scheinenden semantischen Bewegungen im nunmehr entgrenzten Textraum mithilfe eines Beschreibungsinventars zu ordnen und Intertextualität als eine Technik der Textinterpretation zu funktionalisieren. Übergreifend lassen sich zwei grundlegende Operationen unterscheiden, die zur Beschreibung des Text-Text-Bezugs eingesetzt werden: Ein Ansatz sucht die Art des Bezugs zwischen den Texten zu erfassen, während ein anderes Theorieinteresse den Blick auf die Markierungen richtet, die auf eine Doppel- oder Mehrfachkodierung verweisen. (Schahadat, 373f.)

24. Die Relation eines Textes zu anderen (früheren) Texten impliziert immer schon ein transformatives Element; es gilt zu untersuchen, wie genau diese Transformation aussieht. Genette etwa unterscheidet zwischen Transformation und Nachahmung. Genügt es in dem einen Fall, einen Text an einer einzigen Stelle zu verändern, so ist die Nachahmung ein komplizierterer transformativer Prozess. Als Beispiele nennt Genette den Bezug von James Joyces Ulysses und von Vergils Aeneis zu Homers Odyssee: Joyce versetzt die Geschichte des Odysseus  ins Dublin des 20. Jahrhunderts, transformiert sie, während Vergil eine andere Geschichte, die Geschichte des Aeneas, in der Manier Homers erzählt, sie imitiert. Genette betont den konstruktiven Charakter literarischen Wirkens, versteht Literatur als Basteln. Damit vertritt er eine für die Intertextualität typische Absage an romantische Genie-Ideen. (Schahadat, 374)

25. Lachmann unterscheidet zwischen einer Kontiguitäts- und einer Similaritäts-Intertextualität: Manifester Text und Referenztext können einander punktuell berühren, oder aber der frühere Text ist dem späteren aufgrund ähnlicher Strukturen als Paradigma eingeschrieben. Im ersteren Fall wird durch ein Zitat der Prätext als Ganzes aufgerufen, während der letztere Fall vorliegt, wenn beide Texte einander an mehreren Stellen überlappen. Ausgehend von diesen beiden intertextuellen Strategien kann darauf geschlossen werden, welche Einstellung ein Text zu seinem kulturellen Erbe hat. Zeugt die Beziehung der Kontiguität von einer Berührung mit und Partizipation an der Tradition, so ist die Relation der Similarität eine Wiederholung des Äquivalenten mit gleichzeitiger Transformation, d.h. das gegebene Modell wird überschrieben. Ist ersteres ein Akt der Teilhabe, des Weiterschreibens der Tradition, so ist letzteres ein Akt des Gegen- und Neuschreibens. Transformation und Partizipation sind die beiden Pole, die die Einstellung zur Tradition bestimmen. Parodie, Kontradiktio, Kontrafaktur auf der einen Seite oder aber Imitatio (im Sinne von Machen durch Neumachen) auf der anderen sind Strategien, die unterschiedliche Schwerpunkte im Umgang mit dem fremden Text setzen. Als drittes Modell führt Lachmann das der Tropik ein [s.o.]. (Schahadat, 374f.)

26. Die beiden allgemeinsten Begriffe für eine intertextuelle Markierung sind Allusion und Zitat. Beides sind Verfahren zur Etablierung eines Text-Text-Bezugs, und ihre Funktion liegt in erster Linie darin, die intertextuelle Lektüre des Rezipienten in Gang zu setzen.

Herausgearbeitet wurden auch Sonderformen des Zitats: das Autozitat, mit dem eine Dichterin eigene Werke aufruft, sowie das Zitatzitat, das Zitieren eines Zitats, das selbst schon Zitat ist, denn zitiert werden kann nicht nur ein anderer Text, sondern auch ein anderes Medium, z.B. ein Film, zitiert werden können außerliterarische Figuren und historische Ereignisse. (Schahadat, 376)

27. Ein zentraler Diskussionspunkt ist nach wie vor, ob Intertextualität ein Kennzeichen aller oder ein spezifisches Merkmal bestimmter Texte ist. Zu einem Kompromiss lassen sich die beiden Positionen führen, wenn man davon ausgeht, dass es Texte gibt, die (aufgrund ihrer Poetik und ihres kulturellen Umfelds) stärker intertextuell organisiert sind als andere. Demzufolge werden intertextuelle Analysen vornehmlich entweder bei Texten angewendet, die sich einer intratextuellen Deutung verweigern, was insbesondere auf Autoren der Moderne und Postmoderne zutrifft, oder bei Texten literarischer Gruppierungen, deren Poetik durch die Auseinandersetzung und den Dialog mit dem fremden Text bestimmt wird. Das gilt zum Beispiel für die russischen Akmeisten, die zu einem zentralen Paradigma der Intertextualitätsforschung geworden sind.

Für die Analyse wurden zunächst Texte mit einer deutlichen Affinität zur Intertextualität bevorzugt, doch kann sie sich prinzipiell auf alle Texte erstrecken, denn der hermetisch abgeschlossene Textraum ist eine Illusion. Eine intratextuelle Lektüre ist zwar möglich, blebt aber eindimensional, während andererseits eine intertextuelle Lektüre Gefahr läuft, Sinn zu zerspalten und aufzulösen, vor allem in Texten mit einer anarchischen intertextuellen Struktur.

Intertextualität ist eine Art von Welterfahrung, die auf Entgrenzung aus ist. Affiziert von den unterschiedlichsten Disziplinen wird Intertextualität zu einer synkretistischen Theorie, die sich den Synkretismus zugleich als Programm aneignet. Denn vertreten wird ein Modell von Literatur, das die Grenzen nicht nur zwischen Text und Text, sondern auch zwischen Literatur und Ideologie oder zwischen Literatur und Psychoanalyse aufzuheben versucht. (Schahadat, 376f.)

28. Die verschiedenen Intertextualitäts-Ansätze richten ihre Aufmerksamkeit zwar alle auf das Verhältnis eines Textes zu anderen Texten und begreifen Intertextualität als Faktor der Textbedeutung. Aber sowohl der Begriffsinhalt wie der Begriffsumfang von ‘Intertextualität’ werden sehr unterschiedlich bestimmt. Bei Kristeva ist die Intertextualität ein allgemeines Merkmal von Texten: „[...] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“. (Kristeva 1969, 348) Da sie den Textbegriff sehr weit im Sinne kulturell codierter Zeichensysteme fasst und literarische Texte in dem „allgemeinen Text (der Kultur)“ eingebettet sieht (ebd., 113), ist die Intertextualität (wie auch Bachtins Dialogizität) nicht auf den Bereich literarischer Texte beschränkt.

(>Literaturtheoretische Grundannahmen) Anders als Bachtin spricht Kristeva dem als „Mechanismus“ und „Produktivität“ verstandenen Text jedoch eine bedeutungsproduzierende Selbständigkeit zu, die sich von der Instanz einer künstlerischen Gestaltungsabsicht des Autors, dem Konzept eines geschlossenen Werkes und der Idee einer dialogischen Kommunikation zwischen Subjekten ablöst. Der Autor wird zum Schnittpunkt von Diskursen, das intendierte Werk zum ambivalenten Text, an die Stelle der Intersubjektivität tritt die Intertextualität.

In diesem Verständnis wird Intertextualität zu einem Leitbegriff von Poststrukturalismus. Dabei erscheint die intertextuelle Verfassung der kulturell codierten Wirklichkeit als repressive Repetition, aber auch als subversive Differenz: Einerseits gleicht sie als allumfassendes Reservoir ideologischer Diskurse einem Gedankengefängnis, andererseits unterläuft sie wegen der Unkontrollierbarkeit diskursiven Sinns jede ideologische Fixierung. (Martinez, 441f.)

29. Hermeneutisch oder strukturalistisch orientierte Ansätze versuchen demgegenüber, Intertextualität als begrenztes Verfahren innerliterarischer Sinnbildung zu fassen und halten an einem traditionelleren Verständnis von Begriffen wie ‘Autor’, ‘Werk’ und ‘Leser’ fest. Im Unterschied zur gewöhnlichen Quellen- und Einflussforschung geht es diesen Intertextualitätstheorien jedoch weniger um die Einwirkung fremder Texte auf die Textgenese als vielmehr um Verweise des Folgetextes auf Prätexte, die vom Autor beabsichtigt, im Text markiert und vom Leser im Interesse eines angemessenen Textverständnisses erkannt sein müssen. (Martinez, 442)

30. Die verschiedenen Arten und Grade intertextueller Bezüge sind wohl nur durch ein Bündel von einander überschneidenden Kriterien erfassbar, die teils graduelle Unterschiede, teils dichotomische Entweder-Oder-Alternativen anzeigen. Ein Text kann bei der Übernahme einzelner Elemente die Fremdheit des ursprünglichen Kontexts und damit seine Referentialität mehr oder weniger deutlich als solche markieren; er kann seine eigene Intertextualität autoreflexiv thematisieren; er kann punktuell Anleihen machen oder sich zu großen Teilen oder auch insgesamt eines Prätextes als struktureller Folie bedienen; er kann in direkter oder indirekter Weise auf den Prätext anspielen; schließlich kann er in größerer oder kleinerer semantischer und ideologischer Spannung zum Prätext stehen. (Martinez, 443)

31. Im weitesten Sinne umfaßt Intertextualität alle Bezüge eines literarischen Textes auf andere literarische oder auch außerliterarische Texte. Meist allerdings wird Intertextualität enger gefaßt und steht dann im Gegensatz zum Begriff der imitatio. Der Verfasser einer Imitatio erkennt die Überlegenheit des nachgeahmten Prätextes an oder versucht, ihn wetteifernd zu übertreffen (aemulatio). Jedenfalls wird eine Vergleichbarkeit von Prä- und Folgetext im Hinblick auf absolut gesetzte poetologische Normen angenommen; der überlieferte Kanon besitzt vorbildhafte Verbindlichkeit, und der Zielpunkt der Beurteilung des Folgetextes liegt in der Person des Autors, dessen Bildung und Können sich in seinem Text ausdrücken. Intertextualität hingegen betont eher den selbständigen Umgang des Folgetextes mit der Tradition, gesteht kanonischen Werken keine privilegierte Rolle gegenüber anderen Prätexten zu und bezieht sich eher auf den Text als auf die Person des Autors.

Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass literarische Texte seit jeher intertextuelle Verfahren in Form von Parodien, Travestien, Pastiches, Adaptionen, Florilegien oder auch von Zitaten und Anspielungen verwendet haben. Dominierend allerdings werden bestimmte Arten der Intertextualität, in denen der Text einen offenen, vom Leser allererst auszufüllenden Assoziationsspielraum möglicher intertextueller Bezüge anbietet, erst in Texten der literarischen Moderne und Postmoderne. (Martinez, 444)

32. I. bezeichnet die Eigenschaft von insbes. literar. Texten, auf andere Texte bezogen zu sein. I.stheorien beschreiben, erklären oder systematisieren die Bezüge zwischen Texten. – Dass ein literar. Text nicht in einem Vakuum existiert, ist seit langem bekannt, zumal Begriffe wie Imitation, Parodie oder Epikrise schon der klassischen Rhetorik vertraut waren. Darüber hinaus ist allein die Idee von literar. oder anderen Gattungen ohne die Annahme intertextueller Bezüge undenkbar, da die bloße Klassifizierung eines Texts als Typus schon eine Aussage über Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu anderen Texten impliziert. (Aczel, 241)

33. Grundsätzlich sind zwei Kategorien von I.stheorien zu unterscheiden. In der einen wird I. als deskriptiver Oberbegriff für herkömmliche Bezugsformen von Texten verstanden, in der anderen in einem umfassenderen ontologischen Sinn zur qualitativen Bezugnahme auf sämtliche Arten von bedeutungstragenden Äußerungen verwendet. Während deskriptive I.stheorien versuchen, die intentionale und spezifische Anspielung eines Autors auf das Werk eines anderen zu bezeichnen, wurde der ontologische Begriff der I. urspr. innerhalb eines radikaleren theoretischen Projekts geprägt, das gerade die Vorstellung auktorialer Intentionalität sowie die Einheit und Autonomie des ‘Werks’ selbst unterminieren wollte. (Aczel, 241)

34. Diese radikaleren Theorien haben ihre Herkunft in M. Bachtins Theorie der Dialogizität, obgleich die Unterschiede zwischen dieser und der I.stheorie genauso bedeutsam sind wie ihre Gemeinsamkeiten. Nach Bachtin ist jede Äußerung untrennbar mit Dialog und Zitat verbunden. Weil Sprache ein soziales Medium ist, sind die Wörter, die wir benutzen, bereits angereichert mit den Intentionen und Akzenten anderer Sprecher. Äußerungen beziehen ihre Bedeutung nur aus der „dialogisch erregte[n] und gespannte[n] Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente“, mit welchen sie in „komplexen Wechselbeziehungen“ stehen. (Bachtin 1979, 169) Sprache ist gekennzeichnet von Heteroglossie, der komplexen Konfiguration konkurrierender sozialer, generischer und berufsspezifischer Sprachen, die die Stratifikation jeder Einzelsprache zu einem beliebigen Zeitpunkt ausmachen. (Aczel, 241)

35. J. Kristeva berief sich explizit auf Bachtin, als sie den Begriff I. prägte, um damit die dialogische Relation der Texte untereinander zu beschreiben. Laut Kristeva baut sich jeder Text „als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“. (Kristeva 1972, 348) Kristeva und anderen Poststrukturalisten zufolge ist I. eine Eigenschaft aller Texte und beschreibt nicht nur die intentionalen Bezüge von bewusster Anspielung auf andere Texte. Die Kristevasche I.stheorie geht sogar so weit, die auktoriale Intentionalität völlig zu marginalisieren, indem der Dialog von intendierenden Sprechern durch den Dialog von Texten ersetzt wird: „An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität.“ (Ebd.)

An diesem Punkt vollzieht Kristeva jedoch einen Bruch mit Bachtins Dialogizität. Insbes. in seinen späteren Schriften betont Bachtin, dass jeder Text ein Subjekt oder einen Autor habe, und dass Sprache immer die Form einer Äußerung annehme, die zu einem bestimmten sprechenden Subjekt gehört und außerhalb dieser Form nicht existieren kann. (Bachtin 1986, 71, 104)  (Aczel, 241f.)

36. In der Kristevaschen I.stheorie dient der Begriff I. sowohl als polemische Waffe als auch als deskriptives Instrument innerhalb des umfassenderen poststrukturalistischen Projekts der Subjektdezentrierung. Kristeva zufolge ist gerade das Vorhandensein von I. für eine Verwischung der Grenze zwischen lesendem und schreibendem Subjekt verantwortlich; beide werden textualisiert: „Derjenige, der schreibt, ist auch derjenige, der liest“ und ist „selbst nur ein Text, der sich aufs neue liest, indem er sich wieder schreibt.“ (Aczel, 242)

37. Auch R. Barthes stellt in seiner I.stheorie Vorstellungen von Subjektautonomie und auktorialer Intentionalität in Frage, wenn er in Der Tod des Autors (1968) den Leser als Raum beschreibt, in welchen das den Text konstituierende Gewebe von Zitaten“ eingeschrieben sei. Dieser Leser sei jedoch kein unschuldiges Subjekt, das dem Text vorausginge, sondern selbst schon eine Pluralität anderer Texte, ‘unendlicher Codes’. (Aczel, 242)

38. Die universalisierende Tendenz ist ein entscheidendes Moment poststrukturalistischer I.stheorien. J. Derrida, für den Sprache immer ‘Zitat’ oder ‘Iteration’ ist, spricht von einem grenzen- und nahtlosen ‘texte général’. Bachtin zufolge sind intertextuelle Bezüge demgegenüber weder universell noch unendlich, sondern historisch determiniert. Heteroglossie ist nicht das Produkt subjektloser Texte, sondern ein soziales und historisches Phänomen. (Aczel, 242)

39. H. Bloom versucht in seiner I.stheorie eine absolutistische Variante der poststrukturalistischen I. (‘there are no texts, but only relationships between texts’) mit deskriptiver literar. Einflussforschung zu vereinbaren. (>Textauffassung) Bloom zufolge ist der Text, in bes. Maß das Gedicht, ein Schlachtfeld, auf dem der Dichter einen ödipalen Konflikt mit den Prätexten der Tradition und den Einfluss ausübenden ‘Vätern’, die diese Prätexte projizieren, ausagiert. Blooms Konzept einer ‘anxiety of influence’ grenzt nicht nur die möglichen Beziehungen zwischen Text und Prätext ein, sondern repersonalisiert diese wieder, so dass Subjektivität und Intersubjektivität wieder von Bedeutung sind. (Aczel, 242)

40. In dem bisher umfassendsten intertextualitätstheoretischen Projekt versucht G. Genette eine systematische Typologie intertextueller Relationen aufzustellen. [s.o.](Aczel, 242)

41. Der Begriff I. ist derzeit als Bezeichnung für eine Vielzahl möglicher Bezugsformen von Texten in Gebrauch, seien sie intentional oder unbewusst, zufällig oder von theoretischer Notwendigkeit. (>Kritik) Darüber hinaus widersprechen sich die beiden extremen Versionen. Wenn alle Texte nur Aktualisierungen eines anonymen und uneinholbaren Intertextes oder ‘texte général’ sind, wie kann man dann noch von einzeln auffindbaren oder abgrenzbaren Prätexten sprechen? Und wie können der Strukturalismus und der anti-teleologische und ahistoristische Poststrukturalismus die diachrone Vorgängigkeit aufrechterhalten, die der ontologische Begriff des Prätextes impliziert? So bleiben die zwei Richtungen innerhalb der I.stheorie nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch unvereinbar. Während die I.stheorie in ihrer textanalytischen Anwendung die Bezüge zwischen einzelnen Texten ermittelt und analysiert, stellt sie in ihrer sprachontologischen Anwendung gerade die Grundlage einer solchen Auswahl in Frage. (Aczel, 242f.)

42. Die Intertextualität ist mit Abstand das erfolgreichste Konzept der poststrukturalen Literaturtheorie. Der hohe Bekanntheitsgrad bedeutet aber nicht, dass Intertextualität ein einfacher Begriff wäre.

Es liegen zwei Hauptrichtungen vor, die sich dadurch unterscheiden, das strukturalistische Theorem der Transformation (= prozesshafte Umgestaltung der Textzeichen) jeweils anders ausgelegt wird. Der Streitpunkt ist, inwieweit, wenn überhaupt, die Transformation vom Prinzip der Äquivalenz gelenkt wird.

Die erste Richtung radikalisiert die Transformation, indem sie sie mit der Figur des offenen Textes verknüpft. Texte sind umgestaltbar, weil sie unabschließbar sind. Dieser im engeren Sinn poststrukturalistische Ansatz geht auf Julia Kristeva zurück, die den Intertextualitäts-Begriff auch in die Diskussion eingeführt hat. Die zweite Richtung vollzieht die Öffnung des Textes nur in gemäßigter Weise nach und macht das Erfordernis praktischer Beschreibungskategorien geltend. (>Literaturtheoretische Grundannahmen) Während im poststrukturalen Ansatz die Transformation der textlichen Zeichen als ambig und unendlich offen angesehen wird, vollzieht sie sich in der zweiten Richtung nach kodifizierbaren Prozessen oder anhand von Hinweisen im Text selbst.

Im literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch haben sich die Differenzen allerdings abgeschliffen. ‘Intertextualität’ verweist global auf die literarische Zitierpraxis. (Bossinade, 94f.)

43. Zu Kristevas Aufsatz Der geschlossene Text (dt. 1977). Der theoretische Kernbegriff der Autorin lautet ’poetische Sprache’. Das Poetische ist hier eine modellierende (=formende, bildende) Funktion, die der semiosymbolischen Gespaltenheit des sprachlichen Zeichens entspringt. Sie führt dazu,  die Vereinheitlichungstendenz der Sprache geschwächt wird. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzt sich die Sprache mit erhöhter, von gattungspoetischen Normen befreiter Dynamik gegen die Sinn- und Sachzwänge der Gesellschaft zur Wehr.

Die „Normalsprache“ ist der poetischen Sprache als ein entmachtetes, der Wahrheitslogik entzogenes System inkludiert. Die wahre Macht fällt im poetischen Text dem untrennbaren Doppel von Schreiben-Lesen zu, auf dem auch die Dynamik der intertextuellen Beziehung fußt. Weil der poetische Text die Wahrheitslogik der Sprache prinzipiell überwunden hat, kann er sich auf den Raum der Geschichte hin öffnen. (Bossinade, 95ff.)

44. Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman (dt. 1972) ist Kristevas bekanntester Aufsatz zur Intertextualität. Als Ausgangspunkt wählt sie die Arbeiten des russischen Literaturtheoretikers Michail Bachtin (1885-1975). Aus dessen Begriffsvorgaben ‘Dialog’ und ‘Ambivalenz’ wird die Intertext-Perspektive extrapoliert. Bachtin hatte den Begriff des Dialogs auf der Ebene des Worts angesetzt: Ein Wort werde vom Romanschriftsteller in einen Diskurs, einen Zusammenhang von Redensarten gebracht, der die Spuren anderer Wortverwendungsweisen in sich virulent halte. Den Begriff der Ambivalenz hatte Bachtin dem volkstümlichen Brauch des Karneval entnommen, dessen zweideutige Verkehrungen er in die Sprache des von ihm so bezeichneten ‘polyphonen Romans’ übernommen sah.

Kristeva verallgemeinert Bachtins Vorgaben. Sie fasst ‘Dialog’ und ‘Ambivalenz’ als Ausdruck einer „logique du transfini“ auf.

Wenn der fremde Text samit seiner historisch-semantischen Ladung in einen neuen Kontext ‘eingelesen’ wird, wird er zum Teil eines Dialogs. Dieser ist ein unauflösbar ambivalentes Nebeneinander von alter und neuer Bedeutung. Jeder Text erscheint nun als „Mosaik von  Zitaten“. (Bossinade, 97f.)

45. In ihrem Revolutions-Buch von 1974 schlägt Kristeva vor, fortan von „Transposition“ zu reden, da der Begriff „Intertextualität“ dem Missverständnis philologischer Quellenkunde ausgesetzt sei. Der Begriffswechsel ist auch daraus erklärbar,  sich Kristeva zunehmend für die Sache der Psychoanalyse engagiert. Die Transposition trägt der triebsemiotischen Dynamik der Sprache Rechnung, die in den frühen Intertextualitäts-Studien noch keine Leitfunktion hat. Der Unterschied lässt sich an der Frage der thetischen Setzung ermessen. In der Logik des Paragramms existieren beidseits des thetischen Einschnitts zwei nebengeordnete Positionen, ein basisdemokratisches Modell, wenn man so will. Die Dynamik des Semiotischen hingegen ist auf den Umsturz jeweils einer, sich an anderer Stelle erneuernden Setzung gerichtet. Das Semiotische begnügt sich damit, unermüdlich eine Autoritätsposition abzubauen, eben die, die sich gerade errichtet hat. Das Paragramm hält den Konflikt zweier im selben Textraum vorhandener, aber orts- und zeitverschobener und aufeinander nicht abbildbarer Positionen offen. Das Semiotische wiederum vermag den Anspruch an die Literatur auf eine Erneuerung des Symbolischen konkreter, nämlich aus dem körperdynamischen Substrat der Sprache zu begründen. Subjekt und Intersubjektivität sind nun wieder relevante Begriffe. (Bossinade, 99f.)

46. (>Textauffassung) Literatur wird als ein Textraum konzipiert, in dem jedes Bedeutungselement die Replik auf unendlich viele andere ist. Ein einfaches Textverstehen ist nach dem Urteil der Autorin aufgrund der literarischen „Echos“ für immer ausgeschlossen. Nicht, dass der Textsinn als solcher vieldeutig wäre. Es ist vielmehr so, dass für die sinnverändernde Transformation der literarischen Zeichen keine letzte Grenze anzugeben ist. (Bossinade, 100)

47. In der Intertextualitäts-Diskussion kehrt ein bestimmter Konflikt regelmäßig wieder. Es ist der Konflikt zwischen der Annahme eines universellen Textraums einerseits und den pragmatischen Anforderungen der Analyse andererseits. Ein „Konzept“, so die kritische Bilanz, „das so universal ist, dass zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischem Potential für die Analyse und Interpretation.“ (Pfister 1985, 15) Aus hermeneutischer, rezeptionsästhetischer und kommunikativ-semiotischer Sicht ist das Intertextualitäts-Konzept entsprechend eingegrenzt worden. (Bossinade, 100)

48. Derrida spricht von ‘Intertextualität’ nur selten. Etwas anderes als intertextuelle Operationen gibt es in seiner Optik nicht. Intertextualität ist für Derrida nicht eine Besonderheit, sondern der permanente Zustand der Kommunikation, zu deren Beschreibung ihm das Wort ‘Textualität’ genügt(Bossinade, 102f.)

49. Derrida hat die Grundlage für einen neuen Textbegriff gelegt, der bald schon eine zentrale Bedeutung für die Literaturwissenschaft gewinnt: den der Intertextualität. Zwar war das Phänomen der Intertextualität als Verweis eines Textes auf einen ihm vorangegangenen Text ein Kennzeichen der abendländischen Literatur von ihren Anfängen her. Eine neue Wendung gewinnt der Begriff der Intertextualität in der Dekonstruktion jedoch, wenn die Beziehung eines Textes zu einem Vorgängertext zu der auf eine dem Text überhaupt vorgängige Form der Abwesenheit erweitert wird. Indem er den Text als Transformation eines anderen Textes beschreibt, der als solcher nie präsent ist, begründet Derrida einen Begriff der Intertextualität, der nicht mehr einfach das Verhältnis von zwei empirisch vorliegenden Texten zum Gegenstand hat, sondern die Relation von einem Text zu einem ihm vorgängigen abwesenden Text zum Paradigma der Literatur erhebt. (Geisenhanslüke, 102f.)

50. Kristeva beruft sich nicht nur auf Derrida, sondern auch auf Bachtin. Wie Bachtin die dialogische Rede, so begreift Kristeva den Text insgesamt als ein dynamisches Konzept.

Die These, jeder Text nur ein Baustein aus ihm vorgängigen Elementen sein soll, ist das Revolutionäre an Kristevas Begriff der Intertextualität. Denn damit nennt die Intertextualität nicht mehr ein empirisch nachweisbares Phänomen in der Geschichte der Literatur, sie wird zum Paradigma literarischer Sprache überhaupt. Der Begriff der I. kann somit für sich beanspruchen, die poststrukturalistische Antwort auf die von Jakobson erhobene Frage nach der Poetizität der Sprache zu sein: Die poetische Funktion der Sprache beruht demzufolge auf dem Verweisungscharakter, der einen Text an ihm vorgängige Texte zurückbindet. (Geisenhanslüke, 103)

51. Analog zur Idee der nicht abschließbaren Signifikantenkette bei Lacan definiert Kristeva den Begriff der Intertextualität als unendlichen Verweisungszusammenhang zwischen den Texten. Dabei geht es nicht mehr um die zeitlich-historische Dimension des Verhältnisses von einem bestimmten literarischen Text zu einem bestimmten literarischen Vorgängertext, sondern um die räumlich-systematische Ebene eines Bündels von Texten, das wechselseitig aufeinander, aber auf keinen Ursprungstext mehr verweist. Die Frage nach der Relation zwischen Texten wird wichtiger als die nach den Texten selber. Prinzip eines nicht mehr einheitlichen, sondern multiplen Textbegriffs, der frei von der Frage nach einem Autor-Subjekt eine eigene Selbständigkeit erlangt: Am Ursprung der Texte steht kein schaffender Autor, sondern ein unendlicher Fluss von Texten, die sich immer neu kombinieren lassen. (Geisenhanslüke, 104)

52. Bloom. Seine Auffassung vom literarischen Text hat Bloom in dem Begriff der „Einfluss-Angst“ zusammengefasst: „Einfluss, wie ich das Wort verstehe, bedeutet, dass es keine Texte gibt, nur Beziehungen zwischen Texten“ (Bloom 1997, 9). Damit knüpft er einerseits an die Vorstellung eines rein relationalen Textbegriffes an. Andererseits aber geht er über den Begriff der Intertextualität hinaus, indem er mit der Theorie der Einflussangst das rhetorisch wie psychologisch strukturierte Moment des Nachgeborenseins moderner Dichtung benennt. Auf Rebellion beruhender Traditionsbegriff. Eine agonale Theorie der Autorschaft auf der Grundlage einer Rhetorik zwischen den Texten leitet die Verknüpfung von Rhetorik und Psychoanalyse im Begriff der Einflussangst, da jeder literarische Text von Rang Bloom zufolge letztlich aus dem uneingestandenen Versuch resultierte, seinen Vorgängertext zu übertreffen, umzuschreiben und letztlich ungeschehen zu machen. (Geisenhanslüke, 104f.)

53. Dass der späte Bloom seine agonale Theorie der Intertextualität im Zeichen Nietzsches und Freuds zu einer Sanktionierung des literarischen Kanons umfunktioniert hat, die ganz auf den Schultern des Säulenheiligen Shakespeare ruhen soll, hat zu Irritationen auf Seiten der Kritiker geführt.

(>Kritik) Der Erfolg des dekonstruktiven Intertextualitätsbegriffes geht mit einem deutlichen Verlust an Präzision einher. Wenn jeder literarische Text die Wiederholung eines anderen, ihm vorgängigen Textes ist, wie Kristeva meint, jedes Gedicht die Trope eines anderen Gedichtes ist, wie Bloom meint, dann ist es gerade nicht mehr die Singularität und Materialität der historischen Erscheinungsweise eines literarischen Textes, die in den Blick rückt, sondern die Idee eines selbstmächtigen Transformationsprozesses, der über alle Texte regiert. Rechtfertigen lässt sich dieser erweiterte Begriff von Intertextualität nur, wenn die Prämisse von der unaufhebbaren Abwesenheit eines Urtextes geteilt wird, wenn der Begriff der Intertextualität mithin nicht empirisch verwendet wird, sondern als Ausdruck eines dem Text vorgängigen Unbewussten oder als Zeichen der verschiebenden Arbeit der différance verstanden wird. In jedem Fall aber führt der Begriff der Intertextualität die poststrukturalistische Literaturtheorie an ihre Grenzen: In der Definition als Relation zwischen Texten lässt er nichts zu, was nicht schon Text wäre. (Geisenhanslüke, 105)


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