6.05 Die wichtigsten Ansätze
1. Die Arbeiten Julia Kristevas bilden den Ausgangspunkt
für die Entwicklung einer Intertextualitätstheorie. (a) In ihren Schriften, die Ende der sechziger Jahre im
Umkreis der Gruppe Tel Quel (einer Verbindung linker französischer
Intellektueller) entstanden sind, entwickelt Kristeva eine ‘Translinguistik’,
die die Textgrenzen auflöst, was soweit geht, dass prinzipiell jedes
Zeichensystem als Text begriffen werden kann. Auf diese Weise werden soziale
Strukturen zu Texten und Texte zu Ideologemen. Wenn Kristeva Intertextualität
als die Transposition eines Zeichensystems in ein anderes definiert, so
bedeutet das, dass es ihr nicht nur um den Kontakt zwischen literarischen
Texten geht, sondern auch um die Interaktion zwischen Text und Gesellschaft,
Text und Geschichte. (b) Kristeva ordnet das poetische Wort auf einer
horizontalen Kommunikations-Achse an, die Sender (das schreibende Subjekt) und
Empfänger (Leser) miteinander verbindet, und auf einer vertikalen Ebene, wo das
Wort in seinem Kontext steht. Diese beiden Ebenen findet sie in Bachtins Dialogizitätskonzept
wieder, der hier von Dialogizität und
Ambivalenz spricht. In seiner
Vorstellung vom dialogischen Wort geht Bachtin von einer Zweistimmigkeit aus;
das Wort wird als hybride Konstruktion begriffen, in der zwei Stimmen, zwei
Sprachen, zwei Kontexte aufeinandertreffen, so dass es eine innere Dialogizität
erlangt. Ambivalenz ergibt sich eben daraus, dass jedes Wort in einen Kontext
eingebettet ist. Der entscheidende Schritt, den Kristeva für die
Intertextualität macht, ist die Übertragung des dialogischen Wortes Bachtins
auf den dialogischen Text. Ausgehend von Bachtin entwickelt Kristeva ihre Vorstellung
von der poetischen Sprache als double,
als Doppelzeichen: Jedes sprachliche Zeichen ist ein Doppelzeichen, ist
dialogisch und ambivalent. Das Zeichen wird dabei nicht in seinem Binarismus
von Signifikant und Signifikat als doppeltes begriffen, sondern das Doppeltsein
wird auf die Ebene der Signifikanten verlagert. (>Textauffassung) Für die Ebene des Textes bedeutet das, dass jeder
Text andere Texte impliziert, als Text an sich schon gedoppelt ist. In Kristevas Theorie geht nicht nur Bachtin als ‘anderer
Text’ ein, auch Derrida und Lacan hinterlassen ihre Spuren. Indem Derrida,
Lacan und Kristeva die Einheit des Zeichens aufbrechen und die Signifikanten in
den Mittelpunkt stellen, evakuieren sie das Signifikat und destabilisieren so
die Zuweisung von Sinn. In Anlehnung an Lacan kann die Konsequenz gezogen
werden, dass ein Text für einen anderen Text oder neben einem anderen Text
stehen kann, doch repräsentiert nicht mehr ein Text einen Sinn. (c) Kristevas Idee vom double
geht zudem auf Starobinskis Arbeit über de Saussures Anagramm-Studien zurück:
de Saussure vermutet in den saturnischen Versen, die er untersucht, Anagramme,
d.h. Wörter, die durch Zerstückelung und kryptische Techniken der
Buchstabenverstellung in die Verse eingeschrieben sind. De Saussures Anagramm
wird von Kristeva zum Paragramm entwickelt, zum Doppelzeichen, das eine Lektüre
notwendig macht, die unter der Textoberfläche, die unter der Textoberfläche
Spuren eines anderen, ‘fremden’ Textes ahnt.. Eine solche Lektüre fordert der
russische Formalist Tynjanov zum Beispiel für die Texte Dostoevskijs, bei denen
Gogol immer als Folie mitgelesen werden muss. Das Doppelzeichen zieht eine
weitere Konsequenz nach sich: die Vorstellung vom Schreiber als Leser, vom
Schreiber, der das Gelesene im Schreiben doppelt. Schreiben wird als
„produktives Lesen“ (Kristeva) interpretiert. Die Lektüre des fremden Textes
erzeugt einen intertextuell organisierten Text, einen Intertext. (Schahadat, 367ff.) 2. Eine andere Folie für die Intertextualitäts-Theorie ist
der russische Formalismus mit seinem linearen, vektorial gerichteten
Einflussmodell; zentral ist in diesem Rahmen Jurij Tynjanovs Parodietheorie.
Eine Schaltstelle zwischen Intertextualität und Einfluss nimmt hingegen Harold
Bloom ein, der den formalistischen Evolutionsgedanken aufgreift, diesem jedoch
eine psychoanalytische Dimension
verleiht und zudem dekonstruktive Prämissen in sein Einflussmodell
einbindet. Tynjanovs Parodie-Aufsatz (1924) ist ein früher Beitrag
zum formalistischen Evolutionskonzept, in dem die Parodie den Normbruch im
herrschenden literarischen System bezeichnet und die Ablösung einer
literarischen Richtung durch eine andere bewirkt. Der Kampf des verspäteten
Nachkommen gegen den unvermeidlichen Vorläufer, der das Zentrum von Blooms
Schriften bildet, ist in Tynjanovs Aufsatz über Dostoevskijys
Auseinandersetzung mit Gogol schon angelegt.
(Schahadat, 372) 3. Michail Bachtins (1895-1975) Theorie der „Dialogizität“
beruht auf seiner Auffassung sprachlicher Kommunikation. Er kritisiert an der
Linguistik Saussures, dass sie nur die situationsinvariante „Bedeutung“, nicht
aber den besonderen „Sinn“ einer sprachlichen Äußerung erfasse. Dieser wird
erst verständlich, wenn man auch die besondere Situation berücksichtigt, in der
sich der Sprecher mit seiner Äußerung an einen Hörer richtet. Erst in ihrem
komplexen Sinn referiert die Äußerung auf Wirklichkeit. Kein Satz ist mit rein
sprachlichen Mitteln auf einen fixen Sinn festlegbar – ein und derselbe
Wortlaut kann, je nach Verwendungssituation, unterschiedlichen Sinn tragen. In mündlicher
Rede kann der Sprecher mit Hilfe außersprachlicher Mittel wie Gestik und Mimik
über den propositionalen Gehalt seiner Worte hinaus eine persönliche Haltung
zum Ausdruck bringen, die den aktuellen Sinn der Äußerung mitbestimmt. Aber
auch einer weitgehend auf das Medium der Sprache reduzierten schriftlichen Äußerung ist die Position
ihres Urhebers abzulesen. Bachtin geht so weit zu sagen, dass jede sprachliche
Äußerung vom „verbal-ideologischen“ Standpunkt ihres Sprechers imprägniert ist.
Damit ist nichts Subjektiv-Privates gemeint. Bei Bachtin erscheint der Sprecher
in seiner Rede stets als kollektives Subjekt, als Repräsentant soziologisch
fixierbarer Gruppen, deren spezifische „Sprache“ er spricht. Jeder Mensch hat
im Laufe seines Lebens je nach sozialer Situation und Funktion an
unterschiedlichen Sprachen Anteil. Indem der Sprecher sich eines kollektiven Sprachgebrauchs
bedient, bezieht er sich auf den Gegenstand seiner Äußerung stets in einer
sozialtypischen Färbung. Die anderen Sprachen bilden einen latenten Hintergrund
für die explizite Rede. Darüber hinaus wird die sprachliche Kommunikation auch
durch den Bezug auf den Gesprächspartner in der eigenen Rede dynamisiert. So entsteht durch die Konfrontation verschiedener Sprachen
und der durch sie repräsentierten Weltsichten eine innere Dialogizität. Eine sprachliche Kommunikation zu verstehen
heißt, sie als Szenario einer Auseinandersetzung widerstreitender Weltsichten
zu erkennen. Obwohl Bachtin einerseits behauptet, dass jede Äußerung
dialogisch sei, spricht er andererseits auch vom Gegensatz zwischen
„monologischer“ und „dialogischer“ Rede. Bachtin sieht die „ptolemäische“ Welt
des monologischen Bewusstseins besonders in Epochen wie dem Hochmittelalter
oder in oralen Gesellschaften ausgeprägt. Zwar gebe es auch in monologischen
Gesellschaften verschiedene „Sprachen“, doch seien diese durch die zentrale Position
einer einzigen Weltanschauung (etwa der katholischen Kirche) hierarchisch
geordnet. Das dialogische Bewusstsein der „galileischen“ Welt sei hingegen
durch die Koexistenz einer Vielzahl konkurrierender Weltsichten
dezentralisiert. (Martinez, 430ff.) 4. Die literarische Rede ist nach Bachtin durch dieselben
Züge charakterisiert, die für sprachliche Kommunikation allgemein gelten.
Schriftliche Kommunikation ist gegenüber mündlichen insofern defizitär, als sie
bei der Vermittlung von Sinn auf außersprachliche Mittel wie Mimik oder Gestik
und auf den gemeinsamen Situationsrahmen verzichten muss. Bei schriftlichen
Mitteilungen gibt es eine räumliche und zeitliche Differenz zwischen
Entstehungs- und Rezeptionskontext des Textes. Fiktionale Texte fügen eine
weitere Differenz hinzu, indem sie eine imaginäre Kommunikationssituation
entwerfen, die der Leser allein aus dem Text heraus rekonstruieren muss. Bachtins Interesse gilt jenen Fällen, in denen ein fremdes
Wort mit der Rede des Sprechers interferiert und so ein „zweistimmiges Wort“ entsteht. Beim
„zweistimmigen Wort“ sind zwei Typen zu unterscheiden: die explizite
Reproduktion des fremden Wortes und die verdeckte Anspielung auf das fremde
Wort in der eigenen Rede. (1) Im Fall der „Stilisierung“ reproduziert der Autor das
fremde Wort einer Figur vor dem Hintergrund seines eigenen, von der Figurenrede
abweichenden Standpunktes, so dass ein „objektivierender Schatten“ auf das
fremde Wort fällt und es mit einer zweiten „Bedeutungstendenz“ belegt. Das Wort
dient so „gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene
Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die
gebrochene des Autors“. (Bachtin 1979, 213) Eine Verschärfung der Stilisierung
stellt die Parodie dar: Die verdeckte Autorstimme bestreitet implizit den
Wahrheitsanspruch der Figurenstimme. (2) Zweistimmigkeit entsteht auch, wenn der Autor in
eigener Sache zu sprechen scheint, dabei aber in einer „hybriden Konstruktion“
indirekt auf ein fremdes Wort Bezug nimmt. Als Beispiel nennt Bachtin das
unterwürfige, die eigenen Aussagen sogleich wieder infragestellende Sprechen
oder auch beleidigende Anspielungen. (Martinez, 433ff.) 5. Bachtin sieht die Literatur in zwei große Gruppen
zerfallen, welche antagonistische Grundkräfte repräsentieren, die jede Kultur
prägen: einerseits die zentripetalen Kräfte der Vereinheitlichung und
Zentralisierung, andererseits die zentrifugalen Kräfte der Dezentralisierung
und Differenzierung. Monologische Werke sind charakteristisch für zentralisierte
Kulturen, dialogische Werke hingegen Ausdruck zentrifugaler Tendenzen. Das Hochmittelalter ist für Bachtin Beispiel einer
weitgehend zentralisierten Kultur, die aber von einer zentrifugalen,
subversiven „zweiten Welt“ des Karnevals begleitet wurde. In der Renaissance
fand die „Lachkultur“ schließlich auch Eingang in die Hochkultur. Ihr Grundzug
ist die Subversion der traditionellen, ernst-offiziösen Lebensform. Die
Karnevalisierung zerstört nicht anerkannte Werte, aber relativiert ihren
absoluten Geltungsanspruch. (Martinez, 435f.) 6. Bei Bachtin erscheinen monologische und dialogische
Tendenzen in der Literatur einerseits als anthropologische Konstanten, deren
Kampf die gesamte Literaturgeschichte durchzieht. Andererseits beschreibt er
Dialogizität als Emanzipation aus monologischen Anfängen, also als historisch
spätes Stadium einer linearen Entwicklung. In dieser Perspektive gelten die
Romane Dostoevskijs als erste vollständige Verwirklichung des dialogischen
Prinzips in der Literatur. Bachtin erklärt ihn zum Schöpfer des „polyphonen
Romans“. (Bachtin 1971, 201) Die Protagonisten des polyphonen Romans vertreten
unvereinbare Standpunkte, deren Konkurrenz nicht durch eine übergeordnete
Autorinstanz entschieden wird. Nicht nur die Positionen der Figuren, sondern
auch die des Autors sind im polyphonen Roman in die wechselseitige
Relativierung einbezogen. Dabei hält Bachtin jedoch an der Existenz einer „letzten
Bedeutungsinstanz“ fest, nämlich an der „Intention des Autors“. Auch wenn der
Autor nicht direkt spricht, wird seine Intention doch indirekt verwirklicht.
(Martinez, 437f.) 7. (>Kritik)
In Bachtins literaturgeschichtlichen Analysen vermischen sich deskriptive und
normative Elemente. In Dichtotomien wie „monologisch“ vs. „dialogisch“,
„zentripetal“ vs. „zentrifugal“ wird die jeweils zweite Hälfte favorisiert.
Wenn ein Autor der dialogischen menschlichen Wirklichkeit gerecht werden
möchte, dann – so wird suggeriert – sollte
er dialogisch verfahren. Auf diese Weise wird die Legitimität monologischer
Literatur ausgeblendet. Bei Bachtin vermischen sich auch Aussagen über
anthropologische und Aussagen über historische Sachverhalte. Ist Dialogizität
eine Konstante menschlicher Wirklichkeitserfahrung, oder ist sie ein historisches Phänomen, das nur in bestimmten
Epochen dominiert? Ferner: Ist das Phänomen der Dialogizität auf den
Gegenstandsbereich der literarischen ‘Worte’ beschränkt, oder betrifft es auch
die Analyse des Literaturwissenschaftlers? Bachtin vertritt die Meinung, die
Literaturwissenschaft müsse selbst dialogisch verfahren. Dialogisches Verstehen
ist aber nicht elbe wie das Verstehen von Dialogizität. Man sollte zwischen
Objekt- und Metasprache unterscheiden. (Martinez, 440f.) 8. Bachtins Ideen blieben jahrzehntelang weitgehend
unbeachtet. Von den sechziger Jahren an erlangten sie jedoch über Julia
Kristeva auch internationale Verbreitung. Mit Bezug auf Bachtin prägte Kristeva
den Namen „Intertextualität“ für eine Theorie, die sich allerdings von
derjenigen Bachtins in wichtigen Punkten unterscheidet. Seither ist unter
diesem Namen eine Vielzahl von Ansätzen entstanden, die methodisch und
konzeptionell oft weit auseinander liegen. (Martinez, 441) 9. Als der Begriff Intertextualität in den 60er Jahren von
Julia Kristeva im Umfeld der Gruppe „Tel Quel“ geprägt wurde (Kristeva 1978,
69), hatte er in erster Linie politische und kulturkritische Implikationen. In
seiner weiteren Entwicklung ist dieser Anspruch jedoch zunächst in den
Hintergrund getreten; entworfen wurden eine Intertextualitätstheorie und ein
Instrumentarium für die Textanalyse. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Den Ausgangspunkt bildete Kristevas Konzept vom Text als double, als Doppelzeichen, das neben dem
manifesten immer noch einen latenten Text umfasst. (Lachmann, Schahadat, 677) 10. (>Ziele/Perspektive)
Intertextualität bezeichnet den Text-Text-Bezug. Dabei handelt es sich um eine
Literaturbetrachtung, die nicht den geschlossenen Text ins Zentrum der Lektüre
rückt, wie der Strukturalismus oder der New Criticism, sondern die Funktion der
anderen Texte in einem gegebenen Text. In der Literaturwissenschaft konkurrieren ein eher
traditioneller Ansatz mit einem progressiveren, der theoretische Positionen des
Dekonstruktivismus in die Textanalyse einbringt. Die erste Richtung
instrumentalisiert Intertextualität zu einem hermeneutischen Handwerkszeug,
ohne Konzepte wie Text und Sinn zu hinterfragen; die Lektüre zielt ab auf eine
eindeutige Interpretation, auf die Erhaltung eines letztlich einen Sinnes. In den letzten Jahren tendieren
intertextuelle Analysen jedoch dazu, eben diesen einen Sinn zu vermeiden;
betont werden Ambivalenz, Doppelkodierung und Überdeterminierung des
intertextuell organisierten Textes.(Lachmann,
Schahadat, 677f.) 11. Anleihen wurden bei der Rhetorik und den
Anagrammstudien Ferdinand de Saussures gemacht. Generell lassen sich zwei
Tendenzen unterscheiden. Eine Richtung versucht, die Markierungen zu erfassen,
die auf die Doppel- oder Mehrfachkodierung des Textes verweisen, die andere
beschreibt die Relation zwischen den Texten. Hat erstere den Anspruch, eine
Intertextualitätsgrammatik zu erstellen, so zielt letztere auf die
Sinnerzeugung ab, die durch das Aufeinandertreffen zweier oder mehrerer Texte
und Kontexte in Gang gesetzt wird; diese Tendenz steht im folgenden im
Mittelpunkt. Die Relation zwischen den Texten lässt sich mit Hilfe
dreier Modelle genauer bestimmen: des Modells der Partzipation, der
Transformation und der Tropik. Diese drei Modelle entsprechen den Strategien
des Weiter-, Um- und Widerschreibens, die der manifeste Text im Umgang mit dem
Vorläufertext einsetzt. (Lachmann, Schahadat, 678) 12. Einige Prämissen: (1) Die intertextuelle Lektüre zielt auf die semantische
Ebene der Texte ab, da diese der Ort ist, der durch das Aufeinandertreffen
verschiedener Sinnpositionen affiziert wird. Erzeugt wird ein semantischer
Mehrwert, der von Sinnkomplexion bis hin zur Sinnzerstäubung reichen kann. (2) Die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen den
Texten schließt die der kulturologischen Begründbarkeit ein. Intertextualität
ist epochenspezifisch verankert, denn intertextuelle Praktiken variieren,
ebenso wie intratextuelle Verfahren, von Epoche zu Epoche. Jede literarische
Richtung baut Allusionen und Zitate auf eine Weise in die Texte ein, die ihrer Poetik
entspricht. (3) Begreift man die intertextuelle Dimension des Textes
als Gedächtnis des Textes, in dem ein anderer, fremder Text erinnert, abgelöst
oder weitergeschrieben wird, so erscheint Literatur als Gedächtnis der Kultur.
Der Umgang mit dem fremden Text (Bewahren, Verbergen, Zerstören) zeugt von der
Einstellung zur antezedenten Kultur und von seiner Selbstbestimmung im Rahmen
der Kultur. Das bedeutet, dass Intertextualität eng mit einem Gedächtniskonzept
verschränkt ist. (Lachmann, Schahadat, 678) 13. Partizipation meint den intertextuellen Dialog, das
heißt die sich im Schreiben vollziehende Teilhabe an den Texten der Kultur. Ein
Text, der an fremden Texten partizipiert, schreibt sich ein in die Tradition,
wobei Tradition nicht als diachrone Textkette zu verstehen ist, sondern als
offener Raum, als Textuniversum. Durch ihr poetologisches Programm, das auf die Teilhabe an
und den Dialog mit der vergangenen Kultur abzielt, avancieren die russischen
Akmeisten – dazu gehören vor allem Anna Achmatova (1889-1966), Nikolai Gumilec
(1886-1921), Ossip Mandel’stam (1891-1938) – zu klassischen Vertretern einer
Intertextualität der Partizipation. Das akmeistische Gedicht erscheint als
lyrische Replik in einem unendlich andauernden Gespräch, das nicht nur mit der
vergangenen, sondern auch mit der gegenwärtigen Kultur geführt wird. Der poetischen Handlung, die schreibend-erinnernd einen
Kontakt mit der Literatur herstellt, entspricht die akmeistische Poetik, die
Begriffe wie Schreiben – Text – Gedächtnis – Dialog in den Mittelpunkt rückt. Die Zitate fremder Texte dominieren die akmeistische
Lyrik, so dass diese ohne die Aufdeckung des intertextuellen Subtextes oft
unverständlich, kryptisch wirkt. Das gilt z.B. für Anna Achmatovas Poem ohne Held (1940-1962), dessen
zahlreiche Zitate die Aufschlüsselung der in den Text eingegangenen fremden
Stimmen herausfordern. Der erste Teil des Poems evoziert das Silberne Zeitalter
der russischen Kultur, speziell in Petersburg. Als die Verkörperung dieser
vergangenen Epoche gilt Achmatova der symbolistische Dichter Alexandr Blok
(1880-1921). Die scheinbar zusammenhanglos aneinandergereihten Zitate aus
Blok-Gedichten haben die Funktion, die Epoche als Ganzes auferstehen zu lassen.
Es wird eine metonymische Reihung entwickelt, durch die die Gegenwart (1940)
mit den vergangenen Texten und in einem weiteren Schritt mit der vergangenen
Epoche verbunden wird. Die Partizipation an den Texten der Kultur geschieht in
Achmatovas Poem mit Hilfe einer Poetik der Berührung, der Kontiguität; das
Aufrufen der fremden Texte gestaltet sich zu einer Teilhabe an der fremden,
vergangenen Kultur, die von der gegenwärtigen im Textspeicher aufbewahrt wird.
(Lachmann, Schahadat, 679f.) 14. Im Gegensatz zur dialogischen Teilhabe, welche die
antezedente Kultur sichtbar macht, neigt der transformierende Gedächtnisakt
dazu, den früheren Text zu verbergen, ihn unkenntlich zu machen und den fremden
als eigenen Text zu präsentieren. Intertextuelle Beziehungen solcher Art zeigen
eine Tendenz zur Kryptik, wobei die originären Spuren verdeckt werden. Die
Folge ist die Unterwerfung des fremden poetologischen Programms unter das
eigene. Transformation lässt sich als ein Überschreiben begreifen:
der fremde Text wird dem eigenen gleichgemacht. Als Beispiel bietet sich der
russische Symbolismus an. In Bloks Drama Die
Rose und das Kreuz (1912) werden zwei Prätexte miteinander kombiniert, um
eine spezifisch symbolistische Sujetstruktur hervorzubringen, das Sujet vom
„Dichter auf der Suche nach dem Ideal“, das für alle Texte Bloks bestimmend
ist. Die beiden Prätexte sind das provenzalische Romanepos Flamenca aus dem 13. Jahrhundert und Aleksandr Puskins romantisches
Gedicht Der arme Ritter (1929). Die
Abschrift des Prätextes im Posttext ist stellenweise so genau, dass das symbolistische
Drama teils wie eine bloße Reproduktion des provenzalischen Vorläufers wirkt. Die Rose und das Kreuz ist auf Literatur
gemachte Literatur. Augenfällig ist, dass Flamanca
ein offensichtlicher, Puskins Gedicht jedoch ein verborgener Prätext ist, so
dass die Transformation fast unmerklich geschieht. Der fremde Text aus einer
fremden Kultur und einer fremden Zeit wird in Verbindung mit einem Text, der
fester Bestandteil des symbolistischen Lektürekanons ist, zu einem
quasi-eigenen Text transformiert. (Lachmann, Schahadat, 681f.) 15. Tropik: die Abwendung des Vorläufertextes. Dieser
Typus der intertextuellen Relation schließt an den Tropus-Begriff Harold Blooms
an und bedeutet den Versuch der Überbietung, der Abwehr und Löschung des
Vorläufertextes, ein Wegwenden des Vorläufers. Bloom begreift
Literaturgeschichte als einen ständigen Kampf des späteren Dichters gegen den
früheren. Gegen die Tradition des „Vaters“ und „Gottes“, dem der jüngere
Dichter ausgesetzt ist, stellt Bloom den Begriff des Einflusses. Einfluss
bedeutet die Möglichkeit, sich gegen die Tradition zu wehren; denn Einfluss ist
für Bloom eine Trope, die einerseits den Begriff der Tradition ersetzt,
andererseits auch sein scheinbares Gegenteil meint, Abwehr. In einander
abwechselnden Phasen der Imitation und der Ablehnung des Vorläufers finden ein mis-reading der Vorläufertexte und deren
re-writing als revisionärer Akt
statt. Eine tropische intertextuelle Beziehung herrscht zwischen
den Romanen Fedor Dostoevskijs und der Poetik seines Vorläufers Nikolaj Gogol.
Ein weiteres Beispiel ist Popovs Roman Vorabend
ohne Ende (russ. 1993). Schon der Titel verweist auf Ivan Turgenevs Roman Vorabend (russ. 1859). Popovs Roman ist
eine fast wörtliche Wiederholung der Figuren, Dialoge und des Sujets des
Romans, der ihm als Vorlage dient. Popovs Figuren wirken wie Reinkarnationen von Turgenevs
„überflüssigen Menschen“. Wenngleich Popovs Text auf den ersten Blick das
postmoderne Diktum von der unendlichen Wiederholung des immer schon Gewesenen
vorzuführen scheint, wird auch deutlich, dass das Neue eben doch nicht das Alte
ist. Popov banalisiert und parodiert den Vorläufertext, der von selbstlosem
Opfermut und grenzenloser Liebe handelt. Zugleich wirkt die parodistische
Verkehrung auf Turgenevs Ursprungstext zurück; Imitation und Abwehr gehen ein
komplexes Beziehungsgefüge ein. (Lachmann, Schahadat, 682f.) Blooms Beharren auf dem Autor als Subjekt des Textes
distanziert ihn von den Intertextualitätsmodellen, die räumlich, nicht zeitlich
strukturiert sind; seine Fixierung auf einen begrenzten literarischen Kanon, in
dem starke Dichter mit anderen starken Dichtern konkurrieren, entwirft eine
elitäre Literaturgeschichte. Neuere Arbeiten, die Blooms Einflussmodell aufgreifen,
formulieren es um. Blooms psychoanalytischer Ausgangspunkt wird durch eine
politische Perspektive ergänzt, indem die Kritiker Einfluss mit Hegemonie und
Macht assoziieren, gegen die sie eine offene, multiperspektivische
Intertextualität stellen. Dadurch lässt sich der restriktive Kanon entgrenzen.
(Schahadat, 373) Bloom sieht literarische Produktivität durch „anxiety of
influence“ bestimmt und rekonstruiert die Literaturgeschichte als einen
intertextuellen, aber innerliterarischen Kampf von Autoren gegen ihre
kanonischen Vorbilder. Jeder bedeutende Autor sei unweigerlich auf literarische
Vorbilder bezogen und versuche gleichzeitig, sie zu verdrängen. In ödipaler
Ambivalenz verbleibe er zwar unter dem Einfluss des übermächtigen „Vaters“,
müsse dessen Werke aber notwendig mißverstehen („misreading“), um eine
selbständige künstlerische Artikulationsmöglichkeit zu finden. (Martinez,
443f.) 16. Die drei Modelle: Partizipation, Transformation und
Tropik zeugen von einem unterschiedlichen Umgang mit dem vergangenen Text und
mit der vergangenen Kultur: von Bewahren, Usurpieren, Abwehren. Doch sind diese
verschiedenen Gedächtnisakte nicht klar voneinander abzugrenzen, denn alle
Texte partizipieren und transformieren. Vielmehr ist es die Dominanz des einen
oder anderen Modells, die sich behaupten lässt. (Lachmann, Schahadat, 684) 17. Als ein Grenzphänomen, das sich aus verschiedenen
Quellen speist, wird Intertextualität von Denkrichtungen unterschiedlichster
Provenienz aufgegriffen, mit einer oft verwirrenden Terminologie belegt und auf
verschiedene Weise funktionalisiert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der,
dass Intertextualität einen Text-Text-Bezug bezeichnet. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Literatur wird dabei nicht als eine kontinuierliche Linie
aufeinanderfolgender Werke gedacht,
sondern als ein Textuniversum, ein Netzwerk, in dem die Texte miteinander in
Kontakt treten und sich aufeinander beziehen, so dass (jeder) Text als ein
„Gewebe“ (Barthes), als ein „Mosaik von Zitaten“ (Kristeva) erscheint. Die einen verstehen Intertextualität als politisch
subversives Potential (Gruppe Tel Quel), die anderen fassen sie als
hermeneutische Technik unter neuem Namen (Intertextualität statt
Einflussforschung) oder auch als eine dekonstruktive Lektüre-Strategie auf;
zudem begünstigt die Offenheit des Konzepts Versuche, eine
Intertextualität(stheorie) avant la
lettre zu entdecken, z.B. bei antiken Autoren Die in verschiedene
Richtungen strebenden Diskussionen lassen sich systematisieren, indem
unterschieden wird zwischen einer theoretischen, einer deskriptiven und einer
literatur- bzw. kulturkritischen Dimension der Debatte. (Schahadat, 366) 18. Die Theoriebildung
ist von den ästhetischen und philosophischen Prämissen der amerikanischen
Dekonstruktion beeinflusst, so dass sie die These von der Unlesbarkeit der
Texte in den Mittelpunkt rückt. In der Textinterpretation
konkurriert ein eher traditioneller Ansatz (rein textdeskriptiv) mit einem
progressiveren, der versucht, die Ergebnisse der theoretischen Diskussionen für
die Textanalyse zu nutzen. Sei es nun eine Lektüre, die Eindeutigkeit im Sinn hat,
oder eine, die Polyvalenz betont – in beiden Fällen richtet sich der Fokus der
Leserschaft auf die semantische Ebene der Texte, die durch das
Aufeinandertreffen verschiedener Sinnpositionen affiziert wird. Die
Intertextualitätstheorie ist genetisch zu verstehen in Abgrenzung von einem
autonomen und auktorial verankerten Textbegriff einerseits und von einem
linearen, vektorialen Einflussmodell andererseits. Während sowohl der
Strukturalismus als auch der New Criticism Sinnkonstitution textimmanent
(intratextuell) zu etablieren versuchen, richtet eine Theorie der
Intertextualität den Blick auf die Text-Text-Bezüge. (Schahadat, 367) 19. Kristevas kulturkritischer Ansatz impliziert die
Vorstellung vom Text als einer „politisch transformativen Praxis“ (Mai, 41, in:
Plett 1991). Diese politischen Implikationen wurden in der weiterführenden
Diskussion zunächst ausgespart. In letzter Zeit hat sie jedoch neue Impulse
gewonnen. Verschiedene Beiträge des Sammelbandes von Clayton / Rothstein (1991)
sehen Intertextualität als Möglichkeit, sich gegen ein traditionelles
Einfluss-Konzept zu wehren, denn mit Einfluss wird Macht (von männlichen
Dichtern auf Dichterinnen, von weißen Autoren auf die Literatur von
Minderheiten) ausgeübt, während Intertextualität eine dynamische Interaktion
erlaubt. Still/Worton konstatieren eine – auf traditionelle Konzepte
feministischen Denkens zurückgehende – hierarchische Opposition zwischen
phallischem Monologismus und femininer Empfänglichkeit. Dadurch kann das
Prinzip des Monologischen als Kennzeichen maskulinen Hegemonialstrebens
begriffen werden, Dialogizität oder Intertextualität hingegen lassen sich als
Figuren der „Weiblichkeit“ deuten. (Still/Worton 1990, 30) (Schahadat, 369f.)
20. Aus dem Anspruch, den Text-Text-Kontakt zu
beschreiben, ergab sich eine Vielzahl von Begriffen, die jeweils
unterschiedliche Aspekte in dieser Relation betonen. Ein uneinheitlich
verwendeter Begriff ist der des Intertextes,
mit dem Riffaterre den früheren Text, den Prätext meint, während Smirnow und
Greber darunter den intertextuell organisierten Text verstehen, d.h. der
Intertext ist der Posttext – in diesem Sinne wird er auch hier verwendet. Genette unterscheidet, ausgehend von einer
„Transtextualität“ (all das, was den Text „in eine geheime oder manifeste
Beziehung zu anderen Texten bringt“) fünf Typen des Text-Text-Bezugs: Intertextualität (hier: die „effektive
Präsenz eines Textes in einem anderen“ in Form von Zitat, Plagiat oder
Anspielung), Paratextualität (die
pragmatische Einrahmung des Textes durch beigeordnete Texte wie Titel, Motto,
Vor- oder Nachwort etc.), Metatextualität
(ein impliziter Kommentar eines Textes über einen anderen), Architextualität (ein unausgesprochener
Text-Text-Bezug [Martinez: taxonomische Zugehörigkeit zu bestimmten Gattungen,
Textsorten oder Schreibweisen]) und Hypertextualität
(der spätere Text wird als „Text zweiten Grades“ gelesen, „der von einem
anderen, früheren Text abgeleitet ist“. [Vgl. auch Martinez, 442f.] Mit ihrer Terminologie von Geno- und Phänotext für den früheren und den späteren Text betont
Kristeva den textgenerativen Aspekt der Intertextualität und impliziert, dass
zwischen den Texten immer ein Akt der Interpretation und auch der
Transformation stattfindet. Andere Begriffe, die in die Diskussion eingegangen
sind, sind Prätext und Posttext (womit die zeitliche Achse der
Relation betont wird) und manifester Text
und Referenztext. (Schahadat, 370) Zu Genette: Bei intertextuellen Bezügen ist zwischen Einzeltextreferenz und Systemreferenz Genette:
Architextualität) zu unterscheiden, d.h. zwischen Verweisen auf individuelle
Prätexte oder aber auf literarische Muster wie Gattungen oder Schreibweisen.
Die intertextuellen Bezüge können außer der semantischen auch andere Ebenen des
Textes betreffen, nämlich linguistische Aspekte wie Graphie, Interpunktion,
Phonologie, Morphologie, Lexik oder Syntax, aber auch Aspekte der metrischen,
rhetorischen oder erzählerischen Gestaltung. (Martinez 443) 21. In den genannten Ansätzen rückt der Text in den
Mittelpunkt der Lektüre, und zugleich wird der Aspekt der Intentionalität
sekundär. Bachtins Dialogizitätsmodell geht von einer Produktionsästhetik aus,
im Entwurf Kristevas wird Intertextualität als Aktivität des Textes aufgefaßt.
Der Text als écriture erzeugt
Intertextualität. Im weiteren hat sich der Schwerpunkt von der Kreativität des
Textes auf die Seite des Rezipienten verlagert. Ein Beispiel dafür ist
Riffaterres Ansatz. Stierle unterscheidet zwischen einer
produktionsästhetischen und einer rezeptionsästhetischen Intertextualität.
Eingebettet in ein Konzept von der „Literatur als Gedächtnis“ wiederum tritt
die Frage nach Produktion oder Rezeption in den Hintergrund – beide werden in
einem Gedächtnisraum angesiedelt, in dem der Text selbst zum Mittelpunkt wird
und an dem Autorin und Leserin gleichermaßen teilhaben. (Schahadat, 370f.) 22. Feststellen lassen sich somit unterschiedliche Grade
der Erweiterung des Textbegriffs und der Akzeptanz oder auch der Betonung von
Sinnerzeugung in den verschiedenen Konzeptionen: Kristeva und Barthes
postulieren die totale Entgrenzung, die Interaktion zwischen Text- und
Lebensraum, die endlose semantische Produktivität des Textes, die Egalisierung
zwischen Schreiber und Leser, zwischen Autor und Kritiker. Auf der anderen
Seite wird hingegen eine „Reakademisierung des Konzepts“ versucht, indem ein
Instrumentarium und eine Metasprache entwickelt werden, deren Aufgabe darin
liegt, das Auseinanderstreben der semantischen Bewegungen zu kontrollieren. In
expliziter Ablehnung von Kristevas Transgression spricht z.B. Laurent Jenny von
einer „Arbeit der Transformation und der Assimilation mehrerer Texte, die von
einem zentralen Text geleitet werden, der die Leitung des Sinns kontrolliert“.
(Jenny 1976, 262)(Schahadat, 371) 23. Die intertextuelle Fragestellung unterscheidet sich
von der Einflussforschung dadurch, dass sie die Interaktion zwischen den Texten
betont, nicht den Einfluss. „Einfluss geht nur in eine Richtung, während
Intertextualität eine flexible Beziehung zwischen den Texten etabliert“. (In.
Clayton/Rothstein 1991, 50) Dabei wird dem Posttext eine Mehrdeutigkeit
zugestanden, die sich aus der Konfrontation des einen Textes mit einer Vielzahl
von Referenztexten ergibt. Seit Aufkommen der Intertextualitäts-Debatte sind
verschiedene Modelle entwickelt worden, um die unkontrollierbar scheinenden
semantischen Bewegungen im nunmehr entgrenzten Textraum mithilfe eines
Beschreibungsinventars zu ordnen und Intertextualität als eine Technik der
Textinterpretation zu funktionalisieren. Übergreifend lassen sich zwei
grundlegende Operationen unterscheiden, die zur Beschreibung des
Text-Text-Bezugs eingesetzt werden: Ein Ansatz sucht die Art des Bezugs
zwischen den Texten zu erfassen, während ein anderes Theorieinteresse den Blick
auf die Markierungen richtet, die auf eine Doppel- oder Mehrfachkodierung
verweisen. (Schahadat, 373f.) 24. Die Relation eines Textes zu anderen (früheren) Texten
impliziert immer schon ein transformatives Element; es gilt zu untersuchen, wie
genau diese Transformation aussieht. Genette etwa unterscheidet zwischen Transformation und Nachahmung. Genügt es in dem einen Fall, einen Text an einer
einzigen Stelle zu verändern, so ist die Nachahmung ein komplizierterer
transformativer Prozess. Als Beispiele nennt Genette den Bezug von James Joyces
Ulysses und von Vergils Aeneis zu Homers Odyssee: Joyce versetzt die Geschichte des Odysseus ins Dublin des 20. Jahrhunderts,
transformiert sie, während Vergil eine andere Geschichte, die Geschichte des
Aeneas, in der Manier Homers erzählt, sie imitiert. Genette betont den
konstruktiven Charakter literarischen Wirkens, versteht Literatur als Basteln.
Damit vertritt er eine für die Intertextualität typische Absage an romantische
Genie-Ideen. (Schahadat, 374) 25. Lachmann unterscheidet zwischen einer Kontiguitäts-
und einer Similaritäts-Intertextualität: Manifester Text und Referenztext
können einander punktuell berühren, oder aber der frühere Text ist dem späteren
aufgrund ähnlicher Strukturen als Paradigma eingeschrieben. Im ersteren Fall
wird durch ein Zitat der Prätext als Ganzes aufgerufen, während der letztere
Fall vorliegt, wenn beide Texte einander an mehreren Stellen überlappen.
Ausgehend von diesen beiden intertextuellen Strategien kann darauf geschlossen
werden, welche Einstellung ein Text zu seinem kulturellen Erbe hat. Zeugt die
Beziehung der Kontiguität von einer Berührung mit und Partizipation an der
Tradition, so ist die Relation der Similarität eine Wiederholung des
Äquivalenten mit gleichzeitiger Transformation, d.h. das gegebene Modell wird
überschrieben. Ist ersteres ein Akt der Teilhabe, des Weiterschreibens der
Tradition, so ist letzteres ein Akt des Gegen- und Neuschreibens.
Transformation und Partizipation sind die beiden Pole, die die Einstellung zur
Tradition bestimmen. Parodie, Kontradiktio, Kontrafaktur auf der einen Seite
oder aber Imitatio (im Sinne von Machen durch Neumachen) auf der anderen sind
Strategien, die unterschiedliche Schwerpunkte im Umgang mit dem fremden Text setzen.
Als drittes Modell führt Lachmann das der Tropik ein [s.o.]. (Schahadat, 374f.) 26. Die beiden allgemeinsten Begriffe für eine
intertextuelle Markierung sind Allusion
und Zitat. Beides sind Verfahren zur
Etablierung eines Text-Text-Bezugs, und ihre Funktion liegt in erster Linie
darin, die intertextuelle Lektüre des Rezipienten in Gang zu setzen. Herausgearbeitet wurden auch Sonderformen des Zitats: das Autozitat, mit dem eine Dichterin eigene
Werke aufruft, sowie das Zitatzitat,
das Zitieren eines Zitats, das selbst schon Zitat ist, denn zitiert werden kann
nicht nur ein anderer Text, sondern auch ein anderes Medium, z.B. ein Film,
zitiert werden können außerliterarische Figuren und historische Ereignisse. (Schahadat, 376) 27. Ein zentraler Diskussionspunkt ist nach wie vor, ob
Intertextualität ein Kennzeichen aller oder ein spezifisches Merkmal bestimmter
Texte ist. Zu einem Kompromiss lassen sich die beiden Positionen führen, wenn
man davon ausgeht, dass es Texte gibt, die (aufgrund ihrer Poetik und ihres
kulturellen Umfelds) stärker intertextuell organisiert sind als andere.
Demzufolge werden intertextuelle Analysen vornehmlich entweder bei Texten
angewendet, die sich einer intratextuellen Deutung verweigern, was insbesondere
auf Autoren der Moderne und Postmoderne zutrifft, oder bei Texten literarischer
Gruppierungen, deren Poetik durch die Auseinandersetzung und den Dialog mit dem
fremden Text bestimmt wird. Das gilt zum Beispiel für die russischen Akmeisten,
die zu einem zentralen Paradigma der Intertextualitätsforschung geworden sind. Für die Analyse wurden zunächst Texte mit einer deutlichen
Affinität zur Intertextualität bevorzugt, doch kann sie sich prinzipiell auf
alle Texte erstrecken, denn der hermetisch abgeschlossene Textraum ist eine Illusion.
Eine intratextuelle Lektüre ist zwar möglich, blebt aber eindimensional,
während andererseits eine intertextuelle Lektüre Gefahr läuft, Sinn zu
zerspalten und aufzulösen, vor allem in Texten mit einer anarchischen
intertextuellen Struktur. Intertextualität ist eine Art von Welterfahrung, die auf
Entgrenzung aus ist. Affiziert von den unterschiedlichsten Disziplinen wird
Intertextualität zu einer synkretistischen Theorie, die sich den Synkretismus
zugleich als Programm aneignet. Denn vertreten wird ein Modell von Literatur,
das die Grenzen nicht nur zwischen Text und Text, sondern auch zwischen
Literatur und Ideologie oder zwischen Literatur und Psychoanalyse aufzuheben
versucht. (Schahadat, 376f.) 28. Die verschiedenen Intertextualitäts-Ansätze richten
ihre Aufmerksamkeit zwar alle auf das Verhältnis eines Textes zu anderen Texten
und begreifen Intertextualität als Faktor der Textbedeutung. Aber sowohl der
Begriffsinhalt wie der Begriffsumfang von ‘Intertextualität’ werden sehr
unterschiedlich bestimmt. Bei Kristeva ist die Intertextualität ein allgemeines
Merkmal von Texten: „[...] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf,
jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“. (Kristeva
1969, 348) Da sie den Textbegriff sehr weit im Sinne kulturell codierter
Zeichensysteme fasst und literarische
Texte in dem „allgemeinen Text (der Kultur)“ eingebettet sieht (ebd., 113), ist
die Intertextualität (wie auch Bachtins Dialogizität) nicht auf den Bereich
literarischer Texte beschränkt. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Anders als Bachtin spricht Kristeva dem als „Mechanismus“
und „Produktivität“ verstandenen Text jedoch eine bedeutungsproduzierende
Selbständigkeit zu, die sich von der Instanz einer künstlerischen
Gestaltungsabsicht des Autors, dem Konzept eines geschlossenen Werkes und der
Idee einer dialogischen Kommunikation zwischen Subjekten ablöst. Der Autor wird
zum Schnittpunkt von Diskursen, das intendierte Werk zum ambivalenten Text, an
die Stelle der Intersubjektivität tritt die Intertextualität. In diesem Verständnis wird Intertextualität zu einem
Leitbegriff von Poststrukturalismus. Dabei erscheint die intertextuelle
Verfassung der kulturell codierten Wirklichkeit als repressive Repetition, aber
auch als subversive Differenz: Einerseits gleicht sie als allumfassendes
Reservoir ideologischer Diskurse einem Gedankengefängnis, andererseits
unterläuft sie wegen der Unkontrollierbarkeit diskursiven Sinns jede
ideologische Fixierung. (Martinez, 441f.) 29. Hermeneutisch oder strukturalistisch orientierte
Ansätze versuchen demgegenüber, Intertextualität als begrenztes Verfahren
innerliterarischer Sinnbildung zu fassen und halten an einem traditionelleren
Verständnis von Begriffen wie ‘Autor’, ‘Werk’ und ‘Leser’ fest. Im Unterschied
zur gewöhnlichen Quellen- und Einflussforschung geht es diesen
Intertextualitätstheorien jedoch weniger um die Einwirkung fremder Texte auf
die Textgenese als vielmehr um Verweise des Folgetextes auf Prätexte, die vom
Autor beabsichtigt, im Text markiert und vom Leser im Interesse eines
angemessenen Textverständnisses erkannt sein müssen. (Martinez, 442) 30. Die verschiedenen Arten und Grade intertextueller
Bezüge sind wohl nur durch ein Bündel von einander überschneidenden Kriterien
erfassbar, die teils graduelle Unterschiede, teils dichotomische
Entweder-Oder-Alternativen anzeigen. Ein Text kann bei der Übernahme einzelner
Elemente die Fremdheit des ursprünglichen Kontexts und damit seine
Referentialität mehr oder weniger deutlich als solche markieren; er kann seine
eigene Intertextualität autoreflexiv thematisieren; er kann punktuell Anleihen
machen oder sich zu großen Teilen oder auch insgesamt eines Prätextes als
struktureller Folie bedienen; er kann in direkter oder indirekter Weise auf den
Prätext anspielen; schließlich kann er in größerer oder kleinerer semantischer
und ideologischer Spannung zum Prätext stehen. (Martinez, 443) 31. Im weitesten Sinne umfaßt Intertextualität alle Bezüge
eines literarischen Textes auf andere literarische oder auch außerliterarische
Texte. Meist allerdings wird Intertextualität enger gefaßt und steht dann im
Gegensatz zum Begriff der imitatio.
Der Verfasser einer Imitatio erkennt die Überlegenheit des nachgeahmten
Prätextes an oder versucht, ihn wetteifernd zu übertreffen (aemulatio). Jedenfalls wird eine
Vergleichbarkeit von Prä- und Folgetext im Hinblick auf absolut gesetzte
poetologische Normen angenommen; der überlieferte Kanon besitzt vorbildhafte
Verbindlichkeit, und der Zielpunkt der Beurteilung des Folgetextes liegt in der
Person des Autors, dessen Bildung und Können sich in seinem Text ausdrücken.
Intertextualität hingegen betont eher den selbständigen Umgang des Folgetextes
mit der Tradition, gesteht kanonischen Werken keine privilegierte Rolle
gegenüber anderen Prätexten zu und bezieht sich eher auf den Text als auf die
Person des Autors. Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass literarische
Texte seit jeher intertextuelle Verfahren in Form von Parodien, Travestien,
Pastiches, Adaptionen, Florilegien oder auch von Zitaten und Anspielungen
verwendet haben. Dominierend allerdings werden bestimmte Arten der
Intertextualität, in denen der Text einen offenen, vom Leser allererst
auszufüllenden Assoziationsspielraum möglicher intertextueller Bezüge anbietet,
erst in Texten der literarischen Moderne und Postmoderne. (Martinez, 444) 32. I. bezeichnet die Eigenschaft von insbes. literar.
Texten, auf andere Texte bezogen zu sein. I.stheorien beschreiben, erklären
oder systematisieren die Bezüge zwischen Texten. – Dass ein literar. Text nicht
in einem Vakuum existiert, ist seit langem bekannt, zumal Begriffe wie
Imitation, Parodie oder Epikrise schon der klassischen Rhetorik vertraut waren.
Darüber hinaus ist allein die Idee von literar. oder anderen Gattungen ohne die
Annahme intertextueller Bezüge undenkbar, da die bloße Klassifizierung eines
Texts als Typus schon eine Aussage über Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu
anderen Texten impliziert. (Aczel, 241) 33. Grundsätzlich sind zwei Kategorien von I.stheorien zu
unterscheiden. In der einen wird I. als deskriptiver Oberbegriff für
herkömmliche Bezugsformen von Texten verstanden, in der anderen in einem
umfassenderen ontologischen Sinn zur qualitativen Bezugnahme auf sämtliche
Arten von bedeutungstragenden Äußerungen verwendet. Während deskriptive
I.stheorien versuchen, die intentionale und spezifische Anspielung eines Autors
auf das Werk eines anderen zu bezeichnen, wurde der ontologische Begriff der I.
urspr. innerhalb eines radikaleren theoretischen Projekts geprägt, das gerade
die Vorstellung auktorialer Intentionalität sowie die Einheit und Autonomie des
‘Werks’ selbst unterminieren wollte. (Aczel, 241) 34. Diese radikaleren Theorien haben ihre Herkunft in M.
Bachtins Theorie der Dialogizität, obgleich die Unterschiede zwischen dieser
und der I.stheorie genauso bedeutsam sind wie ihre Gemeinsamkeiten. Nach
Bachtin ist jede Äußerung untrennbar mit Dialog und Zitat verbunden. Weil
Sprache ein soziales Medium ist, sind die Wörter, die wir benutzen, bereits
angereichert mit den Intentionen und Akzenten anderer Sprecher. Äußerungen
beziehen ihre Bedeutung nur aus der „dialogisch erregte[n] und gespannte[n]
Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente“, mit welchen sie in
„komplexen Wechselbeziehungen“ stehen. (Bachtin 1979, 169) Sprache ist
gekennzeichnet von Heteroglossie, der komplexen Konfiguration konkurrierender
sozialer, generischer und berufsspezifischer Sprachen, die die Stratifikation
jeder Einzelsprache zu einem beliebigen Zeitpunkt ausmachen. (Aczel, 241) 35. J. Kristeva berief sich explizit auf Bachtin, als sie
den Begriff I. prägte, um damit die dialogische Relation der Texte
untereinander zu beschreiben. Laut Kristeva baut sich jeder Text „als Mosaik
von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen
Textes“. (Kristeva 1972, 348) Kristeva und anderen Poststrukturalisten zufolge
ist I. eine Eigenschaft aller Texte und beschreibt nicht nur die intentionalen
Bezüge von bewusster Anspielung auf andere Texte. Die Kristevasche I.stheorie geht
sogar so weit, die auktoriale Intentionalität völlig zu marginalisieren, indem
der Dialog von intendierenden Sprechern durch den Dialog von Texten ersetzt
wird: „An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der
Intertextualität.“ (Ebd.) An diesem Punkt vollzieht Kristeva jedoch einen Bruch mit
Bachtins Dialogizität. Insbes. in seinen späteren Schriften betont Bachtin,
dass jeder Text ein Subjekt oder einen Autor habe, und dass Sprache immer die
Form einer Äußerung annehme, die zu einem bestimmten sprechenden Subjekt gehört
und außerhalb dieser Form nicht existieren kann. (Bachtin 1986, 71, 104) (Aczel, 241f.) 36. In der Kristevaschen I.stheorie dient der Begriff I.
sowohl als polemische Waffe als auch als deskriptives Instrument innerhalb des
umfassenderen poststrukturalistischen Projekts der Subjektdezentrierung.
Kristeva zufolge ist gerade das Vorhandensein von I. für eine Verwischung der
Grenze zwischen lesendem und schreibendem Subjekt verantwortlich; beide werden
textualisiert: „Derjenige, der schreibt, ist auch derjenige, der liest“ und ist
„selbst nur ein Text, der sich aufs neue liest, indem er sich wieder schreibt.“
(Aczel, 242) 37. Auch R. Barthes stellt in seiner I.stheorie
Vorstellungen von Subjektautonomie und auktorialer Intentionalität in Frage,
wenn er in Der Tod des Autors (1968)
den Leser als Raum beschreibt, in welchen das den Text konstituierende Gewebe
von Zitaten“ eingeschrieben sei. Dieser Leser sei jedoch kein unschuldiges
Subjekt, das dem Text vorausginge, sondern selbst schon eine Pluralität anderer
Texte, ‘unendlicher Codes’. (Aczel, 242) 38. Die universalisierende Tendenz ist ein entscheidendes
Moment poststrukturalistischer I.stheorien. J. Derrida, für den Sprache immer
‘Zitat’ oder ‘Iteration’ ist, spricht von einem grenzen- und nahtlosen ‘texte
général’. Bachtin zufolge sind intertextuelle Bezüge demgegenüber weder
universell noch unendlich, sondern historisch determiniert. Heteroglossie ist
nicht das Produkt subjektloser Texte, sondern ein soziales und historisches
Phänomen. (Aczel, 242) 39. H. Bloom versucht in seiner I.stheorie eine
absolutistische Variante der poststrukturalistischen I. (‘there are no texts,
but only relationships between texts’) mit deskriptiver literar.
Einflussforschung zu vereinbaren. (>Textauffassung)
Bloom zufolge ist der Text, in bes. Maß das Gedicht, ein Schlachtfeld, auf dem
der Dichter einen ödipalen Konflikt mit den Prätexten der Tradition und den
Einfluss ausübenden ‘Vätern’, die diese Prätexte projizieren, ausagiert. Blooms
Konzept einer ‘anxiety of influence’
grenzt nicht nur die möglichen Beziehungen zwischen Text und Prätext ein,
sondern repersonalisiert diese wieder, so dass Subjektivität und
Intersubjektivität wieder von Bedeutung sind. (Aczel, 242) 40. In dem bisher umfassendsten
intertextualitätstheoretischen Projekt versucht G. Genette eine systematische
Typologie intertextueller Relationen aufzustellen. [s.o.](Aczel,
242)
41. Der Begriff I. ist derzeit als Bezeichnung für eine
Vielzahl möglicher Bezugsformen von Texten in Gebrauch, seien sie intentional
oder unbewusst, zufällig oder von theoretischer Notwendigkeit. (>Kritik) Darüber hinaus widersprechen sich die beiden extremen
Versionen. Wenn alle Texte nur Aktualisierungen eines anonymen und
uneinholbaren Intertextes oder ‘texte général’ sind, wie kann man dann noch von
einzeln auffindbaren oder abgrenzbaren Prätexten sprechen? Und wie können der
Strukturalismus und der anti-teleologische und ahistoristische
Poststrukturalismus die diachrone Vorgängigkeit aufrechterhalten, die der
ontologische Begriff des Prätextes impliziert? So bleiben die zwei Richtungen
innerhalb der I.stheorie nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch
unvereinbar. Während die I.stheorie in ihrer textanalytischen Anwendung die
Bezüge zwischen einzelnen Texten ermittelt und analysiert, stellt sie in ihrer
sprachontologischen Anwendung gerade die Grundlage einer solchen Auswahl in
Frage. (Aczel, 242f.) 42. Die Intertextualität ist mit Abstand das
erfolgreichste Konzept der poststrukturalen Literaturtheorie. Der hohe
Bekanntheitsgrad bedeutet aber nicht, dass Intertextualität ein einfacher
Begriff wäre. Es liegen zwei Hauptrichtungen vor, die sich dadurch
unterscheiden, das strukturalistische
Theorem der Transformation (=
prozesshafte Umgestaltung der Textzeichen) jeweils anders ausgelegt wird. Der
Streitpunkt ist, inwieweit, wenn überhaupt, die Transformation vom Prinzip der
Äquivalenz gelenkt wird. Die erste Richtung radikalisiert die Transformation, indem
sie sie mit der Figur des offenen Textes verknüpft. Texte sind umgestaltbar,
weil sie unabschließbar sind. Dieser im engeren Sinn poststrukturalistische
Ansatz geht auf Julia Kristeva zurück, die den Intertextualitäts-Begriff auch
in die Diskussion eingeführt hat. Die zweite Richtung vollzieht die Öffnung des
Textes nur in gemäßigter Weise nach und macht das Erfordernis praktischer
Beschreibungskategorien geltend. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Während im poststrukturalen Ansatz die Transformation der
textlichen Zeichen als ambig und unendlich offen angesehen wird, vollzieht sie
sich in der zweiten Richtung nach kodifizierbaren Prozessen oder anhand von
Hinweisen im Text selbst. Im literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch haben sich
die Differenzen allerdings abgeschliffen. ‘Intertextualität’ verweist global
auf die literarische Zitierpraxis. (Bossinade, 94f.) 43. Zu Kristevas Aufsatz Der geschlossene Text (dt. 1977). Der theoretische Kernbegriff der
Autorin lautet ’poetische Sprache’. Das Poetische ist hier eine modellierende
(=formende, bildende) Funktion, die der semiosymbolischen Gespaltenheit des
sprachlichen Zeichens entspringt. Sie führt dazu, die Vereinheitlichungstendenz der Sprache geschwächt wird. Seit
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzt sich die Sprache mit erhöhter, von
gattungspoetischen Normen befreiter Dynamik gegen die Sinn- und Sachzwänge der
Gesellschaft zur Wehr. Die „Normalsprache“ ist der poetischen Sprache als ein
entmachtetes, der Wahrheitslogik entzogenes System inkludiert. Die wahre Macht
fällt im poetischen Text dem untrennbaren Doppel von Schreiben-Lesen zu, auf
dem auch die Dynamik der intertextuellen Beziehung fußt. Weil der poetische
Text die Wahrheitslogik der Sprache prinzipiell überwunden hat, kann er sich
auf den Raum der Geschichte hin öffnen. (Bossinade, 95ff.) 44. Bachtin, das
Wort, der Dialog und der Roman (dt. 1972) ist Kristevas bekanntester
Aufsatz zur Intertextualität. Als Ausgangspunkt wählt sie die Arbeiten des
russischen Literaturtheoretikers Michail Bachtin (1885-1975). Aus dessen
Begriffsvorgaben ‘Dialog’ und ‘Ambivalenz’ wird die Intertext-Perspektive
extrapoliert. Bachtin hatte den Begriff des Dialogs auf der Ebene des Worts
angesetzt: Ein Wort werde vom Romanschriftsteller in einen Diskurs, einen
Zusammenhang von Redensarten gebracht, der die Spuren anderer
Wortverwendungsweisen in sich virulent halte. Den Begriff der Ambivalenz hatte
Bachtin dem volkstümlichen Brauch des Karneval entnommen, dessen zweideutige
Verkehrungen er in die Sprache des von ihm so bezeichneten ‘polyphonen Romans’
übernommen sah. Kristeva verallgemeinert Bachtins Vorgaben. Sie fasst
‘Dialog’ und ‘Ambivalenz’ als Ausdruck einer „logique du transfini“ auf. Wenn der fremde Text samit seiner historisch-semantischen
Ladung in einen neuen Kontext ‘eingelesen’ wird, wird er zum Teil eines
Dialogs. Dieser ist ein unauflösbar ambivalentes Nebeneinander von alter und
neuer Bedeutung. Jeder Text erscheint nun als „Mosaik von Zitaten“. (Bossinade, 97f.) 45. In ihrem Revolutions-Buch
von 1974 schlägt Kristeva vor, fortan von „Transposition“ zu reden, da der
Begriff „Intertextualität“ dem Missverständnis philologischer Quellenkunde
ausgesetzt sei. Der Begriffswechsel ist auch daraus erklärbar, sich Kristeva zunehmend für die Sache der
Psychoanalyse engagiert. Die Transposition trägt der triebsemiotischen Dynamik
der Sprache Rechnung, die in den frühen Intertextualitäts-Studien noch keine
Leitfunktion hat. Der Unterschied lässt sich an der Frage der thetischen
Setzung ermessen. In der Logik des Paragramms existieren beidseits des
thetischen Einschnitts zwei nebengeordnete Positionen, ein basisdemokratisches
Modell, wenn man so will. Die Dynamik des Semiotischen hingegen ist auf den
Umsturz jeweils einer, sich an anderer Stelle erneuernden Setzung gerichtet.
Das Semiotische begnügt sich damit, unermüdlich eine Autoritätsposition abzubauen, eben die, die sich gerade
errichtet hat. Das Paragramm hält den Konflikt zweier im selben Textraum
vorhandener, aber orts- und zeitverschobener und aufeinander nicht abbildbarer
Positionen offen. Das Semiotische wiederum vermag den Anspruch an die Literatur
auf eine Erneuerung des Symbolischen konkreter, nämlich aus dem
körperdynamischen Substrat der Sprache zu begründen. Subjekt und
Intersubjektivität sind nun wieder relevante Begriffe. (Bossinade, 99f.) 46. (>Textauffassung)
Literatur wird als ein Textraum konzipiert, in dem jedes Bedeutungselement die
Replik auf unendlich viele andere ist. Ein einfaches Textverstehen ist nach dem
Urteil der Autorin aufgrund der literarischen „Echos“ für immer ausgeschlossen.
Nicht, dass der Textsinn als solcher vieldeutig wäre. Es ist vielmehr so, dass
für die sinnverändernde Transformation der literarischen Zeichen keine letzte
Grenze anzugeben ist. (Bossinade, 100) 47. In der Intertextualitäts-Diskussion kehrt ein
bestimmter Konflikt regelmäßig wieder. Es ist der Konflikt zwischen der Annahme
eines universellen Textraums einerseits und den pragmatischen Anforderungen der
Analyse andererseits. Ein „Konzept“, so die kritische Bilanz, „das so universal
ist, dass zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr
denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischem Potential für die
Analyse und Interpretation.“ (Pfister 1985, 15) Aus hermeneutischer,
rezeptionsästhetischer und kommunikativ-semiotischer Sicht ist das
Intertextualitäts-Konzept entsprechend eingegrenzt worden. (Bossinade, 100) 48. Derrida spricht von ‘Intertextualität’ nur selten.
Etwas anderes als intertextuelle Operationen gibt es in seiner Optik nicht.
Intertextualität ist für Derrida nicht eine Besonderheit, sondern der
permanente Zustand der Kommunikation, zu deren Beschreibung ihm das Wort
‘Textualität’ genügt(Bossinade,
102f.) 49. Derrida hat die Grundlage für einen neuen Textbegriff
gelegt, der bald schon eine zentrale Bedeutung für die Literaturwissenschaft
gewinnt: den der Intertextualität. Zwar war das Phänomen der Intertextualität
als Verweis eines Textes auf einen ihm vorangegangenen Text ein Kennzeichen der
abendländischen Literatur von ihren Anfängen her. Eine neue Wendung gewinnt der
Begriff der Intertextualität in der Dekonstruktion jedoch, wenn die Beziehung
eines Textes zu einem Vorgängertext zu der auf eine dem Text überhaupt
vorgängige Form der Abwesenheit erweitert wird. Indem er den Text als Transformation
eines anderen Textes beschreibt, der als solcher nie präsent ist, begründet
Derrida einen Begriff der Intertextualität, der nicht mehr einfach das
Verhältnis von zwei empirisch vorliegenden Texten zum Gegenstand hat, sondern
die Relation von einem Text zu einem ihm vorgängigen abwesenden Text zum
Paradigma der Literatur erhebt. (Geisenhanslüke, 102f.) 50. Kristeva beruft sich nicht nur auf Derrida, sondern
auch auf Bachtin. Wie Bachtin die dialogische Rede, so begreift Kristeva den
Text insgesamt als ein dynamisches Konzept. Die These, jeder
Text nur ein Baustein aus ihm vorgängigen Elementen sein soll, ist das
Revolutionäre an Kristevas Begriff der Intertextualität. Denn damit nennt die
Intertextualität nicht mehr ein empirisch nachweisbares Phänomen in der
Geschichte der Literatur, sie wird zum Paradigma literarischer Sprache
überhaupt. Der Begriff der I. kann somit für sich beanspruchen, die
poststrukturalistische Antwort auf die von Jakobson erhobene Frage nach der
Poetizität der Sprache zu sein: Die poetische Funktion der Sprache beruht
demzufolge auf dem Verweisungscharakter, der einen Text an ihm vorgängige Texte
zurückbindet. (Geisenhanslüke, 103) 51. Analog zur Idee der nicht abschließbaren
Signifikantenkette bei Lacan definiert Kristeva den Begriff der
Intertextualität als unendlichen Verweisungszusammenhang zwischen den Texten.
Dabei geht es nicht mehr um die zeitlich-historische Dimension des
Verhältnisses von einem bestimmten literarischen Text zu einem bestimmten
literarischen Vorgängertext, sondern um die räumlich-systematische Ebene eines
Bündels von Texten, das wechselseitig aufeinander, aber auf keinen
Ursprungstext mehr verweist. Die Frage nach der Relation zwischen Texten wird
wichtiger als die nach den Texten selber. Prinzip eines nicht mehr
einheitlichen, sondern multiplen Textbegriffs, der frei von der Frage nach
einem Autor-Subjekt eine eigene Selbständigkeit erlangt: Am Ursprung der Texte
steht kein schaffender Autor, sondern ein unendlicher Fluss von Texten, die
sich immer neu kombinieren lassen. (Geisenhanslüke, 104) 52. Bloom. Seine
Auffassung vom literarischen Text hat Bloom in dem Begriff der „Einfluss-Angst“
zusammengefasst: „Einfluss, wie ich das Wort verstehe, bedeutet, dass es keine Texte gibt, nur Beziehungen zwischen Texten“ (Bloom
1997, 9). Damit knüpft er einerseits an die Vorstellung eines rein relationalen
Textbegriffes an. Andererseits aber geht er über den Begriff der
Intertextualität hinaus, indem er mit der Theorie der Einflussangst das
rhetorisch wie psychologisch strukturierte Moment des Nachgeborenseins moderner
Dichtung benennt. Auf Rebellion beruhender Traditionsbegriff. Eine agonale
Theorie der Autorschaft auf der Grundlage einer Rhetorik zwischen den Texten
leitet die Verknüpfung von Rhetorik und Psychoanalyse im Begriff der
Einflussangst, da jeder literarische Text von Rang Bloom zufolge letztlich aus
dem uneingestandenen Versuch resultierte, seinen Vorgängertext zu übertreffen,
umzuschreiben und letztlich ungeschehen zu machen. (Geisenhanslüke, 104f.) 53. Dass der späte
Bloom seine agonale Theorie der Intertextualität im Zeichen Nietzsches und
Freuds zu einer Sanktionierung des literarischen Kanons umfunktioniert hat, die
ganz auf den Schultern des Säulenheiligen Shakespeare ruhen soll, hat zu
Irritationen auf Seiten der Kritiker geführt. (>Kritik) Der
Erfolg des dekonstruktiven Intertextualitätsbegriffes geht mit einem deutlichen
Verlust an Präzision einher. Wenn jeder literarische Text die Wiederholung
eines anderen, ihm vorgängigen Textes ist, wie Kristeva meint, jedes Gedicht
die Trope eines anderen Gedichtes ist, wie Bloom meint, dann ist es gerade
nicht mehr die Singularität und Materialität der historischen Erscheinungsweise
eines literarischen Textes, die in den Blick rückt, sondern die Idee eines
selbstmächtigen Transformationsprozesses, der über alle Texte regiert.
Rechtfertigen lässt sich dieser erweiterte Begriff von Intertextualität nur,
wenn die Prämisse von der unaufhebbaren Abwesenheit eines Urtextes geteilt
wird, wenn der Begriff der Intertextualität mithin nicht empirisch verwendet
wird, sondern als Ausdruck eines dem Text vorgängigen Unbewussten oder als
Zeichen der verschiebenden Arbeit der différance verstanden wird. In jedem Fall
aber führt der Begriff der Intertextualität die poststrukturalistische
Literaturtheorie an ihre Grenzen: In der Definition als Relation zwischen
Texten lässt er nichts zu, was nicht schon Text wäre. (Geisenhanslüke, 105) |