7.04 'Übergreifende' Voraussetzungen
1.Das Etikett
„Feministische Literaturwissenschaft“ ist auf eine soziale und politische
Bewegung bezogen, der sie in den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts
zunächst ihre Entstehung verdankt. Wie kaum eine andere Richtung der Literaturtheorie haben
feministisch orientierte Zugänge zur Literatur bis in die Gegenwart hinein eine
Vielzahl ganz unterschiedlicher Theorien integriert, die sich weder zu einem
geschlossenen Theoriegebäude fügen noch ein einziges methodisches Verfahren
zugrundelegen. Feministische Theorien in den Literaturwissenschaften haben
aufgrund dieser eklektischen Vorgehensweise inzwischen eine eigene immanente
Theorie-Entwicklung aufzuweisen, so dass sich viele historische
Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Literaturtheorien in der
Theorie-Geschichte der feministischen Literaturwissenschaft wiederfinden
lassen. Mittlerweile finden sich diese Ansätze in den „gender
studies“ mit neuen Schwerpunkten wieder, die das Interesse von
frauenspezifischen Themen auf die generellen Konstruktionsmechanismen von
sozialem wie biologischem Geschlecht verlagert haben. (Erhart, Herrmann, 498f.) 2. Aufgrund ihrer Verflechtung mit historisch-sozialen
Bewegungen sowie aufgrund ihrer immanenten Theorie-Entwicklung lassen sich
feministische und geschlechtsspezifische Ansätze in den Literaturwissenschaften
am besten in ihrer Genese und in ihrer Geschichtlichkeit darstellen. Die Literaturwissenschaft in Deutschland hat feministische
Theorie-Impulse eher von Zeit zu Zeit absorbiert als beigesteuert. Die
feministische Literaturwissenschaft befindet sich von Anfang an an einem
Schnittpunkt zwischen französischer und anglo-amerikanischer Theoriebildung. (Erhart, Herrmann, 499) 3. (>Vorläufer,
Vorbilder auf der ‘übergreifenden’ Ebene) Virginia Woolf und Simone de Beauvoir haben beide darauf
aufmerksam gemacht, dass die Frau in der Literatur- und Kulturgeschichte als
Mythos und als Bild zwar ständig präsent ist, in der Geschichtsschreibung
selbst aber kaum einen Platz hat – weder innerhalb einer ‘universalen’
Geschichte, die lediglich die Taten männlicher Akteure aufzeichnet, noch als
Teilnehmerinnen und Produzentinnen eines literarisch-kulturellen Systems, von
dem Frauen aufgrund ihrer Lebensbedingungen zumeist ausgeschlossen geblieben
sind. Nach dem frühen Kampf um politische und rechtliche
Gleichberechtigung an der Wende zum 20. Jahrhundert formierte sich mit der
sogenannten zweiten Frauenbewegung in den späten sechziger Jahren auch eine
feministische Literaturwissenschaft in Europa und in den USA, die an die von
Woolf und Beauvoir vorgegebenen Themen und methodischen Ansätze nur noch
anzuknüpfen brauchte. Schon Beauvoir hatte Frauenbilder in literarischen Werken
untersucht und die in der gesamten ‘schönen Literatur’ zahlreich verbreiteten
Bilder und Imaginationen aufgezeigt, in denen sich der Weiblichkeits-Mythos
spiegelt und immer aufs neue inszeniert wird (Frauenbildforschung). Zum Vorschein kommen dabei die
unterschiedlichsten Formen, in denen ‘die Frau’ jeweils als ‘das Andere’ des
Mannes konstruiert wird: als bloßes Naturwesen, als bedrohte Sinnlichkeit, als
idealisierte Natur oder als negative Folie, vor der sich männliche
Selbstbehauptung und Macht um so deutlicher abheben. (Erhart, Herrmann, 500) 4. Die Frauenbewegung versuchte nun, eine bisher verborgen
gebliebene Realität von Frauen wieder zu entdecken und zugänglich zu machen,
indem sie nach den verschütteten Quellen suchte, in denen Frauen als Subjekte
sichtbar werden und in denen sie sich selbst – statt der auf sie projizierten
Bilder – wiedererkennen können.Ein programmatischer Schwerpunkt der
Frauenforschung bestand in der Archäologie einer weiblichen Kulturtradition (Frauen-Literaturgeschichte). Indem
vergessene literarische Werke von Schriftstellerinnen aus allen Epochen
entdeckt und erschlossen, weibliche Lebensbedingungen und
Erfahrungszusammenhänge in diesen Werken zu Tage gefördert, interpretiert,
historisch eingeordnet sowie die historischen Produktionsbedingungen und
Biographien der Autorinnen untersucht werden, sollte eine Neuorientierung des
Kanons und der Literaturgeschichtsschreibung eingeleitet werden, die die
bisherige Ausrichtung auf männliche Autoren in Frage stellt, einen ‘anderen’
Kanon weiblicher Autoren etabliert und die geschlechtsspezifischen
Ausschlussprozeduren der Literaturwissenschaft offen legt, um sie unterlaufen
zu können. (>Kritik) Die
Suche nach Autorinnen blieb beschränkt, und oft ließen sich wieder nur jene
Autorinnen anführen, die im literarischen Kanon bisher ohnehin berücksichtigt
waren. Die Erforschung zahlreicher bislang unbekannter Autorinnen war hingegen
bald mit Fragen nach der ästhetischen Qualität und der literarischen Wertung
konfrontiert. Die Kritik an den fest immer gleichen Frauenbildern und
die Erweiterung des literarischen Kanons um Autorinnen ergänzten zwar die
Inhalte des Faches, methodisch ließen sich über die politisch-soziale
Orientierung hinaus jedoch kaum neue Wege beschreiten. (Erhart, Herrmann,
500f.) 5. Die Forschungsschwerpunkte begannen sich zu verlagern:
Die Frauenbildkritik konzentrierte sich zunehmend auf die Analyse der
literarischen Mechanismen und Strategien, mit denen diese Bilder erstellt
werden. Das Interesse an der Literatur von Frauen führte zunächst zu einem
Nachdenken über ‘Frauenliteratur’ als einer speziellen Gattung, mündete jedoch
schließlich in Konzepte über ‘weibliches Schreiben’. Beim ersteren Projekt rückten zunehmend die ästhetischen
Verfahrensweisen in den Blick, mit denen Weiblichkeit buchstäblich ins Bild
gesetzt wird. Dies führte zur Frage, von welchem Ort aus diese Bilder denn
überhaupt kritisiert werden sollen, wenn ‘Frau’ und ‘Weiblichkeit’ seit jeher
nur in diesen Bildern existiert haben. Hinter den Bildern lässt sich kaum ein
Geschlecht ‘an sich’ oder ein von Bildern befreites Subjekt erkennen. Vielmehr
besteht weibliche Subjektivität gerade darin, die Bilder zu durchqueren, den
Ort der Zuschreibungen beständig zu wechseln, die Konstruiertheit der
Bildzuweisung zu enthüllen, bewusst zu machen und ständig neu in Gang zu
setzen. Wie keine andere Literaturtheorie haben die von der
feministischen Forschung ausgehenden Interpretationen auf die
Ausschlussverfahren aufmerksam gemacht, mit denen eine Kultur das in ihr
Verborgene und ‘Verdrängte’ in Bildern thematisiert und oftmals unter der
Oberfläche ihrer Texte versteckt. Die feministisch inspirierte Literaturtheorie
hat historische Zusammenhänge immer wieder auf den ästhetischen Eigensinn der
vorliegenden Texte zurückgeführt. (>Ziele/Perspektive)
Auf der Ebene der Textproduktion wurde die bloße Kritik an literarischen
Frauenbildern in eine Analyse überführt, die einerseits die Entstehung und
Mechanismen der Geschlechter-Differenz auf ihre literarisch-ästhetischen
Konstruktionen hin durchsichtig macht, andererseits die Literatur auf ihre
verborgenen Geschlechter-Texte hin untersucht. (Erhart, Herrmann, 501ff.) 6. Die neuere Geschlechter-Theorie unterscheidet zwischen
biologischem Geschlecht („sex“) und der sozial wie kulturell zugeschriebenen
Geschlechtsidentität („gender“). Die Zuordnung des biologisch festgesetzten
Geschlechts besitzt gegenüber dem sozio-kulturell konstruierten Geschlecht für
die Subjektwerdung kaum Gewicht, und jeder Text ist seinerseits immer schon
daran beteiligt, die jeweiligen Zuschreibungsprozesse von Geschlecht und
Geschlechtlichkeit vorzunehmen. Die Ordnungsfunktion der Kategorie ‘Geschlecht’
bleibt jedoch nicht nur auf die Subjektkonstitution beschränkt, sie besteht
zusätzlich darin, dass Geschlechtlichkeit ein Feld von Oppositionen
strukturiert, die auch in zunächst scheinbar geschlechtsunabhängige kulturelle
Symbolbereiche hineinreichen. So entfaltet z.B. Effi
Briest ein ganzes Feld von Metaphern und Bildern, die in Opposition zur
Männlichkeit und zur Gesellschaft stehen, indem sie mit dem Ort von
Weiblichkeit, mit weiblicher Sexualität und mit Natur verbunden werden. Mit der
Gleichsetzung Natur – (Unschuld –) Weiblichkeit wird jedoch nicht nur Effis
‘Weiblichkeit’, sondern gleichzeitig auch ein bestimmtes Naturbild als
‘weiblich’ entworfen. Garten, Teich, Tiere gewinnen dadurch ebenso eine an die
Geschlechter-Differenz angelehnte Bedeutung wie z.B. das Spiel mit der
Schaukel. (Erhart, Herrmann, 504f.) 7. Die Geschlechter-Klassifikation übernimmt eine
konstitutive Funktion für sämtliche Prozesse der kulturgeschichtlichen,
sozialen und politischen Bedeutungszuweisung, und ihre soziokulturelle Macht
besteht gerade darin, dass sich ‘Geschlecht’ von den biologisch jeweils
vorgesehenen Trägern gelöst hat. Es geht dabei weniger um eine stets zu
konstatierende binäre Opposition zwischen ‘männlich’ und ‘weiblich’ als
vielmehr um den historisch jeweils unterschiedlichen Prozess, durch den diese
Oppositionen immer wieder neu hergestellt und gestaltet werden. So wird z.B. im
19. Jahrhundert die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Häuslichkeit nicht nur
als neues soziales und politisches Ordnungssystem festgesetzt, sondern auch als
natürliches System der Geschlechter ausgegeben. Zugleich führt diese neue
Geschlechter-Ordnung zu einer tiefgreifenden geschlechtlichen Überformung
kultureller und sozialer Wertsphären – mit dem Ergebnis, dass Kindheit,
Familie, Gefühl und Poesie fortan mit Weiblichkeit assoziiert und verbunden
werden, dass Männlichkeit sich umgekehrt durch strenge Zurückweisung von
‘Weiblichem’ – Gefühl, Emotionen, Schwäche – geradezu definiert. Wirksam werden
die hierarchisch strukturierten Zeichen des Geschlechts überall dort, wo sich
Gegensätze, Wertbinaritäten und Machtverhältnisse herausbilden. (Literaturtheoretische
Grundannahmen) In literarischen Werken kommen nicht nur diese vielfältigen
Bedeutungszuweisungen zum Ausdruck, es lassen sich dort in ganz besonderer
Weise das Zustandekommen, die Historizität und die Rhetorik dieser Vorgänge
analysieren. So geben literarische Texte über die narrativen Strukturen Auskunft,
mit denen die Geschlechter-Differenz jeweils inszeniert wird. (Ziele/Perspektive)
Die Position des aktiven und mobilen Helden in mythischen Erzähltexten etwa ist
‘männlich’ konnotiert, und die von ihm zu überwindenden Hindernisse sind als
unbewegliche Positionen eines ‘weiblich’ figurierten Raumes gekennzeichnet –
unabhängig vom biologisch fixierten Geschlecht der Heldenfigur. Durch solche
literarischen Strukturen werden geschlechtsspezifische Bedeutungen
fortgeschrieben. Doch bereits die Rede von Körpern, von Sexualität und vom
biologisch festgelegten Geschlecht („sex“) selbst ist historisch bedingt und
diskursiv festgelegt, und auch ihre Literarisierung ist keineswegs unabhängig
von den Diskursen zu denken. (Vorgehensweise/Anwendung)
In Effi Briest wird unentwegt über
Sexualität geredet – in Anspielungen, versteckten Bezügen, unter der Oberfläche
von scheinbar neutralen Diskursen, die sich stets mit ‘anderen’ Bedeutungen
aufladen können. Gerade dieses ‘uneigentliche’ Sprechen aber bringt den Gegenstandsbereich
einer tabuisierten Sexualität und das Tabu selbst erst hervor. (Erhart,
Herrmann, 505ff.) 8. Von der Literatur der Frauen zum ‘weiblichen
Schreiben’. Schon Virginia Woolf hatte die „Auswirkung seines Geschlechts auf
den Schriftsteller“ zum Thema gemacht und die unterschiedlichen Inhalte in
‘weiblichen’ Werken untersucht. Vor allem amerikanische
Literaturwissenschaftlerinnen sind der von Woolf eingeschlagenen Richtung
gefolgt und haben die Literatur von Frauen in Analogie zur Literatur anderer ‘Minderheiten’
untersucht, die sich im Laufe des historischen Prozesses erst eine ‘Stimme’,
nämlich Medien und Verfahrensweisen, zur Artikulation ihrer Erfahrungen
aneignen müssen. Elaine Showalter etwa hat die historische Entwicklung der
englischen Frauenliteratur als einen solchen Prozess rekonstruiert und der
damit befassten Literaturwissenschaft den Namen „gynocriticism“ gegeben. Sandra
Gilbert und Susan Gubar haben englische Frauenromane des 19. Jahrhunderts auf
die darin vorfindbare doppelte Tradition untersucht – als eine Schreibweise,
die sich an dem Kanon männlicher Schriftsteller und an dem dort reproduzierten
Bild der Frau als eines weiblichen und objektivierten Raumes häuslicher
Tugenden orientiert, und zugleich als eine andere, in der die Stimme der Frau
selbst zum Ausdruck kommt. Unter der Oberfläche dieser Romane wird das Bild
einer ‘anderen’ Frau sichtbar, die sich in Phänomenen des Wahnsinns und der
schizophrenen Aufspaltung, im Durchbrechen narrativer Kohärenz und in der
ständigen Präsenz eines die männlichen Textmuster in Frage stellenden
weiblichen Subtextes zu erkennen gibt. Diese Beschreibungskategorien sind häufig aufgenommen
werden, um die historische Entwicklung der Literatur von Frauen zu
rekonstruieren. Zugleich entstand die Schwierigkeit, jenen Ort anzugeben, von
dem aus die Artikulation einer weiblichen Perspektive ausgehen soll, denn jede
Berufung auf eine genuin weibliche Erfahrung und Perspektive markiert die
Position des von der allgegenwärtigen männlichen Tradition und Sprache
ausgeschlossenen ‘Anderen’. (Erhart, Herrmann, 508f.) 9. Spätestens seit Myra Jehlens Essay Archimedes and the Paradox of Feminist Criticism (1981) ist dieses
Dilemma zu einem festen Bestandteil der feministischen Literaturtheorie
geworden und hat zwei unterschiedliche Bewegungen ausgelöst. Auf der einen
Seite hat eine vornehmlich aus Frankreich stammende feministische Theorie
versucht, sich diesem Ort trotzdem anzunähern, indem sie spezifisch weibliche
Körpererfahrungen als Ausgangspunkt genommen hat, um zu einem ‘anderen’,
nicht-linearen und fragmentarischen Schreiben zu gelangen, zu einer „écriture
féminine“. Auf der anderen Seite haben Vertreterinnen des Feminismus aus der
Not einer prinzipiell unmöglichen weiblichen (Selbst-)Repräsentation eine Tugend
gemacht und in der Wiederholung des männlichen Blicks bei gleichzeitiger
Durchquerung der weiblichen Bilder und im doppelten Status der schreibenden
Frau als Subjekt und Objekt, Strategien gesehen, sich der binären Logik der
Geschlechter-Differenz zu entziehen. (Erhart, Herrmann, 509) 10. Von dieser Problemstellung aus lässt sich auch die
seit den späten siebziger Jahren beobachtbare Rezeption der Psychoanalyse in
der feministischen Theorie erklären. Die Psychoanalyse bot sich an, weil sie
unter den beschreibbaren sozialen Geschlechterrollen jene Mechanismen und
Faktoren zu erkennen vorgab, die auf tiefgreifendere Weise an der Entstehung
der Geschlechtsidentität beteiligt sind. Die Rezeption der psychoanalytischen
Theorie in der feministisch orientierten Literaturwissenschaft stellte
folgerichtig jene Ansätze ins Zentrum, die sich mit der Phase vor dem von Freud beschriebenen
Ödipus-Komplex beschäftigen, nämlich mit der präödipalen Einheit von Mutter und
Kind. Dort – so lehrt es die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie – sind
die Identitätsgrenzen noch nicht genau markiert, aber es bilden sich schon jene
ambivalenten Objektbeziehungen heraus, die später die weibliche
Geschlechtsidentität und die Bedeutung von Weiblichkeit prägen: eine im
Gegensatz zum männlichen Kind nie ganz aufgegebene Bindung an die Mutter, ein
Gefühl der Abhängigkeit ebenso wie die Disposition zu einem Denken in
Beziehungen, eine stärkere ‘Verflüssigung’ der Ich-Grenzen und der
geschlechtlichen Identität. Die feministische Rezeption der Psychoanalyse führte auch
zu einem neuen Verständnis darüber, wie die scheinbar selbstverständliche
Zuschreibung von Weiblichkeit und Männlichkeit sich schon in der Genese jeder
geschlechtlichen Identität festsetzt und in jeweils unterschiedlichen historischen
Kontexten die Bildung und die geschlechtliche Differenz von Identität
hervorbringt. So konnte sich ein Verfahren entwickeln, das ‘weibliche
Erfahrung’ und ‘weibliches Schreiben’ in Begriffe fasst, ohne auf verborgene
biologische Grundlagen zurückgreifen zu müssen und etwa weibliche Autoren
‘essentialistisch’ auf bestimmte Schreibweisen festzulegen. (Erhart, Herrmann,
509f.) 11. In diesem Sinne hat bereits 1974 die französische
Theoretikerin Julia Kristeva in ihrem Buch Die
Revolution der poetischen Sprache die Psychoanalyse mit einer
Literaturtheorie verbunden. Sie knüpft dabei an die psychoanalytische Theorie
Jacques Lacans an, in der jede Subjektwerdung mit dem Eintritt in die vom
„Gesetz des Vaters“ konstituierte sprachliche Ordnung beginnt und damit eine
für jedes Geschlecht immer schon erfolgte Spaltung zwischen der ‘weiblichen’
Mutter-Kind-Einheit und der ‘männlichen’ Ordnung der Sprache voraussetzt.
Kristeva rekonstruiert eine Schreibweise, die die von der „symbolischen
Ordnung“ des Vaters gesetzte Sprache unterläuft und sich jener präodipalen,
„semiotisch“ genannten Erfahrung annähert, die im Rückgriff auf die verlorene
Einheit mit der Mutter das nach hierarchisierenden grammatischen Strukturen
geordnete Sprechen des Symbolischen stört. Den Einbruch des „Semiotischen“ ins
„Symbolische“ untersucht Kristeva anhand der Lyrik von Lautréamont und
Mallarmé, und sie findet es in der Fragmentarisierung, der abstrakten Poesie,
der semantischen Offenheit, der Aufsplitterung sprachlicher Sinneinheiten. All
jene hinlänglich bekannten literarischen Techniken der klassischen Moderne also
werden nun als geschlechtsspezifische und psychoanalytische, aber sich
unabhängig vom biologisch ‘männlichen’ Geschlecht der Autoren vollziehende
Prozesse lesbar. Die Theorie des ‘weiblichen Schreibens’ begründet sich so
gerade nicht in einer Wesenheit, die sich einzig unter der Hand von Autorinnen
entfalten würde, wie es etwa noch die Vorstellung von einer speziellen
‘Frauenliteratur’ gefordert hatte. Letztere sollte nicht nur die weibliche
Autorschaft benennen, sondern darüber hinaus eine frauenspezifische Realität
mit mehr oder minder bekenntnishaftem bis politischem Anspruch verarbeiten und
diese einer weiblichen Zielgruppe als Identifikationsangebot nahe bringen.
(>Kritik) Dabei blieben ihre
Schreibpraktiken jedoch in der Regel konventionell und gerieten zum Teil auch
ins Populistische. Eine von Kristeva ausgehende Theorie wiederholt hingegen
weder das egalitäre Postulat der Frauenbewegung, die sich am Status des
Männlichen orientiert, noch versucht sie die Differenz, nämlich weibliche
Eigenart und weibliche Qualität zu produzieren. Vielmehr geht es darum, die
binäre Geschlechter-Opposition auf ihre Bruchstellen, ihre Fragilität und ihre
der Differenz immer schon innewohnenden Auflösungserscheinungen hin zu
untersuchen sowie ihre Binarität selbst außer Kraft zu setzen. (Erhart,
Herrmann, 510f.) 12. Statt einer monotonen, immer wieder aufs neue
auftauchenden Geschlechter-Differenz kommt nun eher eine Vielfalt an
Differenzen zum Vorschein: sowohl in historischer Perspektive, wo sich die
Kategorie ‘Geschlecht’ mit klassenspezifischen und ethnischen
Positionsbestimmungen vielfach überschneidet, als auch in den
geschlechtsspezifischen Positionen selbst, die bei genauerem Hinsehen zwischen
den Geschlechtern und den Sexualitäten oszillieren. So wird Weiblichkeit als
jener Ort lesbar, der die linear-narrative Handlung aufbricht, fragmentarisiert
und blockiert, und innerhalb der Erzähl- und Handlungsmodelle finden sich
Bewegungen, die geschlechtlich interpretierbare Oppositionen hervorbringen und
ineinander umschlagen lassen. ‘Männlichkeit’ und ‘Weiblichkeit’ enthüllen sich
in solchen Lektüren als diskursive Effekte und als rhetorische Figuren, die
jene binäre Festlegung immer schon unterlaufen, indem die ihnen zugeschriebenen
Charakteristika zwischen den vermeintlich getrennten Bereichen hin- und
herwechseln. ’Geschlecht’ ist daher nicht mehr zu denken als ein System von
Oppositionen, sondern als ein Ensemble von Positionen und Beziehungen, die sich
je nach Kontext anders entfalten und anders gruppieren. (Erhart, Herrmann, 512) 13. Unter diesen Gesichtspunkten hat sich auch die in der
Frauenforschung oft als einheitlich vorausgesetzte Kategorie der ‘Männlichkeit’
aufgelöst. Auch männliche Identität lässt sich fortan nicht mehr auf ein klar
umrissenes Bild, also weder auf eine psychische Einheit noch auf ein Ensemble
an Rollenerwartungen, reduzieren, sondern verweist nur noch auf den
komplizierten Prozess, in dem geschlechtliche Identität und Geschlechtlichkeit
selbst hergestellt werden. (Erhart, Herrmann, 512) 14. Die Aufhebung eines festgelegten Schemas, das über die
Geschlechter-Differenz entscheidet, sowie die Verlagerung von festgelegten
Bildern auf die rhetorischen Effekte unterschiedlichster Geschlechter-Merkmale
hat schließlich auch die Bedeutung einer ihrerseits festgelegten
heterosexuellen Sexualität relativiert. Eine von Foucault ausgehende und
wesentlich von Judith Butler beeinflusste Interpretationsweise versucht die
Existenz einer konstanten sexuellen, geschlechtlichen und sogar körperlichen
Identität als Phantasma zu entlarven, an dessen Stelle ganz unterschiedliche
Inszenierungen, zeitlich befristete Identitätskonstellationen und wechselnde
Subjekt-Positionen sichtbar werden. In den USA haben die „gay and lesbian
studies“ inzwischen Eingang in literaturwissenschaftliche Untersuchungen
gefunden. (Erhart, Herrmann, 513f.) 15. Inhaltlich geht es den feministischen Forscherinnen um
grundsätzliche Fragen des Selbstverständnisses und der Selbstbestimmung von
Frauen. Schreiben und lesen Frauen anders als Männer? Mussten Frauen ggf. diese
Andersartigkeit verleugnen, wenn sie in der althergebrachten Männerwelt der
Literatur Anerkennung oder zumindest Berücksichtigung finden wollten? Können
männliche Autoren die Gedanken und Empfindungen weiblicher Figuren und können
weibliche Autoren die Gedanken und Empfindungen männlicher Figuren adäquat
darstellen? Ist das weibliche Schreiben unmittelbar an das biologische
Geschlecht geknüpft (angeboren) oder eine gesellschaftliche Konstruktion
(anerzogen)? (Schneider, 232) 16. In den letzten Jahren hat es eine Wende zu den Gender Studies gegeben, die das Problem
der Geschlechterrollen nicht nur aus weiblicher Sicht, sondern aus der teils
komplementären, teils antagonistischen, sich teilweise aber auch
überschneidenden Perspektive beider Geschlechter beleuchten. Männliche und
weibliche Literaturwissenschaftler arbeiten hierbei zusammen, um z.B.
charakteristische Geschlechterrollenstereotype und ihre Beziehung zur
epochentypischen Situation von Autorinnen und Autoren bzw. Lesern und
Leserinnen zu untersuchen. (Schneider, 232) 17. In den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts
entwickelte sich eine feministisch orientierte Forschungsrichtung, deren
erklärtes Ziel es war, die Gleichstellung der Frau in allen gesellschaftlichen
Bereichen, auch an den Hochschulen, zu erreichen. „Der Konvergenzpunkt aller
feministischen Forschungsansätze, so unterschiedlich sie im einzelnen auch sein
mögen, besteht in ihrem Anliegen, die patriarchalen Strukturen innerhalb einer
Gesellschaft aufzudecken und den darin eingeschriebenen Ort der Frau oder des
‘Weiblichen’ zu analysieren, sowie langfristig auf eine Abschaffung oder
zumindest eine Veränderung dieser Strukturen hinzuwirken.
(Fischer/Kilian/Schönberg 1992, 19). (Rippl, 230) 18. Frauenforschung wird heute in angloamerikanischen
Ländern Women Studies,
Geschlechterforschung Gender Studies
genannt. Gehen die Women Studies vom
biologischen Geschlecht ( engl. sex)
aus und folglich von einer homogenen Gruppe von Frauen mit identischer
Erfahrung, die biologisch bestimmt ist, so verstehen die Gender Studies
Geschlecht als sozial-kulturell konstruierte Kategorie (engl. gender). Damit tragen sie zur
De-Essentialisierungdes Konzepts
‘Frau’ , insofern bei, als sie Raum schaffen für die Berücksichtigung
unterschiedlicher Vorstellungen dessen, was eine bestimmte Epoche oder eine
bestimmte Kultur meint, wenn sie von ‘Frau’ und ‘Mann’ spricht. Zugrunde liegt
hier die Überzeugung, dass es keine natürlichen, angeborenen
geschlechtsspezifischen Eigenschaften von Mann und Frau gibt, sondern immer nur
kulturspezifische Zuschreibungen von Rollen und Verhaltensstereotypen, die
historischen Veränderungen unterliegen. ‘Frau’ konnotiert in unserer westlichen
Kultur heute nur deshalb Passivität, Gefühl, Körper, Natur und
Anpassungsfähigkeit, weil ‘Mann’ Aktivität, Rationalität, Geist, Kultur und
Individualismus verkörpert. (Rippl, 230f.) 19. Seit ein paar Jahren läuft eine feministische Debatte
darüber, ob die Differenzierung nicht noch radikaler aussehen müsste. So
nämlich, dass in das Konzept der Geschlechtsidentität selbst Differenzen
hineingetrieben werden und von Geschlecht somit nicht mehr als Positions-,
sondern als Relationsverhältnis gesprochen wird. Die Transvestismus-Forschung
z.B. spricht von einem dritten Geschlecht, das der Transvestit verkörpert.
Damit wird versucht, das schwierige Problem des Denkens in binären
Oppositionspaaren wie männlich/weiblich
zu umgehen. (Rippl, 231) 20. Wie nun literarische Texte Geschlechtsidentitäten und
-differenzen ins Spiel bringen, sie inszenieren, travestieren, u.U. unterlaufen
und ein differentielles Geschlechts- und Textmoment einspielen, damit
beschäftigt sich die feministisch orientierte Literaturwissenschaft seit den
siebziger Jahren. Im allgemeinen unterscheidet man drei Hauptrichtungen
feministischer Forschung innerhalb der Literaturwissenschaft: 1. die
Frauenforschung, 2. die feministische Literaturwissenschaft und 3. den
dekonstruktiven Feminismus. Diese Richtungen folgen nicht aufeinander. Die
feministische Literaturwissenschaft, wie sie sich am Ende der siebziger Jahre
herausgebildet hat, löst die Frauenforschung der siebziger Jahre nicht ab,
genauso wenig wie sie selbst vom dekonstruktiven Feminismus am Ende der
achtziger Jahre verabschiedet wird. Vielmehr bestehen diese Richtungen bis
heute nebeneinander und ergänzen sich gegenseitig, was bedeutet, dass es den Feminismus nicht gibt. Generell kann
man sagen, dass sich die Frauenforschung mit Texten von Frauen und
Repräsentationen von Frauen in literarischen Texten auseinandersetzt. Dagegen
beschäftigen sich die feministische Literaturwissenschaft und der
dekonstruktive Feminismus stärker mit methodologischen und theoretischen
Fragestellungen und Problemen. (Rippl, 231f.) 21. Die Frauenforschung orientiert sich zunächst an den
Forderungen des liberalen Feminismus, der unter dem Stichwort „Gleichheit der
Geschlechter“ vor allem gleiche Chancen für Frauen in Beruf, Wissenschaft und
Politik fordert. Theoretische Grundlage dieser Forderung ist Simone de
Beauvoirs Feststellung, dass man nicht als Frau geboren, sondern zur Frau
gemacht wird. Für die Literaturwissenschaft bedeutet diese Forderung nach
Gleichheit, dass vergessene Schriftstellerinnen wiederentdeckt werden und ihre
Texte in Frauen-Literaturgeschichten Eingang finden. Dies trägt zu einer
verstärkten Rezeption der Texte von Autorinnen bei und führt im Idealfall dazu,
dass sie in den herrschenden, von Männern geprägten Literaturkanon aufgenommen
werden. (Ziele/Perspektive)
Die Beschäftigung mit den bislang ‘verdrängten’ Autorinnen geschieht zunächst
aus biographischer Perspektive: Meist steht das ungewöhnliche Leben der
Autorinnen im Mittelpunkt, die literarische Qualität der Texte wird dagegen
vernachlässigt. (Rippl, 232) 22. Parallel dazu richtete sich das Interesse der
Frauenforschung auf die in Literatur und philosophischen Werken vorkommenden
Frauenbilder und Weiblichkeitskonzeptionen, was eine Reihe von Untersuchungen
männlicher Mythen über Frauen, die Frau als Heilige oder Hexe, als Maria oder
Eva, als Jungfrau oder Hure, hervorbringt. Heftige Kritik wurde an
phallozentrischen Annahmen oder frauenfeindlichen Aussagen in literarischen
Texten geübt. (Kritik von ‘innen’) Nicht reflektiert
werden die eigenen ideologischen Voraussetzungen, insbesondere das Postulat,
dass weibliche Erfahrung als Basis der Interpretation betrachtet werden kann.
Hier wird von einer einheitlichen, natürlichen weiblichen Erfahrung ausgegangen,
Frau als metaphysische Kategorie begriffen und übersehen, dass ‘weibliche
Erfahrung’ immer schon kulturell geprägt ist. (Rippl, 232) 23. Die feministische Literaturwissenschaft geht ebenfalls
zunächst von einer genuin weiblichen Erfahrung aus, deren nachdrückliche
Aufwertung sie vornimmt bei gleichzeitiger Ablehnung der männlichen
symbolischen Ordnung. Postuliert wird eine „weibliche Schreibweise und
Ästhetik“, ein weibliches „metonymisches Schreiben“ als „Gegendiskurs“, das
sich thematisch, strukturell und stilistisch von einer männlichen Schreibweise
unterscheiden soll. (Kritik von ‘innen’)
Selbstkritisch wurden in einem nächsten Schritt die Voraussetzungen der eigenen
Theoriebildung hinterfragt und als Ergebnis konstatiert, dass alle
„gynozentrischen“ Tendenzen, die das Weibliche als dem Männlichen dem Wesen
nach unterschiedlich definieren und dem Weiblichen so eine intrinsisch
überlegene Moralität zusprechen, als essentialistisch-metaphysische Deutung der
Kategorie weiblich einen Rückfall in biologistische Denkmuster darstellen. Dazu
gehört z.B. die Vorstellung, dass Texte von Frauen unmittelbar weibliche
Erfahrung ausdrückten. (Rippl, 233) 24. Zentrale Figuren der feministischen
Literaturwissenschaft sind die französischen Philosophinnen und
Literaturwissenschaftlerinnen Hélène Cixous und Luce Irigaray, sowie die in
Frankreich lebende Bulgarin Julia Kristeva. Ihre poststrukturalistische Kritik
wendet sich, in Anlehnung an die Dekonstruktion und ihren Hauptvertreter
Jacques Derrida, gegen die phallo- und logozentristische, metaphysische
Denkweise der westlichen Philosophie. Damit geht eine grundlegende Kritik an
der Freudschen, aber auch der Lacanschen Psychoanalyse Hand in Hand, die das
Weibliche an der männlichen Norm mißt und es aufgrund seiner anderen Anatomie
als Mangel definiert. Cixous betrachtet als wichtigste feministische Aufgabe die
Dekonstruktion der patriarchalen,
logozentrischen Metaphysik. Die von ihr proklamierte neue Sprache der ‘Frau’,
die écriture féminine, soll die
binären Oppositionsbildungen wie Mann/Frau,
Logos/Pathos, Kultur/Natur, Aktivität/Passivität, Subjekt/Objekt usw.
sprengen helfen, weil diese Oppositionen nicht neutral sind. Damit einer der
Begriffe des Oppositionspaares männlich/weiblich
Bedeutung erhalten kann, muss der andere zerstört werden, wobei unter dem
Patriarchat der männliche Teil immer der Sieger, der weibliche der Verlierer
ist. (Kritik von ‘innen’)
Es droht der Rückfall in einen biologischen Essentialismus, wenn Cixous
beispielsweise die ‘weibliche’ Schreibweise zuweilen mit der Schreibweise einer
Frau gleichsetzt.(Rippl, 233f.) Die feministische Diskussion trug wesentlich zur Rezeption
des französischen Strukturalismus und Neostrukturalismus in der
bundesrepublikanischen Literaturwissenschaft bei. Charakteristisch ist die
Koppelung von linguistisch-zeichentheoretischen und psychoanalytischen
Überlegungen. So bezieht sich Cixous mit ihren Texten zur subversiven Kraft
weiblichen Schreibens insbesondere auf Derridas Gedanken der différance, des freien Spiels der
Signifikanten. Wie Derrida verwirft sie die binär-hierarchische Einteilung der
Welt, die das logozentrische Denken des Abendlands hervorbringt. Logozentrismus
und Phallozentrismus verbünden sich
in der Herrschaftsstruktur eines patriarchalen
binären Denkens, in dem die ‘weibliche’ Seite immer als die negative, die
untergeordnete erscheint. Alle Oppositionen sind auf diese
geschlechterdifferenzierende Grundstruktur zurückzuführen. In dieser Ordnung
hat die Frau keine Chance. Die ‘männliche Ökonomie’ der Aneignung und Unterordnung kann
nur durch ein anderes, vom Phallogozentrismus selbst undenkbares
Denken unterlaufen werden: die weibliche
Ökonomie des Begehrens, auf deren Grundlage eine von der männlichen
littérature unterschiedeneweibliche
Schreibpraxis, écriture féminine,
entsteht. Diese ist nicht an das biologische Geschlecht geknüpft, sondern an
die Ausdrucksmöglichkeit des Begehrens im Text. Die weibliche Ökonomie ist
keine des Eigenen, das sich durch die Abgrenzung vom Anderen konstituiert,
sondern ist durch ein kontinuierliches Geben und plurales Sich-Verströmen
gekennzeichnet. (Kritik von ‘innen’)
Trotz Cixous’ Ablehnung der logozentrischen Hirarchisierung basieren ihre
Überlegungen also ausgerechnet auf einer binären Opposition der ‘Ökonomien’. Die Bewegung der Entäußerung, die Identität und
Subjektivität zugunsten unmittelbaren Sprechens auflöst, sei an das
dezentrierte sexuelle Lustempfinden der Frau geknüpft, das ihr ermögliche, ‘den
Körper zu schreiben’. Cixous formuliert so eine utopische Kreativitätstheorie,
die sexuelles und textuelles Lustempfinden ineins setzt. Weibliches Schreiben
ist dann der Freiflug des geknebelten Begehrens, das die symbolische Ordnung
erschüttern. Die Allegorie dieses Verfahrens ist die Hysterikerin. (Zens, 162ff.) 25. In Speculum
– Spiegel des anderen Geschlechts
(1980), ihrer kritischen Neulektüre zentraler Texte der westlichen
Geistesgeschichte (Freud, Marx und Platon), wiederholt Irigaray auf
spielerisch-imitierende und ironische Weise deren zentrale Ideen und vermag so
Differenzen in die männlichen Phantasiebildungen zu treiben. Indem die
Schreibweise Irigarays eine fixierte, logische Bedeutungspraxis unterläuft und
sie durch Wortspiele zu einer prozessualen macht, die die Syntax und Linearität
des Textes durchbricht, parodiert sie die wissenschaftliche Sprache. Gegen den ‘männlichen’ Begriff des Blicks, der die Frau
zum schönen Objekt männlicher Schaulust degradiert, führt Irigaray Berührung
als ‘weiblichen’ Begriff an. Die Frau zeichnet sich durch eine andere Anatomie,
ein anderes Lustempfinden, ein anderes Imaginäres, eine andere
Subjektkonstitution und Sprache aus. Konstituiert sich der Mann als das Eine,
als Identität, als Eigenname, als Individuum und als Eigensinn, so die Frau
durch die Berührung der zwei Lippen ihres Geschlechts, „das nicht eins ist“,
als von vornherein gedoppelte Identität. Diese schlägt sich in der
differentiellen, mehrstimmigen Sprache der Frau und ihrer nicht-identischen,
pluralen Subjektivität nieder. Folglich fungiert die Frau im westlichen, auf
der Identitätslogik beruhenden Patriarchat als das Andere des Mannes (und nicht
als ein unabhängiges Anderes), als das negative Abbild des Mannes, als sein
Spiegelbild. „Die Frau ist [...] nichts als eine mehr oder weniger gefällige
Stütze für die Inszenierung der männlichen Phantasien.“ (Irigaray 1079, 24)
Weil die Frau im psychoanalytischen Diskurs Freuds über den sichtbaren
anatomischen Mangel und dessen Folge
(Penisneid) beschrieben wird, weil sie ein minderwertiger Mann ist, ist sie aus
dem Diskurs ausgeschlossen und kann den Phallus, den Signifikanten sexueller
Macht und Kennzeichen der Beherrschung der symbolischen Ordnung, nie erreichen.
Im männlichen Diskurs ist die Frau sprachlos; spricht sie dennoch, so
inszeniert sie, indem sie den Diskurs wie eine Hysterikerin mimt. Darin aber
liegt ihre Stärke, denn der männlichen spekularen Logik setzt Irigaray ein
positiv gefasstes Mimikry und Mimen, den hysterischen und mystischen Diskurs
der Frau gegenüber, der den männlichen Diskurs zu sprengen vermag. (Rippl,
234f.) Luce Irigaray hat keine Theorie der Literatur formuliert;
ihre psychoanalytische Revision der abendländischen Philosophie ist trotzdem zu
einem der wichtigsten Leittexte für feministische Relektüren avanciert. In Speculum vollzieht sie die Durchquerung des
philosophisch-phallischen Diskurses über das Weibliche. Mit Hilfe des
mimetisch-ironischen Wiederlesens, der Mimikri, sollen Spuren des Imaginären in
der Sprache aufgefunden werden. In der psychoanalytischen Theorie Lacans wird zwischen dem
Imaginären und dem Symbolischen unterschieden. Das Imaginäre besteht aus
prä-ödipaler und Spiegel-Phase und ist Transitotium auf dem Weg zum
Symbolischen, der Ordnung des Vaters, dem Gesetz. Das Erkennen des Selbst in
der Spiegelphase, die Konstitution des Subjekts, ist nur für das männliche Kind
möglich. In Das Geschlecht,
das nicht eins ist (1979) nimmt Irigaray diesen Gedanken auf. Die
Weiblichkeit in der symbolischen Ordnung kann nur eine gespiegelte Männlichkeit
sein; sie ist Mangel, verkehrte Wiedergabe des Subjekts. Die Frau ist hier nie
sie selbst, sie dient lediglich der Selbstkonstitution des Mannes. Weiblichkeit
in der phallischen Ordnung des Vaters ist ‘maskuline Weiblichkeit’. ‘Weibliche
Weiblichkeit’ hingegen muss im Imaginären
vor der phallischen Phase aufgesucht werden. In der herrschenden Sprache als Artikulation der Ordnung
ist nur die Entfremdung des Weiblichen aufzufinden. Das Korsett der
entfremdeten Sprache kann aus der Sicht der Frau durch Frau-sprechen durchbrochen werden. Dieses ist polyvalent, es korrespondiert
mit der im Gegensatz zur phallisch-zentrierten multiplen Sexualität der Frau.
Es repräsentiert aber nicht den weiblichen Körper, es ist der weibliche Körper.
Die Frau als das Nicht-Festlegbare verweigert sich der Benennung. Wie schon bei
Cixous und Lacan ist auch für Irigaray Hysterie der weibliche Diskurs.
Frau-sprechen ist nur in der Ent- oder Verrückung möglich – als mystisches,
hysterisches, nicht-referentielles Sprechen. (Zens, 164f.) 26. Julia Kristeva versucht nicht, die Frau zu definieren. Ihre Auseinandersetzung mit Hegel, Freud,
Heidegger und Lacan in Die Revolution der
poetischen Sprache (1978) bewegt sich im traditionellen
Wissenschaftsdiskurs und wirft zunächst keine geschlechtsspezifischen,
feministischen Fragen auf. Gingen Irigaray und Cixous von einer anderen Sprache der
Frau aus, so hat bei Kristeva die Sprache, und nicht nur die Sprache der Frau,
schon immer zwei Ebenen, die sie das Symbolische
und das Semiotische nennt. Innerhalb
der Sprache selbst liegt hier das Sprengungspotential für die Identitätslogik
der Sprache, indem es laufend zu Einbrüchen des Semiotischen in das Symbolische
kommt. Das Semiotische bzw. die semiotische chora (= geschlossener Raum,
Mutterleib) benennt das, was die Triebe artikulieren. Sie ist kein Zeichen und
auf keinen Signifikaten zu reduzieren, sondern ist Vorsignifikant,
vorsprachlich (gestisch, rhythmisch, gleitend, Ort der Spaltung und
Zerstückelung), polymorphisch, frei-flottierend und prä-ödipal). Das
Symbolische und das Semiotische der Sprache sind durch eine thetische Phase
getrennt. Erst die Setzungen in der thetischen Phase ermöglichen die
Konstituierung der symbolischen Ordnung während der Zeit des Spracherwerbs.
Nachdem das Subjekt während der thetischen Phase in die symbolische Ordnung
eingetreten ist und damit das ödipale Stadium hinter sich gelassen hat, wird
die semiotische chora verdrängt und
kann nur als Ansturm der Triebe auf die symbolische Ordnung, das heißt in
sprachlichen Widersprüchen, Sinnlosigkeiten und Brüchen wahrgenommen werden. Indem sich Sprache als Symbolisches erstellt, indem sie
zum Ort der Signifikaten wird, führt umgekehrt das Phantasma vor, was der
Sprache entgangen ist: die Triebheterogenität. Die Triebangriffe können aber
nicht nur Phantasmen oder Psychosen hervorrufen, sondern einer Wiederaufnahme
einer semiotischen chora in der
Sprache stattgeben. Dieses Thetische zweiten Grades ist die poetische Sprache,
die Kunst. Poetische Texte bezeugen gesellschaftliche Strukturen und
unterlaufen sie gleichzeitig. Sinngebung innerhalb der Sprache ist laut
Kristeva ein polyvalenter, heterogener, nicht-statischer Prozess, der aus dem
dialektischen Verhältnis des Symbolischen und des Semiotischen besteht. Der
Text hat damit bei Kristeva keinen fixierten, einheitlichen oder eindeutigen
Sinn mehr, sondern ist immer ein Doppeltes, hat „gleichzeitig die eine und die
andere“ Bedeutung. Gekoppelt ist dieser Sinngebungsprozess und Textbegriff an
ein Subjekt, das nicht mehr als ein mit-sich-identisches, kartesianisches,
sondern als ein prozessuales Ich zu denken ist. Eine spezifisch weibliche Schreibweise gibt es in
Kristevas Modell nicht, weil es keinen ‘anderen Ort’ gibt, von dem aus die Frau
spricht, höchstens einen von der herrschenden symbolischen Ordnung
marginalisierten Ort, der nicht geschlechtsspezifisch ist, sondern gerade auch
von Avantgarde-Künstlern eingenommen wird. (Kritik von ‘innen’) Judith Butler konnte
nachweisen, dass Kristevas Modell doch ein inhärent geschlechtsspezifisches
Moment besitzt: Kristeva identifiziert das Semiotische mit dem Körper der
Mutter. Das hat für die Frau zur Folge, dass ihre semiotische Rückkehr zum
Mütterlichen in einer vordiskursiven, psychotischen Homosexualität enden muss. In der feministischen Debatte kam es zur höchst
problematischen Gleichsetzung des Symbolischen mit dem Männlich/Metaphorischen
und des Semiotischen mit dem Weiblich/Metonymischen. Das Weibliche als
Metonymisches ist in diesem Modell ein Gegenentwurf, der das verdrängte Andere
der Vernunft, das Vorsymbolische und Unbewusste, den marginalisierten Rand der
herrschenden Ordnung metaphorisch repräsentiert. Re-Essentialisierungen des
Weiblichen schreiben so ihrerseits das Weibliche als ein
„Nicht-Entscheidbares“, „Nicht-Festlegbares“ fest. (Rippl, 235ff.) Die Sprachwissenschaftlerin und Semiologin Julia Kristeva
gehörte zu der Gruppe um die Zeitschrift Tel
Quel, von der in den 1960er/70er Jahren die wohl wichtigsten Impulse für
den französischen Poststrukturalismus ausgingen. In Die Revolution der poetischen Sprache (1978, frz. 1974) entwickelte
Kristeva eine von der Psychoanalyse Freuds und Lacans informierte Sprach- und
Literaturtheorie. Literatur ist vergleichbar mit den Triebkräften der
politischen Revolution; die eine erreicht beim Subjekt, was die andere im
Gemeinwesen erreicht. In Bezug auf die vorgegebenen Symbolsysteme sind
grundsätzlich zwei Positionsnahmen möglich: die identifikatorische des
ängstlichen Subjekts, oder die der Triebstruktur gehorchende, die die
Gewissheiten der symbolischen Ordnung erschüttert. Der poetische Mehrwert, den die Literatur gegenüber der
Alltagssprache aufweist, ist, als besonderer Akt der Signifikation diesem Begehren Ausdruck zu verleihen. Die
Polysemie des poetischen Sprechens gründet in seiner Verbindung zum
Semiotischen. Das Semiotische der Chora ist im Gegensatz zum symbolischen
Diskurs flüchtig, wenn auch nicht
gänzlich regellos, sie läuft dem Diskurs der Repräsentation zuwider, obwohl
dieser auf ihr ruht. In der thetischen Phase, die den Eintritt in die symbolische
Ordnung markiert, erfolgt Sinngebung durch Einschnitte in das heterogene
Kontinuum der Chora, durch Objektsetzung
wird das Semiotische verdrängt. Alle Strukturierung ist gesellschaftliches
Produkt. Die Brüche, Unvollständigkeiten, der Rhythmus und das Phantastische in
der Sprache, vor allem in der poetischen, sind Aufscheinen des in der Struktur
eliminierten Semiotischen. Die Transposition tradierter Zeichensysteme
bezeichnet Kristeva als Intertextualität.
Dabei geht es nicht nur um den Kontakt zwischen zwei oder mehr Texten, sondern
um die „Neuartikulation des Thetischen“. Für Kristeva gibt es kein weibliches oder männliches
Schreiben, die Sphären des Semiotischen und des Symbolischen sind
geschlechtsneutral, auch wenn Männer und Frauen unterschiedliche Positionen
einnehmen. Statt einer homogenen weiblichen Identität nimmt Kristeva ‘so viele
Weiblichkeiten wie Frauen’ an. Das Weibliche ist das Unbestimmbare und offen
für das Semiotische. Diese Offenheit ist aber kein Wesensmerkmal der Frau,
sondern Qualität des Marginalen, von der Frau, Arbeiterklasse und
avantgardistische Dichter gleichermaßen profitieren. Das Spannungsverhältnis
zwischen Marginalität und Machtzentrum erscheint somit als positiv gewendetes,
nicht als unterdrückendes. (Zens, 165ff.) 27. Ende der achtziger Jahre formierte sich in den USA der
dekonstruktive Feminismus; seine Vertreterinnen sind dort Cynthia Chase,
Shoshana Felman, Mary Jacobus, Barbara Johnson, Naomi Schor und Gayatri Spivak,
in Deutschland Bettina Menke und Barbara Vinken. Der dekonstruktive Feminismus
rekurriert auf die theoretischen Überlegungen der Dekonstruktion und deren
Weiterformulierung durch Cixous, Irigaray und Kristeva. Konsequent hinterfragt
er die Oppositionsbildung männlich/weiblich
und die essentialistische Vorstellung der Geschlechtsidentität, sei sie nun als
biologische, gesellschaftliche, historische oder kulturell geprägte
Positionalität gedacht. ‘Weiblichkeit’ ist demnach ein „Effekt symbolischer
Anordnungen“, die in Texten lesbar werden, und wird durch Sprechakte erzeugt,
die den „Effekt des Natürlichen“ hervorbringen. Geschlechtsidentität bezeichnet
man – so die These Butlers – „ als Ursprung
und Ursache [...], obgleich sie in
Wirklichkeit Effekt von
Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen
mit vielfältigen und differenten Ursprungsorten“ (Butler 1991, 9), also
gesellschaftliche Konstruktion ist, die den Glauben an ihre „Natürlichkeit und
Notwendigkeit“ fordert. Der dekonstruktive Feminismus geht nun davon aus, dass
diese „rhetorische Verfassung“ der Geschlechter in (literarischen) Texten
lesbar wird. Die durch männliches Lesen verdrängte Differenz der Geschlechter,
des Anderen, hinterlässt in den Texten Spuren ebendieser Verdrängung.
Als-Frau-lesen heißt daher, diesen Spuren nachzugehen, ‘männliche Lektüren’ zu
vermeiden und Korrekturen an den Verzerrungen der ‘männlichen’ Lektüren
durchzuführen. (Rippl, 237f.) Der dekonstruktive Feminismus führt die textzentrierten
Traditionen des amerikanischen Re-Reading und des kontinentaleuropäischen
Dekonstruktivismus Derridas zusammen. Die Rezeption der Dekonstruktion verläuft
über zwei Wege: einmal über die feministische Adaption dekonstruktiver
Verfahren durch Cixous, Irigaray und Kristeva, zum anderen über den Einfluss
des ‘amerikanischen Dekonstruktivismus’ Paul de Mans. Der dekonstruktive Feminismus
lässt, wie Kristeva, die Geschlechterdifferenz nicht als Unterscheidung
bestimmbarer Entitäten gelten, obwohl er immer wieder auf die Opposition
rekurrieren muss, die er dekonstruieren will. Die Praxis des Gegen-den-Strich-lesens erscheint hier im
Gewand der différance. Die Differenz als „unheimlicher Zwischenraum“ stellt die
Repräsentationslogik in Frage. Sexuelle und textuelle Differenz funktionieren
analog, die Frau ist die Allegorie dieser Figuration. In der dekonstruktiven Lektüre der textuell verfassten
Geschlechterdifferenz findet selbst das Weibliche einen zumindest flüchtigen
Ort. Was den dekonstruktiven Feminismus vom ‘einfachen’
dekonstruktiven Lesen unterscheidet, ist die Suche nach den differentiellen
Effekten, den textuellen Modifikationen, in denen Geschlechteridentität
verfasst ist. Die ausdrückliche Abgrenzung von „frauenzentrierten“ Ansätzen
äußert sich praktisch in einer Rekonzentration auf die Neu-Lektüre des Kanons,
der neu gewichtet wird. „Dekonstruktive Feministen lesen männliche Autoren ‘wie
Frauen’ – und nicht weibliche Autoren ‘wie Männer’.“ (Vinken 1992, 24) (Zens, 167f.) 28. Als in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre –
ausgehend von der Frauenbewegung und den Anfängen einer neuen ‘Frauenliteratur’
– erste ‘Frauenseminare’ bzw. geschlechtsspezifische Untersuchungen in der
Literaturwissenschaft stattfanden, konzentrierten sich die Interessen auf die
Literatur von Frauen und auf die stereotypen Weiblichkeitsbilder in der
Literatur männlicher Autoren. Die auffällige Diskrepanz zwischen der Fülle der
beschriebenen Frauen und dem Mangel schreibender Frauen in den Überlieferungen
begründet ein Untersuchungsparadigma, das in variationsreicher Begrifflichkeit
stets als Paar auftritt, z.B. Heldin und Autorin. Unterschieden wird hier der
jeweilige Status von Weiblichkeit, je nachdem, ob es sich um Texte über oder
von Frauen handelt. (F 2: Kritik von ‘innen’) Problematisch
wird dieses Paradigma dort, wo beides als Verhältnis von ‘Fiktion und Realität’
bewertet und als Gegensatz konstruiert wird, wo also Texte von Frauen als
unmittelbarer Ausdruck des weiblichen Lebenszusammenhangs betrachtet werden. Die Erkenntnis, dass auch literarische Produktionen von
Frauen an der Geschichte der Weiblichkeitsmythen teilhaben, führt zu einer
Verschiebung der Untersuchungsperspektive, in der das zunächst dominierende
Begriffspaar immer mehr in den Hintergrund tritt. Aus der Dominanz der
männlichen Perspektive im Diskurs (nicht nur) über die Geschlechter, aus der
männlichen Vorherrschaft im Entwurf der Bilder und Vorstellungen von
Weiblichkeit folgt nicht die Frage nach anderen Bildern, sondern nach der Art
und Weise, in der sich Frauen auf die vorgefundenen imaginären Muster beziehen,
ob sie sie reproduzieren, kritisieren, durchqueren, nachahmen, dekonstruieren
usw. (Weigel, 687f.) 29. Das Skandalon, an dem sich ein feministisches
Engagement im Fach zuerst und immer wieder entzündet, ist die auffällige
Abwesenheit von Schriftstellerinnen in der Literaturhistorie. Schreiben
erscheint als eine genuin männliche Domäne. Aus dem männlichen
Schriftsteller-Kanon treten nur wenige weibliche Gestalten hervor. Zudem
erfährt man meist mehr über die Mütter, Musen und Idole ‘großer’ Autoren als
über ihre Kolleginnen und, wenn diese schon mal Erwähnung finden, mehr über
deren (Liebes-)Leben als über die Texte, die sie geschrieben haben. Dies war die Ausgangssituation, aus der das große
Arbeitsprojekt einer Rekonstruktion der weiblichen literarischen Tradition
entstanden ist, die Suche nach ‘vergessenen’ Autorinnen in den Beständen der
Archive – ein Projekt, das so erfolgreich war, dass sich das Bild in den
letzten zwei Jahrzehnten gründlich geändert hat. Dabei ist sichtbar geworden,
dass die Schattenexistenz von Frauen in der Literaturgeschichte der Effekt
eines regelförmigen Vergessens ist, Produkt aktiven Ausgrenzens und
Verschweigens durch die Literaturgeschichtsschreibung, Ergebnis eines zumeist
unbewussten Vorgangs, der sich über die etablierten Werturteile,
Wahrnehmungsweisen und Begriffe herstellt. In der Literatur-Geschichte wird bei
der ordnenden Darstellung des Materials die Dominanz von männlicher Stimme und
männlichem Blick nicht nur reproduziert, sondern noch verstärkt. Das Vorhaben, die Geschichte der Literatur von Frauen zu
rekonstruieren, gleicht einem archäologischen Projekt, denn es gilt dabei,
durch die Schichten der Überlieferungen hindurch die Spuren eines verdrängten
Wissens von und über eine weibliche Kulturgeschichte zu entziffern. (Weigel,
688ff.) 30. Am Beispiel der Freikorpsliteratur arbeitete Klaus
Theweleit in Männerphantasien (1977)
ein kulturgeschichtliches Paradigma der Geschlechterverhältnisse heraus, das
Horkheimer/Adornos Dialektik der
Aufklärung fortschreibt. Theweleit konzentriert sich auf die Bildlichkeit
der Geschlechterverhältnisse: auf die Geometrisierung der Leiber und die
Panzerung der soldatischen Körper als Abwehrmechanismen gegen die Furcht der
Entgrenzung und Überflutung, die in den Bildern sexualisierter Frauen, in
Angstbildern von Fluten und Massen zum Ausdruck kommt. Die Gleichsetzung von
Frau und Natur sowie deren Dämonisierung und Domestizierung, das Frauenopfer
und die heimliche Homosexualität männerbündischer Institutionen, die Herrschaft
des Blicks und die Abwehr gegenüber dem Leiblichen: All dies sind Topoi, die in
zahlreichen Studien über Frauenbilder und Weiblichkeitsmythen bestätigt und
konkretisiert werden konnten. (Weigel, 690) 31. Mit der Frage nach dem Ursprung bzw. den Bedingungen
der Möglichkeit bestimmter Weiblichkeitsentwürfe verschiebt sich das Interesse von
den stereotypen Bildern hin zu den kultur- und diskursgeschichtlichen
Konstitutionsbedingungen für die mythische Präsenz des Weiblichen und die
Funktion der Frau als Bild. Insbesondere im Anschluss an Horkheimer/Adorno und
Foucault wird die Geschichte des ‘Weiblichen’ als „Nachtseite der
Humanwissenschaften“ beschreibbar. Dabei geht es sowohl um die Lektüre von
Mythen, die – verstanden als kulturelles Gedächtnis – bestimmte Urszenen einer
tradierten Geschlechterdramaturgie erinnern, als auch um Studien zur Abspaltung
des „Mythos Frau“ in den Wissenschaften vom ‘Menschen’. Hier erhält der philosophische Diskurs der ‘Aufklärung’
bzw. des 18. Jahrhunderts insofern den Charakter einer paradigmatischen
Konstellation, als ihm ein modernes Konzept von Differenz entspringt, das im Kontext naturrechtlicher Entwürfe die
Bilder vom ‘Anderen’ mit deren sogenannter Natur begründet. Dies kann geschehen
unter Bezugnahme auf die Physiognomie, auf die andere leibliche Konstitution
der Frau, ihre ‘natürliche Schamhaftigkeit’ oder auch auf die Hautfarbe, wie
etwa im Entwurf einer ‘Rassen’-Theorie. Diese Zusammenhänge sind Gegenstand
diskurshistorischer Untersuchungen über: (1) die Konstruktion des weiblichen
‘Geschlechtscharakters’ und (2) Überschneidungen im Entwurf der Geschlechterverhältnisse
mit Bildern anderer Kulturen, beispielsweise zwischen dem Bild vom ‘guten
Wilden’ und dem Bild der Frau. Viele dieser Studien sind theoretisch Michel
Foucaults Geschichte der Sexualität verpflichtet. Gegen die Auffassung von der
Sexualität als einer gleichsam natürlichen Kraft, die durch soziale
Verhältnisse eingeschränkt und unterdrückt werde, analysiert Foucault die
Geschichte von Macht-Wissen-Beziehungen, aus denen heraus die ‘Sexualität’ als
ein gesonderter Bereich von Vorstellungen und Praktiken entsteht. (Weigel,
691f.) 32. Ebenso wie das ‘Werk’ ist der ‘Autor’ in der Moderne
im Verschwinden begriffen – zusammen mit einer Aufwertung des Fragmentarischen,
mit programmatischen Grenzüberschreitungen zwischen ‘Kunst’ und ‘Leben’ und mit
dem Verzicht auf Originalität in Zitat und Intertextualität. Und mit dem Autor
verschwindet der Kritiker, der sich wiederum als Agent, wenn nicht als Schöpfer
des Autors versteht. Die feministische Literaturkritik, auf der Suche nach
weiblichen Autoren, ist damit in der paradoxen Situation, sich in dem Moment um
die weibliche Variante einer Instanz zu bemühen, da diese als allgemeine
obsolet geworden zu sein scheint. Eine Autorin ist jedoch insofern etwas
anderes als ein Autor, als sie aus dem Aufbegehren – oder auch dem praktischen
Zuwiderhandeln gegen den Ausschluss von Frauen aus dem Konzept ‘Autor’ und aus
der Opposition gegen daran gebundene Normen hervorgegangen ist. Viele
Autorinnen haben aus dieser Not eine Tugend gemacht, haben ästhetische Verfahrensweisen
jenseits des klassischen Werkbegriffs praktiziert, wie etwa Gertrude Stein.
Aufgrund des konzeptionellen Gegensatzes von ‘Weiblichkeit’ und konventionellem
Werkbegriff wird an das Weibliche nicht selten die Hoffnung auf Praktiken der
subversiven Dekonstruktion herrschender Bedeutungsstrukturen geknüpft, sind
viele Ästhetiken der Moderne, speziell der Avantgarde, mit einer Aufwertung des
‘Weiblichen’ verbunden. Dies geht jedoch nicht selten mit dem faktischen
Verschwinden der ‘Frau’ einher. Die Hoffnungen auf Möglichkeiten weiblichen Schreibens
jenseits der etablierten Ästhetiken hat die Rezeption der sogenannten
französischen Theorie in der Literaturwissenschaft wesentlich befördert. [Zu
Cixous, Irigaray und Kristeva: s.o.](Weigel,
692f.) 33. Die Geschichte weiblicher Autoren und ihrer Texte ist
voll der Widersprüche, die entstehen aus dem Begehren, Autor zu werden, und der
Unmöglichkeit, das Werk von sich abzutrennen. Als frühe Alternative zum
Werkbegriff findet man häufig die Ablehnung eines Kunstanspruchs: wenn die
Autorinnen des sogenannten Frauenromans im 18. und 19. Jahrhundert etwa in
ihren Vorreden immer wieder betonen, dass ihr Roman dem ‘Leben’ und nicht der
‘Kunst’ zugehöre. Solche Bestimmungen beziehen sich auf die Kongruenz von literarischen
Gesetzen und männlichen Subjektentwürfen. (Weigel, 693f.) 34. Ausgehend von der Beschreibung des
Natur-Kultur-Verhältnisses als Gegensatz von weiblich und männlich, schreibt
sich die Geschlechterdifferenz fort, so dass das Geschlechterverhältnis gleichsam
als Emblem der Kulturgeschichte
verstanden werden kann. Die Einsichten in den Zusammenhang von Sprache und
Geschlecht, die der strukturalen Psychoanalyse entstammen, sind bislang
hauptsächlich in subjektgeschichtlicher Dimension diskutiert worden: vor allem
hinsichtlich der Konflikte, die sich für weibliche Subjekte mit dem Eintritt in
die Sprache, in die herrschende ‘symbolische Ordnung’ ereignen. In
kulturgeschichtlicher Perspektive aber eröffnet sich ein anderes
Untersuchungsfeld, in dem es um den Zusammenhang von Geschlecht und kulturellem
Gedächtnis geht. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Städte in der
Literatur häufig als weiblich imaginiert werden, lassen sich verschiedene
Konstellationen in der Geschichte der imaginären Stadt untersuchen. Von
besonderem Interesse sind hier die Korrespondenzen zwischen topographischen
Metaphern in der Bilder-Sprache der Moderne und mythischen Urszenen. Sie lassen
die Hypothese zu, dass die konfliktreiche Beziehung der Geschlechter ein Archiv
von Metaphern ausgebildet hat, mit dem die tradierten Geschlechterverhältnisse
(unbewusst) reproduziert werden – mit ihnen aber auch die Erinnerung an eine
materielle und leibliche Vorgeschichte jener Konflikte, die heute oft als
‘innere’ erfahren werden. Insbesondere kehrt der Frauen-Leib als symbolisierter
Körper bzw. als sexualisiertes Sprachmaterial im Text oder Kunstprodukt wieder. (Weigel, 694f.) 35. Die feministische Perspektive ist politischen
Ursprungs; sie übernimmt vorhandene Ansätze und Verfahren, modifiziert sie und
ist an der Entwicklung neuer beteiligt, es gibt aber keine eigenständige oder verpflichtende feministische Methode. Die politische neue Frauenbewegung
der 1960er/70er Jahre und ebenso der akademische
Feminismus, der aus der politischen Aktion wichtige Impulse bezog, schöpfen
wesentliche Teile ihrer Antriebsenergie aus der Erkenntnis, dass die
gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufbrüche, die von Männern und Frauen
unterstützt werden und das Banner der Emanzipation vor sich hertragen, von der
Gleichberechtigung der Geschlechter nichts wissen wollen. Mit den verkrusteten
Verhältnissen wollen viele Frauen jedoch die verkrusteten
Geschlechterverhältnisse ändern. Feminismus ist ein moralisches und politisches
Projekt, eine Strategie zur Veränderung einer als ungerecht empfundenen
Gesellschaftsstruktur. (Zens, 151f.) 36. Die Literaturwissenschaftlerin Toril Moi geht von der
Triade female – feminine – feminist aus,
um auf die biologische, soziale, politisch-emanzipatorische Dimension
hinzuweisen. So ziehen weder biologisches ‘Frau sein’, noch die Erfahrung
sozial konstruierter Feminität notwendigerweise feministische Positionen nach
sich. Umgekehrt ist es patriarchale Strategie, biologische Weiblichkeit und
weibliche Geschlechtsrolle zu einem untrennbaren Ganzen zu erklären und damit
als natürliche Ordnung festzuschreiben. Feministinnen geht es um eine eigene
Wirklichkeit von Frauen in einer Umwelt, die kaum etwas anderes als entfremdete
Erfahrung ihrer Interessen und Bedürfnisse zulässt. (Kritik von ‘innen’)
Frühe Konzepte, die authentische Erfahrung und die erfolgreiche Suche nach
weiblicher Identität postulieren, sind inzwischen als naive, sozial- oder
geschlechtsromantische Vorstellungen zurückgedrängt worden. (Zens, 152) 37. Der Unterschied feministischer Literaturwissenschaft
liegt im Zugriff. (>C 1:
Literaturtheoretische Grundannahmen) Die Annahme, dass die Differenz der
Geschlechter als soziale Faktizität und symbolische Konstruktion konstitutiv
für die moderne Gesellschaft ist, lässt vermuten, dass auch Literatur und
Literaturwissenschaft in ihren relevanten Teilen davon nicht unberührt bleiben.
Dass diese Differenz asymmetrisch ist, d.h. mit der Unterordnung der einen
unter die anderen verbunden, legt als feministische Strategie nahe, die
Partialität der scheinbar objektiven, geschlechtsneutralen Wissenschaft zu
decouvrieren. Die Einsicht in den Konstruktionscharakter von Wissenschaft
ermöglicht auch die Kritik eines männlichen Blicks, der sich seiner Parteinahme
und Interessengebundenheit nicht bewusst ist und der feministischen Erweiterung und Korrektur bedarf. (Zens, 153) 38. (>Ziele/Perspektive)
Feministische Literaturwissenschaft konzentriert sich, vereinfacht gesagt, auf
zwei Fragestellungen: Was macht die Literatur mit der Frau (der
Geschlechterdifferenz)? Was macht die Frau (die Geschlechterdifferenz) mit und
in der Literatur? Dabei geht es zum einen – auf Literatur als semiotisches System bezogen – um die
literarisch konstruierten Sinnwelten, sowie Schreibweisen und literarischen Formen.
Zum anderen – auf Literatur als gesellschaftlichen
Handlungsbereich bezogen –um Geschlecht als sozial strukturierendes
Merkmal. Verbunden sind diese Perspektiven durch die Frage, wie Literatur als
Text und Handlung zur symbolischen Strukturierung, zur Konstitution eines
geschlechterdifferenten Kultursystems
beiträgt. Die Bereiche des ästhetischen und sozialhistorischen
Interesses sind zwar verklammert, erfordern aber unterschiedliche
Zugriffsweisen: eine Soziologie oder historisch-rekonstruierende Betrachtung kann auf Biographien, Zensurbestimmungen,
Verhältnisse des literarischen Marktes und die Diffusion sozialer Normen
angewendet werden, der Literarizität von Literatur wird sie nicht gerecht.
Literarische Texte sind immer Imaginationen
des Weiblichen; es geht nie um wirkliche Frauen, sondern um Konstruktionen
biologischer und sozialer Weiblichkeit, die die Freiheit der literarischen
Fiktionalität nutzen. Durch die Nicht-Refenrentialität unterscheiden sich
literarische Entwürfe von Weiblichkeit von anderen Diskursformen, über die sich
der historische Ort von Frauen erschließen ließe, wie Anstandsbücher,
Rechtsvorschriften, Modezeitschriften. (Zens, 153f.) 39. Die Begriffe Gleichheit
und Differenz markieren nicht nur
politische, sondern auch erkenntnistheoretische Fluchtpunkte feministischer
Forschung: Sind Frauen und Männer gleich oder unterschiedlich, sollen sie
gleichberechtigt sein, sollen sie gleich behandelt werden oder muss einer
biologischen oder sozialen Differenz Rechnung getragen werden, die eine
Gleichbehandlung geradezu ungerecht erscheinen lässt? Heißt Gleichheit, dass
Frauen so sind oder werden wie Männer oder gibt es den goldenen ‘dritten Weg’,
die gute Androgynität? Kompliziert wird es, wenn deskriptive (beschreibende) und präskriptive
(vorschreibende) Begriffe aufeinandertreffen oder abgeleitete Vorstellungen auf
essentialistische. Bei Differenz z.B. stellt sich die Bewertungsfrage: sind die
Unterschiede signifikant oder eher unwichtig?
(Zens, 154) 40. Zu sex und gender [s.o.]: Es geht immer um beides,
um Faktizität und Geltung: biologisches Geschlecht denotiert körperliche
Unterschiede, die mit einer gewissen statistischen Häufigkeit auftreten und
kategorisierbar sind. Das sagt aber noch gar nichts über die kulturelle
Behandlung dieser Unterschiede aus, die offiziell als Folge ausgegeben wird.
Die Kategorisierung biologischer Geschlechter ist ein konstruktives Verfahren,
das aus empirischen Befunden Regelmäßigkeiten und Normen ableitet. Auch das soziale Geschlecht besitzt unbestreitbare
Faktizität: geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist ein Faktum, ebenso, dass
die Geschichte der literarischen Produktion mehr schreibende Männer als Frauen
aufweist. Darüber hinaus aber kursieren auch gesellschaftliche Vorstellungen
über Geschlechtsrollen, die mit der faktischen Wirklichkeit wenig zu tun haben,
sie aber trotzdem als Normvorstellungen ordnen. Die Differenz, das Ausgeschlossene, ist Funktionsbedingung
für die Perpetuierung von Ordnung. Die Komplementarität
ohne eigene Position ist das Kennzeichen realer Frauen und der
Vorstellungen von Weiblichkeit in einer androzentrischen Kultur. Frauen
bewahren die hegemoniale Ordnung, indem sie als das Andere aus ihr
ausgeschlossen bleiben. Diese widersprüchliche Positionierung ist in die
literarische Produktion von Frauen eingeschrieben. (Zens, 155f.) 41. Zu den Klassikerinnen Woolf und Beauvoir [s.o]: Für
Woolf ist ökonomische Unabhängigkeit
und die Selbstbestimmtheit des ‘eigenen Zimmers’ Grundlage für die soziale und
intellektuelle Freiheit, die auch literarische Produktivität erst ermöglicht. Das Weibliche spielt in der Literatur eine bedeutende
Rolle, die Frau in der Literaturgeschichte aber keineswegs. Woolf formuliert keine spezifische weibliche
Kreativitätstheorie. (>Kritik von
‘innen’) Ihre Auffassung, der „große Geist“ sei androgyn, hat ihr harsche
Kritik von Seiten einiger Feministinnen eingetragen. Das Andere
Geschlecht von Simone de Beauvoir
ist eine umfassende Analyse der Funktion des Weiblichen in der bürgerlichen
Gesellschaft, die auf sozialistischer Gesellschaftskritik ruht. Als vom
Patriarchat konstruierte „Alterität schlechthin“ ist der Mythos Frau, das verdrängte des Patriarchats, Funktionsbedingung
und Garant der männlichen Machterhaltung. Die Frau erlangt keine
Eigenständigkeit, sie ist nicht als Selbst zu denken. Die Frau ist nicht nur anders, sondern dem Mann
nachgeordnet. Etwas Eigenes schaffen die Frauen nicht einmal in der Projektion.
Die Zweitrangigkeit der Frau, das Weibliche als soziale Funktion des männlichen
Machtanspruchs und den daraus resultierenden Ausschluss zeichnet Beauvoir in
den Denkordnungen der Psychoanalyse und des historischen Materialismus, in den
Sozialordnungen der Geschichte und in den mythischen
Weiblichkeitskonstruktionen der Literatur nach. (>Ziele/Perspektive)
Beauvoirs Literaturbetrachtung will die literarische Konstruktion des
patriarchalen Mythos Frau in der Relektüre kanonisierter männlicher Autoren
auffinden (Zens, 156ff.) 42. In der literaturwissenschaftlichen Tradition der
Interpretation einzelner Texte prosperierte vor allem in den USA in den 70er
Jahren die Analyse der Images of Women. Im Verfahren des close reading wird die dargestellte Welt
auf die Lebenswirklichkeit von Frauen bezogen. (Kritik von ‘innen’) Dieses
ideologiekritische Verfahren geht häufig von einem undifferenzierten
realistisch-didaktischen Literaturbegriff aus, der über der Freude, einen Autor
der Misogynie anklagen zu können, die Polyvalenz der Literatur außer acht lässt
und die Komplexität ihrer Beziehung zur Literatur übersieht. Die Images of Women-Kritik ist in erster Linie autor- und
textzentriert. Das Geschlecht des Verfassers literarischer Texte ist dabei
wichtig; zum einen wird Kritik an den Frauenbildern männlicher Autoren geübt,
zum anderen die Hoffnung gehegt, dass Schriftstellerinnen bessere oder
angemessenere Frauenfiguren zeichnen. Problematisch ist, wenn auf diese Weise
allzu kurzschlüssig Autorbewusstsein und literarische Frauenbilder ineins
gesetzt werden und nicht die literarisch konstruierte Sinnwelt, sondern die
mutmaßliche Gesinnung des Autors einer Prüfung unterzogen wird. Die
feministische Ideologiekritik geht in solchen Fällen von der Vorstellung einer
weiblichen Identität ‘hinter den Bildern’ aus, die sich im Stande der
Nicht-Entfremdung befindet und nur befreit werden müsse. So wenig sich ‘falsche’ von ‘richtigen’ Bildern separieren
lassen, so wenig lassen sich ‘gute’ an die Stelle von ‘bösen’ setzen, soll
nicht eine literarische Zensur etabliert werden. Kein ‘feministischer
Realismus’ der einen (Trübsinn des weiblichen Alltags) oder der anderen
(Superweib) Sorte. (Zens, 159) 43. Literarisch wurde die Forderung nach weiblicher
Authentizität in den 1970er Jahren durch die Frauenliteratur beantwortet. Darunter werden in der Regel die Texte
weiblicher Autoren gefasst, die sich mit dem Thema der Frauenemanzipation
auseinandersetzen. Die Vorstellung, weiblicher
Erfahrung eine Stimme zu verschaffen und über die Klammer der Betroffenheit eine Verbindung zwischen
Leserinnen, Autorinnen und auch Protagonistinnen literarischer Texte
herzustellen, prägt den Umgang mit Frauenliteratur. Die angenommene
Gemeinsamkeit weiblicher Erfahrung soll im identifikatorischen
Leseprozess zu einem gemeinsamen Bewusstsein führen. Von einem emphatischen Authentizitätsbegriff weitgehend
verabschiedet haben sich hingegen literar- und kulturhistorische Ansätze, die
ebenso auf fiktionale wie auf nicht-fiktionale Texte von Frauen als Quellen zurückgreifen. (Zens, 160) 44. Die feministische Literaturgeschichtsschreibung
versucht, eine Tradition weiblicher literarischer Produktion zu rekonstruieren.
Die Zahl der im Keller der Literaturgeschichte gefundenen weiblichen Leichen
wächst im Zuge dieser Bemühungen kontinuierlich. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Grundlage dieser Bemühungen ist, die Erfahrungen von Frauen
in ihrer Literatur aufsuchen zu wollen, den doppelten Ort für die Geschichte
der Geschlechterdifferenz erkenntnistheoretisch fruchtbar zu machen. Zunächst
ist die Herstory, der Versuch, eine Genealogie weiblichen Schreibens
aufzuzeigen, jedoch als andere Geschichte neben der History angelegt. (Kritik von ‘innen’) Erst im Laufe der
Zeit kristallisiert sich heraus, dass die Geschichte der Frauen kaum als eigene
Linearität nachgezeichnet werden kann, sondern als komplexe Verklammerung und
Relationalität geschrieben werden muss. Elaine Showalter hat mit Gynocritics dem männerfixierten Feminismus, der sich empört an
misogynen Autoren und Kritikern abarbeitet, ein Konzept entgegengestellt, das
als Grundlage einer methodischen und thematischen Konsolidierung Texte von
Frauen in den Mittelpunkt rückt. Sie versucht eine Rekonstruktion der
Geschichte des englischen Romans von Frauen entlang eines Dreiphasenmodells:
der ‘feminine phase’, die von Überanpassung an patriarchale Normen und
imitativem Schreiben geprägt ist, der ‘feminist phase’ als Phase des
politischen Protests, schließlich der ‘female phase’ als Phase der
künstlerischen Selbstfindung. Für die Geschichte der deutschen Literatur sind
Brinker-Gabler 1978 und 1988 sowie Gnüg/Möhrmann 1985 zu nennen. (>Verdienste) Wichtige Leistungen dieser
Unternehmen sind neben dem Nachweis, dass es durchaus eine – wenn auch
diskontinuierliche – Geschichte weiblichen Schreibens gibt, die Erkenntnis,
dass eine feministische Historiographie anders verfahren muss als eine traditionelle.
(Zens, 161) 45. Der Zugriff auf den Literaturkanon sichert die
Einflussnahme auf einen wesentlichen Teil der literarischen Sozialisation, die
in einer Gesellschaft geleistet wird. Eine wichtige Aufgabe sieht die feministische
Literaturgeschichte deshalb darin, den literarischen Kanon auf seine
Zusammensetzung zu befragen und Autorinnen einen Platz zu sichern. Außerdem
verbindet sich die feministische
Kanonrevision mit der Suche nach einer Tradition weiblichen Schreibens und
der Konstruktion einer Frauenliteraturgeschichte. Die Ausschlussverfahren des Literatursystems bestehen
nicht nur in Selektionsmechanismen, die in böswilliger Absicht Texte von Frauen
an den Rand drängen, sondern greifen im Vorfeld, indem sie die Bedingungen
weiblicher literarischer Produktion einschränken. Deshalb wenden sich die
Wissenschaftlerinnen zunehmend den Kanonisierungsstrategien und -prozessen zu.
(Zens, 162) 46. Eine Frauensozial- oder Kulturgeschichte geht über den
traditionellen Rahmen von Literaturwissenschaft hinaus. Die soziale und
symbolische Verfaßtheit der Geschlechter(differenz) rückt in den Blick. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Dem liegt die Annahme zugrunde, dass auch ein
ausdifferenzierter Bereich Literatur sich nicht unabhängig von anderen Faktoren
wie politischen und ökonomischen Bedingungen entwickelt, sondern in Interaktion
mit diesen. Das gilt für die vernetzten Teilgebiete literaturbezogenen Handelns
und seiner Institutionen – Entwicklung des literarischen Marktes,
Sozialstruktur des ‘literarischen Lebens’, Publizistik und Literaturkritik –,
aber auch für die literaturinternen: Entwicklung und Funktion ästhetischer
Präferenzen und Programme, von Schreibweisen, bevorzugten Stoffen und
literarisch verhandelten sozialen Normen. Eine sozialhistorische Topographie der Geschlechter wird
fragen, welche gesellschaftlichen und diskursiven Räume Frauen offen stehen,
welche ihnen verschlossen bleiben, welche ihnen gehören. Für den
Handlungsbereich Literatur hieße das beispielsweise für das 19. Jahrhundert zu
fragen, warum eigentlich – zugespitzt – Männer schreiben und Frauen lesen,
Autoren belletristische Texte für ein weibliches Lesepublikum verfassen, der
realen Leserin aber in ästhetischen Konzeptionen ein idealer männlicher Leser
entgegengesetzt wird. Was umgekehrt den Gegenstandsbereich Literatur und
literarisches Handeln für die Frauengeschichte und feministische
Kulturforschung prädestiniert, liegt auf der Hand: zum einen finden sich hier
tatsächlich Zeugnisse von Frauen, zum anderen spielen Frauenfiguren und die
Imagination von Weiblichkeit in literarischen Texten eine nicht unbedeutende
Rolle. Kulturelles Handeln scheint somit permissiver als andere
Gesellschaftsbereiche. Zugleich bedient sich der Kulturkampf um die Konstruktion
von Geschlechterdifferenz des Mediums der Literatur. Die Distinktion und
Selbstpräsentation von Klassen und Gruppen in der bürgerlichen Gesellschaft
verläuft in wesentlichen Teilen über diese kulturellen Praktiken. Was läge also
näher, als diese Erkenntnisse zu verbinden? (Zens, 168f.) 47. Wurde feministische Literaturwissenschaft
programmatisch definiert, dann in einer Ambivalenz von Marginalisierung und
universellem Anspruch. (>Kritik von
‘innen’) Als Wegweiser der Lektüre bilden Frauenbild und Frauenliteratur
eine erhebliche Einschränkung dessen, was überhaupt lesbar ist. Die Literatur
bleibt ein gegebener Gegenstand, der nur aus einer anderen Perspektive
betrachtet werden soll, in den Blick kommen darüber hinaus lediglich Texte, die
unter diesen eingegrenzten Fragen überhaupt bearbeitet werden können.
„Unlesbar“ sind dagegen alle Texte, die nicht an einen Autor gekoppelt werden
können, unlesbar sind Texte, die nicht narrativ und ohne Figurationen
gearbeitet sind. Statt eine Erweiterung des Literaturbegriffs zu initiieren,
führen diese Termini also zu einer Einengung; sie rekurrieren auf eine
Kategorie, die spätestens seit der literarischen Moderne obsolet geworden ist:
der Autor als mit sich selbst identisches und damit identifizierbares Subjekt,
der seinen Intentionen schreibend Ausdruck verleiht. Folgerichtig wird auch der
literaturwissenschaftliche Text als Spiegelung dessen angesehen, was das
literarische Werk gemäß den Intentionen seines Autors als Substanz enthält. Statt die Konstitutionsbedingungen des
„Gegenstandsbereiches“ zu analysieren und zu fragen, wie und warum die
Differenz der Geschlechter in diese eingeschrieben ist, wird die Differenz noch
ein weiteres Mal bestätigt. Die Definition einer Frauenliteratur treibt die Affirmation auf die Spitze, weil damit
die vermeintliche Randständigkeit des Schreibens von Frauen so präzise wie nie
zuvor festgeschrieben worden ist. (Hahn, 227f.) 48. Feminismus ist gegenwärtig ein negativ konnotierter
Begriff. Er markiert die Grenze dessen, worüber man sich ungestraft Gedanken
machen darf. Wer das Wort ohne Distanzierung in den Mund nimmt, steht unter
Ideologieverdacht. (Hahn, 228) 49. Nimmt man das gesamte Spektrum feministischer
Annäherungen in den Blick, dann zeigt sich eine große Vielfalt. Es wird anders
gelesen, und es werden andere Texte gelesen. Die interessanteste Tendenz jedoch
könnte man folgendermaßen benennen: Es werden andere Texte anders gelesen. Neu ist, dass Texte, die in überkommenen
Überlieferungsrastern schwer tradierbar waren, nun kritisch und kommentiert
herausgegeben werden. Mit diesen Arbeiten wird neues Terrain erschlossen: Im
Kanon der deutschen Literatur hatten zuvor nur wenige Schriftstellerinnen einen
Platz. Die Desiderate sind jedoch noch enorm. Nur ein Beispiel:
Die „Frauen der Romantik“ spielen in der Literaturgeschichtsschreibung bis
heute eine wichtige Rolle – als Topos, nicht jedoch als Lektüregegenstand.
(Hahn, 230ff.) 50. Die Geschichte von Frauen in den
Literaturwissenschaften harrt nach wie vor der Rekonstruktion. Im Blick auf
unsere Vorgängerinnen zeigt sich, dass auffallend viele mit erstaunlicher
Selbstverständlichkeit über Schriftstellerinnen gearbeitet haben. Oft stammen
die ersten monographischen Arbeiten über deren Texte von Frauen. Ähnliches gilt
für editorische Arbeiten und für kulturtheoretische Entwürfe von Weiblichkeit. Hartnäckig hält sich die Vorstellung, dass entscheidende
Paradigmen feministischen Denkens erst im Kontext der neuen Frauenbewegung
entwickelt worden seien. Das ist durchaus falsch, wie die Arbeiten von
Margarete Susman und Alice Rühl-Gerstel zeigen. In der Geschichtsschreibung neuerer feministischer
Literaturtheoriebildung lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten. Über
immer neuen Theorieimporten bleiben Texte ungelesen, die dieses theoretische
Feld hierzulande schon bearbeitet haben. (Hahn, 232ff.) 51. Bislang wurden nur wenig Schriftstellerinnen Bücher
gewidmet. Biographische Studien überwiegen eindeutig. (>Kritik von ‘innen’) Nach wie vor wird nicht das Werk, sondern das
Leben schreibender Frauen in den Mittelpunkt gestellt. Die erschienenen Bücher
bestätigen die Vorstellung, wonach das Leben von Frauen unmittelbar deren Leben
spiegle. Vorausgesetzt wird eine vermeintliche Einheit von Leben und Schreiben,
die die Biographin identifizierend weiterschreibt. Die Texte dienen als Beleg
oder Illustration für die Thesen der Biographin. (Hahn, 234) 52. Das Grundanliegen der Dekonstruktion liegt vor allem
darin, die traditionellen Oppositionsbegriffe der abendländischen Metaphysik zu
destabilisieren. Von den metaphysikkritischen Intentionen der Dekonstruktion
bis zur Geschlechtertheorie der feministischen Literaturwissenschaft ist es
daher nur ein Schritt. Denn so wie Derrida die Geschichte der Metaphysik als
die des logozentrischen Denkens begreift, so erkennt die feministische
Literaturtheorie in der Geschichte der Philosophie und der Literatur einen
Phallozentrismus, einen Diskurs also, der von Männlichkeitsbildern bestimmt
wird, innerhalb derer das Weibliche nur als das ganz Andere zur Erscheinung
kommen kann. Ein Hauptanliegen der feministischen Literaturtheorie liegt daher
darin, das Andere des Weiblichen ale eine längst fällige Korrektur am
Phallozentrismus zur Geltung zu bringen, indem sie zum einen auf die spezifisch
weiblichen Züge der Schrift eingeht und zum anderen die sozialen,
institutionellen und politischen Herrschaftsmechanismen des männlichen
Diskurses nachweist. (Geisenhanslüke, 113) 53. Wichtige Ansätze zu einer feministischen
Literaturwissenschaft hat schon die Kritische Theorie geliefert. Wie Bovenschen
anhand der Literatur des 18. Jahrhunderts zeigt, enthüllt sich diese Geschichte
zum einen als die der Abwesenheit der realen Frauen und zum anderen als die
männlich imaginierter Frauenfiguren.(Geisenhanslüke, 113) 54. Die bedeutendsten Vertreterinnen der feministischen
Literaturtheorie, Cixous, Irigaray und Butler, greifen auf Lacan, Derrida und
Foucault zurück. Irigaray. In Speculum wendet sie sich gegen Freuds
Phallozentrismus, die einseitige Orientierung seiner Thesen zur Sexualität am
Vorbild des männlichen Geschlechts im Rahmen seiner umstrittenen Theorie des
Penisneids. Dem stellt Irigaray eine Theorie entgegen, die auf der
Eigenständigkeit des weiblichen Geschlechts beharrt. Dabei orientiert sie sich
am Vorbild der weiblichen Schamlippen als Grund des nichtphallischen weiblichen
Geschlechts. Sie begreift Weiblichkeit in einem übertragenen Sinne zugleich als
Dekonstruktion der männlichen Logik der Repräsentation. Es kommt darauf an, das Weibliche in seiner Eigenständigkeit
zur Geltung kommen zu lassen. Damit bahnt Irigaray zugleich den Weg für eine
kritische Analyse, die nach der Ordnung des Weiblichen in der Literatur fragt.
(Geisenhanslüke, 113f.) 55. Cixous. Sie
lässt sich vom Begriff einer écriture
feminine, eines „weiblichen Schreibens“ leiten, mit dessen Hilfe sie die
Opposition Mann/Frau zu dekonstruieren sucht. In Nähe zu Positionen Derridas
untersucht C. die Ökonomie des männlichen Diskurses als einer Aneignungsmacht
und stellt dem das weibliche Prinzip des Annäherung gegenüber. Weibliches
Schreiben bestehe in der Verbindung beider Ökonomien, die den Grund der
sexuellen Differenz zum Ausdruck bringe. (>Kritik) Die
relativ schematische Gegenüberstellung der Weiblichkeit als einem Prinzip des
Offenen, Pluralen, Fließenden und Lebendigen gegenüber der männlichen Rigidität
beeinträchtigt die innovativen Grundlagen von Cixous’ Ansatz. Gefahr einer
Mystifizierung, die Freuds Phallozentrismus zwar außer Kraft setzt, zugleich
jedoch die kritische Frage stellt, ob die Bestimmung des Weiblichen als das
ganz Andere des männlichen Diskurses ausreichen kann. (Geisenhanslüke, 114f.) 56. Butler. Ihre
Ausgangsfrage lautet: „Ist ‘weiblich sein’ eine ‘natürliche Tatsache’ oder eine
kulturelle Performanz?“ (Butler 1991, 9) Ihr Ziel ist es, die Geschichte des
Geschlechterbegriffs zu rekonstruieren. Es sei insbesondere die Unterscheidung zwischen der
biologischen Kategorie sex und der
kulturellen Kategorie gender, die
eine Spaltung ins weibliche Subjekt eintrage und es somit verbiete, in
traditioneller Weise von einem „Subjekt“ der Weiblichkeit zu sprechen. Vielmehr
deute die Diskontinuität von sexuell determinierten Körpern und kulturell
bestimmtem Geschlecht darauf hin, dass die Geschlechtsidentität (gender) eine
kulturelle Konstruktion sei. Wieviel Butlers Theorie dem späten Foucault
verdankt, zeigt sich darin, sie das
Geschlecht letztlich als einen Effekt diskursiver Praktiken begreift, die so
etwas wie die Rede von weiblicher Identität überhaupt erst ermöglichen. Es ist
nicht der Nachweis einer „weiblichen Identität“ oder auch der „weiblichen
Differenz“, der Butler leitet, sondern die Infragestellung der binären
Kategorien männlich/weiblich als Grundlage der Kulturgeschichte.
(Geisenhanslüke, 115) 57. (>Kritik)
Die Grenzen dieses Ansatzes zeigen sich in der Auseinandersetzung mit
literarischen Texten. Ausgangspunkt ihrer Antigone-Analyse ist die Frage nach einer feministischen
Position, die Antigone im Streit mit Kreon verkörpere und die gegen den
männlich regierten Staat gerichtet sei. Butler sucht dabei letztlich vor allem
eine kritische Auseinandersetzung mit Hegel, Lacan und Irigaray, um ihre eigene
Position zu markieren. Das führt zu einer Kritik an der Heterosexualität, die
an der Figur der Antigone festgemacht wird. Wie schon Lacan vollzieht Butler
damit eine Tendenz zur Erotisierung der weiblichen Heldin der Tragödie. Über
Lacan hinaus geht Butler zwar, wenn sie Antigones unbewusstes Verlangen als ein
lesbisches darstellt. Die philologische Frage, ob der Antrieb für Antigones
Handeln letztlich wirklich dem eros
oder nicht doch der familiär gebudnenen philia
entspringt, bleibt dagegen weitgehend unberücksichtigt. Kluft zwischen den
Ansprüchen der Theorie und denen der Literatur. (Geisenhanslüke, 115f.) |