7.05 Vorgehensweise/Anwendung
1. (Zu 2.5) Fontanes Effi
Briest gilt als einer jener Ehebruch-Romane des 19. Jahrhunderts, die das
Schicksal von Frauen in einer männlich dominierten, patriarchalischen
Gesellschaft, also den Objekt- und Opfer-Status weiblich sozialisierter Subjekte,
besonders eindringlich vorführen. Gerade hier lässt sich jedoch ein Subtext
entziffern, der das Verhältnis von aufgezwungener Rolle und darunter liegendem
weiblichen Subjekt nicht nur auf der Figurenebene in Frage stellt, sondern auch
die narrative Strategie verdeutlicht, die diese Leseweise gesteuert hat. So gibt der Erzähler Effi unmerklich als ein aus den
‘Händen der Natur’ hervorgegangenes Produkt aus. Die ‘Natur’, d.h. das, was
Effi angeblich ohne gesellschaftliche Konvention „ist“, erweist sich als eine Konstruktion, mit der Weiblichkeit
projiziert, hergestellt und wirkungsvoll inszeniert wird. Zahlreiche
Interpreten reproduzierten das Bild vom unschuldigen Naturkind Effi, dessen
ursprüngliches „Leben“ im Verlauf des Romans entfremdet, zerstört und den
gesellschaftlichen Verhältnissen geopfert wird. Fontane ist so insgeheim selbst
an der Konstruktion von Weiblichkeit beteiligt, indem er darauf all jene Bilder
projiziert, die seine Frauenfiguren als eine durch Gesellschaft geopferte
‘Natur’ kennzeichnen. (>Literaturtheoretische
Grundannahmen) Eine von Geschlechtervorstellungen freie Perspektive ist
nicht denkbar. Eine geschlechtsspezifisch orientierte Lektüre geht vielmehr
davon aus, dass jede Subjektkonstruktion immer schon und von Anfang an mit der
Konstruktion geschlechtlicher Identität verknüpft ist. (Erhart, Herrmann,
503f.) 2. (Zu B 2.13) Man kann sich bei der Analyse von Effi Briest auch fragen, welche
unterschiedlichen Positionen von Männlichkeit etwa der Ehemann Geert von
Instetten, der Ehebrecher Major von Crampas und Effis Vater einnehmen oder
welche Positionen ihnen von den Figuren ihres Umfeldes zugeordnet werden. Auch
die Geschlechtlichkeit Instettens ist kaum thematisiert worden, ebenso wenig
die Strategien Effis, seine Zuneigungen und Zärtlichkeiten abzuwehren. (Erhart,
Herrmann, 513) 3. (zu B 2.14) Weiblichkeit und Sexualität lassen sich
auch in Effi Briest nicht eindeutig
zuordnen, sondern werden von Bewegungen durchkreuzt, aufgrund derer jede
Ordnung der Geschlechter nur als zeitlich befristetes Oberflächen-Arrangement
sichtbar wird, das durch eine genaue Lektüre seine Instabilität immer aufs neue
enthüllt. 4. (Zu B 2. 27) Felmans Interpretation von Balzacs Adieu und dessen Rezeption geht von der
These aus, dass in Balzacs Text ‘Frau’ als das Andere, als Differenz
eingeschrieben ist, aber nicht als das Andere des Mannes, sondern als das
Radikal-Andere und so die blinden Flecken der männlichen Lektüre hinsichtlich
der Differenzbildung literarischer Texte herauszustellen vermag. Felman fragt
danach, wie sich das Denken aus der Logik der binären Oppositionen wie z.B. Identität/Differenz befreien kann, denen
die Opposition Mann/Frau sowie eine
Hierarchisierung der Pole entspricht, die die männliche Seite positiviert und
die weibliche abwertet. Felman führt nicht nur das Fehlgehen der männlichen
Lektüre der Frau im literarischen
Text vor, sondern auch das Fehlgehen der Lektüre des Textes durch männliche
Literaturwissenschaftler, die Adieu
zum paradigmatischen realistischen Text gemacht haben. Sie kaprizieren sich auf
den zweiten Textteil und eskamotieren so die anderen Textteile, die mit ihren
phantastischen Anklängen das realistische Paradigma stören. Nicht durch Balzacs
Text, sondern durch diesen ‘männlichen Realismus’ wird Frau zur Nicht-Existenz.
Balzacs Adieu – so die These Felmans
– ist klüger als seine Kritiker, weil er sichtbar macht, wie das
Geschlechterarrangement funktioniert, und thematisiert, wie sich Frau unter dem
männlichen Blick erstellt: Als Wahnsinn nämlich, als Nicht-Mensch, als
Spiegelbild des Mannes. Balzacs Text führt vor, inwiefern die männliche
Selbstkonstitution eine narzißtische ist, in der die Frau als Bestätigung für
den Mann, als sein Spiegelbild, funktioniert, durch das der Mann sich zu
definieren vermag. Weil die Selbstidentität des Mannes auf der Verdrängung des
Weiblichen beruht, ist sie eine metaphorische, genauso wie Weiblichkeit keine
natürliche, sondern eine rhetorische Kategorie ist und damit an bestimmte
soziokulturelle Stereotypen gebunden. Die wirkliche Bedeutung metaphorischer
Weiblichkeit ist männliches Eigentum: Die Frau ist Glorie des Mannes und das
Maß seines Narzissmus. Der Test Balzacs unterläuft aber die
Repräsentationslogik, indem er Philippes Glauben wie den der „realistischen
Kritiker“ an Identität, Referenz und eine transparente, kommunikative Sprache,
wo alles eine Bedeutung hat, ein Signifikat auf ein Signifikat und einen
Referenten verweist, hinterfragt. Die feministisch-dekonstruktive Lektüre des
Textes durch Felman restituiert das beunruhigende Potential und die kritischen
Fragen des Textes. |