8.02 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze
1. Die Literaturwissenschaft gilt als Prototyp einer
hermeneutischen Wissenschaft, d.h. einer Disziplin, in der das ‘Verstehen’ als
Methode der Textauslegung eingesetzt wird. Allerdings hat der Siegeszug der
Naturwissenschaften dazu geführt, dass sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
eine Reihe von ursprünglich hermeneutischen Disziplinen zu empirischen Wissenschaften
gewandelt hat; dies gilt für die Psychologie, Soziologie, Pädagogik, in denen
seither das intersubjektiv systematische Beobachten und Erklären im Vordergrund
stehen. Die empirisch-konstruktivistische Konzeption einer
Literaturwissenschaft postuliert, dass eine vergleichbare ‘Empirisierung’ auch
für die Erforschung von Literatur möglich, sinnvoll und nützlich ist. Dadurch
wird eine Vernetzung mit den empirischen Sozialwissenschaften angestrebt, die
deren Empiriebegriff auch für die literaturwissenschaftliche Analyse zu
adaptieren versucht und so die Literaturwissenschaft in einer empirischen
interdisziplinären Kommunikations- bzw. Kulturwissenschaft etablieren möchte.
(Groeben, 619) 2. Nach diesem Wissenschaftsverständnis gibt es auch im
Bereich literaturwissenschaftlicher Analysen eine Fülle von Sätzen, deren
Geltung nicht (nur) mit der Zugangsweise des Verstehens ‘geprüft’ werden
sollte. Dazu gehören Sätze wie die folgenden: (1) Ein bestimmtes Textgenre (z.B. der Kriminalroman) ist
durch ein konstitutives Inhaltsmerkmal (z.B. Sieg des Guten über das Böse)
und/oder Strukturmerkmal (z.B. Problemauflösung vom Schluss her)
gekennzeichnet; und dieser Textinhalt bzw. dieses Strukturmerkmal wirken auf
die Rezipienten in einer bestimmten Weise (z.B. ‘mit den Ungerechtigkeiten des
Alltagslebens versöhnend’ bzw. ‘entspannend durch Spannungsaufbau und
-lösung’). (2) Die Literaturkritik (z.B. der 70er Jahre) hat das Werk
eines bestimmten Literaten (z.B. Uwe Johnson) auf eine bestimmte Lesart (z.B.
‘Dichter des zweigeteilten Deutschlands’) festgelegt. Solche Sätze können in unterschiedlichen Zusammenhängen
vorkommen: in einer Gattungsexplikation oder Analyse literarischer Wirkung und
Wertung sowie in der Erforschung von Institutionen des Literatursystems (z.B.
der Literaturkritik). Die klassisch-hermeneutische Analyse versucht nun, die
Geltung solcher Sätze dadurch zu belegen, dass ‘Daten’ aus der Textrezeption
des analysierenden Wissenschaftlers angeführt werden. Dies erscheint aus
empirisch-konstruktivistischer Sicht als methodisch unzureichend; denn Texte
generell (und literarische allemal) können auf verschiedene Art und Weise
rezipiert werden, so dass durch dieses Vorgehen keine zureichend
intersubjektive Erkenntnis gesichert werden kann. Der Grund dafür liegt in der
(kognitiven) Konstruktivität der menschlichen Informationsverarbeitung (auch
und gerade von in literarischen Texten transportierten ‘Informationen’). Bei
der kognitiven Verarbeitung von Informationen werden Bedeutungen eben nicht nur
rezipiert, sondern auch aktiv geschaffen (konstruiert), bis der Text einen für
den Leser kohärenten Sinn ergibt. (Groeben, 619f.) 3. Was bedeutet
‘empirisch-konstruktivistisch’? Die
Kernannahme der aktiven Konstruktivität menschlicher Informationsverarbeitung
ist innerhalb und außerhalb der Literaturwissenschaft entwickelt worden.
Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Theorie handelt es sich dabei vor
allem um Modelle der Rezeptionsästhetik und Semiotik, die die Mehrdeutigkeit
und Offenheit des Kunstwerks herausgestellt haben. Diese Polyvalenz des
literarischen Texts kommt dadurch zustande, dass er durch eine Reduzierung
rezeptionssteuernder Komponenten gekennzeichnet ist, durch die sich für den
Leser verschiedene, aber in sich kohärente Bedeutungen ergeben können. Folglich
ist der Rezipient ein notwendiger ‘Vollender’ des Kunstwerks (Eco), und seine
(produktive) Rezeption wird zur ‘bedeutungskonstitutiven Instanz’ (Schmidt).
Damit wird der essentialistisch-ontologische Textbegriff der klassischen
hermeneutischen Textauslegung in Richtung auf einen ‘funktionalen’ Textbegriff
überwunden, der immer die Bedeutung eines Textes für einen Rezipienten in einer bestimmten Situation
bezeichnet. Gestützt wird diese Perspektive auch durch empirische Ergebnisse
und Theorien in der (kognitiven) Textwissenschaft sowie Sprach- und
Denkpsychologie. Hier konnte bereits für nichtliterarische Texte gesichert
werden, dass die Rezeption immer aus einem aktiven Zusammenfügen von im Text
übermittelten Informationen mit dem Weltwissen des Lesers besteht, d.h. einer
Bedeutungskonstruktion, die für ihn ‘Sinn macht’. Diese Konstruktivität gilt
für literarische Texte in noch stärkerem Maße. (Groeben, 620f.) 4. Die empirische Literaturwissenschaft zieht aus dieser
Kernannahme eine radikalere Folgerung als die Rezeptionsästhetik, die an der
hermeneutischen Methodik festhält. Dagegen fordert die empirische Position, die
Textrezeption intersubjektiv-systematisch zu erforschen. Der Unterschied
zwischen der hermeneutischen Methode des Verstehens und der empirischen
Systematik soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Gegeben sei die Hypothese, dass die ‘Helden’ in
Kriminalromanen so geschildert werden, dass entweder ‘sympathetische’ oder
‘bewundernde’ Identifikation ausgelöst wird (bzw. werden soll). Eine
hermeneutische Analyse würde nun – idealtypisch – so vorgehen, dass sie
besonders symptomatische Beispiele von Kriminalromanhelden (zum einen
‘unvollkommene alltägliche Helden’, zum anderen ‘vollkommene Helden’) auswählt
und an diesen verdeutlicht, dass ein entsprechendes Identifikations’angebot’
vorliegt. Die empirisch-systematische Inhaltsanalyse geht dagegen sehr viel
analytischer vor. Zunächst wäre eine repräsentative Stichprobe von
Kriminalromanen auszuwählen. Sodann zerlegt die Inhaltsanalyse die ausgewählten
Kriminalromane in einzelne Analyseeinheiten und ordnet diese bestimmten von der
Hypothese abgeleiteten Kategorien zu. Auf diese Weise wird geprüft, ob der
Inhalt der Kriminalromane in der Tat (überzufällig)
häufig die von der Hypothese postulierten Merkmale aufweist. Als
Analyseeinheiten könnten z.B. (relativ formal) einzelne Abschnitte der
jeweiligen Romane angesetzt werden; es sind aber gegebenenfalls auch
inhaltlich-thematische Festlegungen möglich. Als Kernstück des inhaltsanalytischen
Vorgehens ist die Ableitung der Kategorien anzusetzen, anhand deren in diesem
Fall das ‘Identifikationsangebot’ der Texte systematisch erfasst werden kann. Die einzelnen Analyseeinheiten werden systematisch den
explizierten Bedeutungskategorien zugeordnet, und zwar von mindestens zwei
Personen; die Intersubjektivität dieser Zuordnung ist durch eine
Übereinstimmungsmessung auch quantitativ ausdrückbar. Anhand der Ergebnisse
lässt sich feststellen, ob – wie theoretisch behauptet – vor allem
Analyseeinheiten mit sympathetischer und bewundernder Identifikation auftreten
oder nicht; die Zufälligkeit bzw. Überzufälligkeit der quantitativen Relationen
wird durch sogenannte interferenzstatische Tests geprüft. (Groeben, 621f.) 5. Darin kommt der zentrale Unterschied zwischen dem
hermeneutischen und dem empirisch-systematischen Vorgehen zum Ausdruck. Die
hermeneutische Methode besteht vor allem darin, ‘positive’ Beispiel für die
jeweilige Hypothese herauszusuchen, anzuführen und in einer dem Einzelfall
angemessenen Komplexität zu diskutieren. Demgegenüber ist die
empirisch-systematische Methodik darauf ausgerichtet, auch die ‘negativen’
Daten, die nicht der Hypothese entsprechen, zu berücksichtigen – entsprechend
Poppers Falsifikationsprinzip. Damit ist in der empirischen Literaturwissenschaft eine
Perspektive verbunden, die alle mit literarischen Texten in Verbindung
stehenden Handlungsprozesse in den Mittelpunkt stellt. Als solche hat vor allem
Schmidt die Handlungsrollen der Produktion, Rezeption, Verarbeitung und
Vermittlung von Literatur eingeführt. Dabei repräsentieren er und seine
Mitarbeiter jenen Strang der ‘Empirisierung’ der Literaturwissenschaft, der von
der Theoriebildung ausgeht; komplementär dazu hat Groeben die Grundlegung der
konstruktivistischen Wissenschaftskonzeption von der Entwicklung empirischer
Methoden aus konzipiert. (Groeben, 622) 6. Handlungsrollen
im Literatursystem. Die Forschung der Empirischen Literaturwissenschaft
bezieht sich vor allem auf die genannten vier Handlungsrollen, wobei die
Erforschung der Textrezeption wegen ihrer theoretischen Bedeutung besondere
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Unter dem Aspekt der Produktion herrscht
bislang noch die psychologisch ausgerichtete Erforschung der Persönlichkeit und
Kreativität des Autors vor. Dabei konnte gesichert werden, dass sowohl die
Genie-Irrsinn- als auch die Neurose-Theorie der Kreativität nicht als adäquat
anzusehen sind. Literarische Kreativität entsteht nicht durch ‘Irrsinn’ bzw. ‘Neurose’, sondern höchstens trotz solcher Belastungen. Allerdings
ist die kreative Persönlichkeit als eine paradoxale zu beschreiben, in der sich
psychopathologische Belastungen und ‘gesunde’ Vitalität und Bewusstheit
konstruktiv verbinden. Prozessanalysen der Produktion sind dagegen unter
Rückgriff auf Berichte und Reflexionen von Literaten bisher eher unsystematisch
(hermeneutisch) als inhaltsanalytisch empirisch vorgenommen werden. Das gleiche
gilt für Analyse der Produktionsvoraussetzungen einzelner Werke. (Groeben,
622f.) 7. Die Kernannahme der kognitiv-konstruktiven
Textverarbeitung konnte – bezogen auf die Rezeption literarischer Texte –
durchweg empirisch bestätigt werden: so die von Schmidt aufgestellte These,
dass die Rezipienten an literarische Texte nicht das sonst übliche
‘Wahrheits’kriterium anlegen und verschiedene in sich kohärente Bedeutungen
generieren bzw. zumindest tolerieren. Die Konstruktivität der Informationsverarbeitung macht es
notwendig, die Rezeption als eine Text-Leser-Interaktion zu modellieren, für
die der Leser ein erhebliches Gewicht besitzt. Dass Leser an literarischen
Texten heraussuchen, was für ihre Lebensproblematik bedeutsam ist und es mit
ihrem Welt- bzw. Alltagsverständnis zusammenfügen, hat sich immer wieder
nachweisen lassen. Über die individuellen Lesemerkmale hinaus konnten als
übergreifende Einflussfaktoren vor allem relativ formale Variablen gesichert
werden wie Alter, damit zusammenhängende Lesekompetenz, verbale Intelligenz und
die Deutschnote. Auch für die Geschlechtsvariable konnte ein Einfluss nachgewiesen
werden. (Groeben, 623) 8. Doch auch der Textfaktor ist für die durchschnittliche
Rezeption relevant. Einzelmerkmale allerdings, wie die Ich- oder die
Er-Erzählform, die in der hermeneutischen Literaturwissenschaft ausführlich
diskutiert werden, fallen nicht ins Gewicht. Komplexere Merkmale jedoch wie
Äquivalenzen, Abweichungen oder Mehrdeutigkeiten spielen für den
Poetizitätseindruck eine Rolle. Prosa wird z.B. durch zu viele Metaphern und
Wiederholungen als ‘überpoetisiert’ empfunden, durch zu abstrakte Ausdrücke
oder Fachsprache als ‘unterpoetisiert’. Textteile, die für die Rezeption
zentral sind, lassen sich als Abweichungen/Parallelitäten auf den Niveaus der
Phonologie, Grammatik und Semantik feststellen. (Groeben, 623f.) 9. Unter dem Aspekt der Verarbeitung und Wirkung
literarischer Texte unterscheidet die Empirische Literaturwissenschaft
dezidiert zwischen Textinhalt/-struktur als Wirkungspotential und der davon
beeinflussten, aber nicht vollständig determinierten Wirkung. Denn die
(kognitive) Konstruktivität der Rezipienten hat eben zur Folge, die Wirkungspotentiale von Texten in ihrer
Richtung verändert bzw. sogar gebrochen werden können. Um die Textinhalte und
-strukturen zu sichern, verwendet die Empirische Literaturwissenschaft die
schon erwähnte Methode der Inhaltsanalyse. Mit ihr lassen sich Einzeltexte
untersuchen, aber auch Textkategorien, historische Entwicklungen und die Frage
nach der Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität in der Literatur.
(Groeben, 624) 10. Unter der Vermittlungsperspektive sind für die
Empirische Literaturwissenschaft die Ergebnisse der klassischen
psychologisch-soziologischen Forschung zur Lesemotivation von besonderer
Bedeutung. Sie verweisen auf eine schichtspezifische Verteilung: Angehörige der
Mittelschicht entwickeln eine stabilere Lsemotivation als Angehörige der
Unterschicht. Elternhaus, Schule und die jeweilige Peer-group lassen sich dabei
als zentrale Vermittlungsinstanzen nachweisen. Für die Instanz der
Literaturkritik hat sich vor allem die Vernetzung mit anderen politischen bzw.
weltanschaulichen Überzeugungen sichern lassen. (Groeben, 625) 11. Mit der Empirisierung der Literaturwissenschaft ist
eine Veränderung der Schwergewichte literaturwissenschaftlicher Forschung
verbunden, und zwar gleichgültig, ob man von einer Ersetzungs-, Ergänzungs-
oder Integrationsrelation zur hermeneutischen Literaturwissenschaft ausgeht. Die Empirisierung der Literaturwissenschaft bietet den
Vorteil einer stärkeren Vernetzung mit den übrigen empirischen
Sozialwissenschaften; und es spricht viel dafür, dass die Literaturwissenschaft
nur im Rahmen einer solchen interdisziplinären empirisch-kommunikations-wissenschaftlichen
bzw. -kulturwissenschaftlichen Konzeption ihr Gewicht wird bewahren können.
(Groeben, 625f.) 12. Während sich die hermeneutisch orientierte
Rezeptionsforschung um eine Verknüpfung von Werk- und Rezeptionsanalyse
bemühte, hat die Empirische Literaturwissenschaft eine radikale Trennung von
Werk und Aneignung vorgenommen. Wie die empirisch orientierte Literatursoziologie
etwa Fügens, so will auch sie keine Aussagen über die ästhetische Qualität von
Texten machen, sondern ausschließlich ihre kommunikative
Funktion untersuchen. Die Empirische Literaturwissenschaft will kein empirisch
verfahrender Zweig innerhalb der herkömmlichen Literaturwissenschaft sein,
sondern die Disziplin dadurch neu begründen, dass sie die Verfahrensweisen der
empirischen Sozialforschung auf die Analyse literarischer Kommunikation
überträgt. Die Eigenständigkeit wird äußerlich durch die Großschreibung des
Adjektivs ‘Empirisch’ zum Ausdruck gebracht. ‘Empirisch’ bedeutet dabei im
Sinne des Kritischen Rationalismus und der analytischen Wissenschaftstheorie,
dass Aussagen grundsätzlich durch Erfahrungen überprüfbar und falsifizierbar sein
müssen. Damit verbunden sind der Anspruch auf Anwendungsorientierung und ein
hohes Maß an Exaktheit in Begriffen und Definitionen, die zu einer starken
Formalisierung der Sprache führt. (Schöttker, 552f.) 13. In Deutschland wurde die Empirische
Literaturwissenschaft 1972 von Norbert Groeben begründet. Sie hat 1980 mit dem Grundriß der Empirischen
Literaturwissenschaft vonSiegfried
J. Schmidt ein umfassendes theoretischen Fundament bekommen, ist aber
keineswegs abgeschlossen. Während die theoretischen Entwürfe durch Systematik
und Genauigkeit beeindrucken und für die hermeneutische Literaturwissenschaft
zweifellos eine Bereicherung darstellen können, haben die bisherigen Erträge
empirischer Untersuchungen für den außenstehenden Betrachter eher begrenzten Wert,
da sie vor allem der internen Theoriebildung dienen und kaum neue Einsichten in
Textstrukturen oder Rezeptionsweisen vermitteln. Doch könnten Anspruch und
Grenzen der Empirischen Literaturwissenschaft nur im Rahmen eines neuen
Positivismusstreits geklärt werden. (Schöttker, 553) 14. Es gibt auch innerhalb der Empirischen
Literaturwissenschaft unterschiedliche Positionen. Während die von Norbert
Groeben begründete Richtung von der Psychologie ausgeht und sich als
leserbezogene Rezeptionsforschung begreift, ist die von Siegfried J. Schmidt
geprägte Schule stärker auf die Linguistik und die Kommunikationswissenschaften
bezogen und als umfassende Handlungstheorie konzipiert. Ausgangspunkt ist hier
nicht mehr das Verhältnis von Text und Leser wie bei Groeben, sondern das
literarische Handeln auf den Ebenen der Produktion, Vermittlung, Rezeption und
Verarbeitung. (Schöttker, 544) 15. Die Schmidt-Schule ist in den achtziger Jahren zum
einen eine Verbindung zur soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns
eingegangen, zum anderen hat sie sich an die Erkenntnistheorie des radikalen
Konstruktivismus angelehnt, der von der Auffassung ausgeht, dass alle Formen
menschlicher Wahrnehmung subjektive Konstruktionen und keine Repräsentationen
der Wirklichkeit darstellen. Die Empirische Literaturwissenschaft zeigt insgesamt, dass
die Rezeptionsforschung hier eine empirische und theoretische Weiterentwicklung
erfahren hat, während die Debatte in der hermeneutischen Literaturwissenschaft
Ende der siebziger Jahre zum Stillstand kam. (Schöttker, 554) 16. Der Ansatz ist in den 70er Jahren ‘erfunden’ worden,
um in einer spezifischen (wissenschafts-) historischen Situation als relevant
erkannte literaturwissenschaftliche Probleme zu bearbeiten. Die Literaturwissenschaften und speziell die Philologien
(allen voran die Germanistik) schienen in den Jahren nach 1945 gewisse
nationalistische Entgleisungen durch eine strikte Orientierung auf den Text kompensieren und einer
politischen Inanspruchnahme durch eine Art Philologismus vorbeugen zu wollen.
Als aber in den 60er Jahren die Selbstbeschränkung und Selbstverleugnung
textimmanenter Positionen einer politisierten und gesellschaftskritischen Studentengeneration
nicht mehr plausibel zu machen waren, griff die Disziplin formalistische, strukturalistische
und materialistische Literaturtheorien auf, die schon früher die Einsicht
vermittelt hatten, dass „Literatur“ unter inhaltlichen ebenso wie unter
formalen Gesichtspunkten sinnvoll in Beziehung zu anderen gesellschaftlichen,
politischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren analysiert werden kann.
Daneben knüpfte man an geistesgeschichtliche, psychoanalytische und
phänomenologische Konzeptionen an, bis in den 70er Jahren die
Rezeptionsästhetik und verschiedene Ansätze zur Sozialgeschichte der Literatur
neue methodische Standards etablierten. (Rusch, 215f.) 17. Zu Beginn der 70er-Jahre wird Literatur unter einer
beständig wachsenden Anzahl unterschiedlicher Gesichtspunkte thematisiert, die
– z.T. als eigenständige methodische Ansätze vorgestellt – relativ unvermittelt
nebeneinander koexistieren. Die Literaturforschung präsentiert sich seit den 70er
Jahren als noch vorwissenschaftliches, in den Erkenntnisinteressen äußerst
heterogenes, methodisch und theoretisch uneinheitliches Arbeitsfeld. Der
desolate Zustand der Literaturwissenschaft hat denn auch zu Debatten über ihre
Nutzlosigkeit oder Relevanz geführt und zu zahlreichen Therapievorschlägen
angeregt. (Rusch, 216f.) 18. Erste Vorschläge zur Empirisierung der
Literaturwissenschaft stammen bezeichnenderweise nicht unmittelbar aus der
Disziplin selbst, sondern sind von Linguisten und Philosophen (Jens Ihwe und
Siegfried J. Schmidt), einem Psychologen (Norbert Groeben) und einem
linguistischen Semiotiker (Götz Wienold) in die Diskussion eingebracht worden.
In den 70er- und 80er-Jahren haben sich dann zwei Konzeptionen Empirischer
Literaturwissenschaft herausgebildet. (Rusch, 217) 19. Methodenorientierte
Konzeption. Diese von dem Psychologen Norbert Groeben entwickelte
Konzeption verfolgt das Ziel der Empirisierung
der Literaturwissenschaft. Sie stellt sich ausdrücklich in den Dienst der
literaturwissenschaftlichen Bemühungen um die Explikation von Sinn und
Bedeutung literarischer Werke und bietet dazu empirische Verfahren an, die dem
Methodenarsenal der experimentellen Psychologie und der Sozialwissenschaften
entstammen. So wird z.B. die empirische
Konkretisation von Interpretationen durch die „Konstruktion von Werksinn
anhand empirischer Rezeptionsdaten“ in Aussicht gestellt. Diese soll vor allem
der Objektivierung von Interpretationen dienen, zugleich aber auch einige
zentrale wissenschaftstheoretische Defizite der Literaturwissenschaft beheben,
denn sie weist nach Groeben „alle wissenschaftstheoretischen Charakteristika
moderner empirischer Wissenschaften auf (u.a. Trennung von Theorie- und
Beobachtungssprache, intersubjektive Verfahren der Realitätskontrolle,
Adäquanzprüfung der theoretischen Konstrukte über ihren empirischen Wert,
theoretische Erklärungen durch explikative Konstrukte etc.)“. (Rusch, 217) 20. >Kritik.
Bedenklich ist, dass Groeben sein Programm sozusagen als hermeneutische
Hilfswissenschaft einführt. Gerade dieses Gegenstandsverständnis scheint im
wesentlichen der Grund für die fatale Lage der Literaturwissenschaft zu sein,
die ihr vornehmstes Erkenntnisziel aus prinzipiellen Gründen verfehlen muss.
Dieses Grundproblem durch den Einsatz empirischer Methoden zu flankieren,
verspricht kein besonders aussichtsreiches Unternehmen zu werden. (Rusch,
217f.) 21. Theorienorientierte
Konzeption. Sie wurde unter der Leitung von Siegfried J. Schmidt von der
Arbeitsgruppe NIKOL entwickelt. In zwei Bänden legte Schmidt 1980 und 1982
einen Grundriss der Empirischen Literaturwissenschaft vor, der ein Paradigma
postuliert, das sich ausdrücklich nicht in den Dienst hermeneutischer
Literaturwissenschaft stellt. Die NIKOL-Konzeption ist aus einer methodologischen Kritik
literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis und der Kritik eines
emphatischen Text- und Literaturbegriffs motiviert. Die Konzeption ist als eine
vollständige Wissenschaft, ein eigenes Paradigma geplant. Sie expliziert ihre
Meta-Theorie, ihre Begriffe von Erkenntnis und Wissenschaft, ihre
meta-theoretischen Werte, z.B. Theoretizität, Empirizität und Politizität, und
verpflichtet sich damit auf einen Wissenschaftstyp, der explizite
Theoriebildung, erfahrungswissenschaftliche Methoden und die praktische
Anwendbarkeit von Wissen anstrebt. Die Empirische Theorie der Literatur ist eine kommunikations- und systemtheoretische
Sozial-Psychologie der Literatur. (Rusch, 218f.) 22. Was bedeutet
„empirisch“? Der Terminus „empirisch“ verweist auf eine bestimmte Tradition
des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens und Handelns, in der die
Rolle menschlicher Erfahrung für die
Erkenntnis in besonderer Weise betont worden ist (Bacon , Hobbes, Locke,
Berkeley, Hume, Kant, Mach). „Empirisch“ bedeutet (im Rahmen des Radikalen
Konstruktivismus): unter Bedingungen einer (aus Gründen der Rationalität) ala
denknotwendig unterstellten, jedoch kognitiv unzugänglichen Realität mit den
Mitteln menschlicher Kognition (Wahrnehmen, Beobachten, Experimentieren in/mit
einer kognitiv-sozial konstruierten Wirklichkeit) herauszufinden versuchen, wie
Probleme tatsächlich gelöst werden können. (Rusch, 219) 23. Was bedeutet
„Wissenschaft“? Wissenschaft muss wenigstens in einem gewissen Maße durch
die Öffentlichkeit kontrolliert werden können. Und natürlich sollte es –
wenigstens im Prinzip – jedermann ermöglicht werden, die vorgeblichen
Erkenntnisse der Wissenschaftler zu überprüfen, bevor er sich auf diese
einlässt. Die wichtigsten methodologischen Prinzipien der Wissenschaften sind: (1) Explizitheit,
schließt ein: explizite Begrifflichkeit, Beschreibung der thematischen
Phänomene, Erklärung der thematischen Gegenstände etc. (2) Lehr- und
Lernbarkeit, schließt ein: klare Darstellung von Theorien, Vermittelbarkeit
in der Lehre, Nachvollziehbarkeit etc. (3) intersubjektive
Überprüfbarkeit, schließt ein: Beobachtbarkeit, Wiederholbarkeit,
Kommunikabilität etc. (4) Systematizität,
schließt ein: planmäßiges, wohlüberlegtes, begründetes Vorgehen. (Rusch, 219f.) 24. Zur Charakterisierung dessen, was Wissenschaft
bedeuten sollte, benötigt man also zunächst einmal gar nicht so etwas wie einen
Begriff von Wahrheit, ein Konzept von Wirklichkeit oder Realität. Es genügt
vollkommen, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen wissenschaftliches
Handeln sozial und kommunikativ sinnvoll erscheint. Wahrheit
entsteht als Verpflichtung und Ziel von Wissenschaft erst als Derivat der
kommunikativen Komponenten von Wissenschaft: Sätze können wahr oder falsch
sein. Die sprachlich-begriffliche Identifikation von Phänomenen im Rahmen von
Theorien kann gut oder schlecht gelingen. Wirklichkeit wird
problematisch erst dann, wenn man sie von etwas unterscheiden oder zu etwas in
Beziehung setzen kann, das entweder unwirklich (fiktional) oder aber wirklicher
als wirklich (wie z.B. die aubatomaren Elemente der Materie) sein soll. Wissenschaft ist
die Fortsetzung des Alltagshandelns unter verschärften Bedingungen. Empirische Wissenschaft heißt dann:
wissenschaftliche Erkundung, Entwicklung und Bereitstellung von
Handlungsoptionen, die tatsächlich befriedigende Beschreibungen, Erklärungen
und Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf bestimmte Phänomenbereiche
gestatten. Empirische
Literaturwissenschaft verfolgt dieses Ziel im Hinblick auf den Bereich
literarischer Phänomene. (Rusch, 220) 25. Was sind literarische
Phänomene? Sie können näher charakterisiert werden als ästhetische Texte, als Sprachkunstwerke.
Aber was sind denn ästhetische Texte? Das Standardverfahren zur Beantwortung
dieser Frage sieht eine Definition durch die Angabe von Beispielen und deren
Analyse vor. Dem entgegen steht folgende Vermutung: Ästhetische Qualität ist kein Merkmal, das
an Texten beobachtet werden kann! Oder: bestimmte Texte sind nicht an sich
literarisch, sie haben nicht bestimmte naturwüchsige Eigenschaften, die sie zu
literarischen Texten machen. D.h. es gibt nicht so etwas wie eine Text-Spezies
„Literatur“, deren ‘Natur’ wir durch die genaue Untersuchung von Texten
erforschen könnten. Aber warum sollte Literatur kein Gegenstand wie jeder
andere sein? (1) Anders als z.B. biologische Arten zeichnet sich
Literatur gerade nicht dadurch aus, dass sie sich durch eine endliche Liste von
Merkmalen bzw. Eigenschaften bestimmen lässt. Denn im Gegensatz zu natürlichen
Spezies scheint es hier geradezu konstitutiv zu sein, dass sich von Zeit zu
Zeit ihre Eigenschaften radikal und grundlegend, d.h. revolutionär, verändern. In der Kunst und Literatur stellt die
Avantgarde die Begriffe von Kunst und Literatur ständig neu in Frage, verändert
damit die ästhetische Praxis und die ‘Natur’ der Kunstwerke. (2) Literatur wird von Menschen überhaupt erst
hervorgebracht. Literarische Texte sind menschliche
Kreationen, Resultate menschlichen Gestaltungswillens. (3) Literarische Texte sind semiotische Gegenstände, denen von Autoren und Rezipienten
Bedeutungen erst zugeordnet werden. (Rusch, 220f.) 26. Aus diesen Überlegungen kann man zwei wichtige
Folgerungen ziehen: (4) Literatur kann nicht ohne Berücksichtigung derjenigen
analysiert werden, die sie gemeinsam erzeugen: die Autoren (als Hersteller von
Texten, die als literarische Texte präsentiert werden) und die Rezipienten (die
Texte als literarische Texte lesen und verstehen). (5) Für Literatur sind die Leistungen der Akteure
(Autoren, Rezipienten etc.) – und nicht die Merkmale von Texten – konstitutiv.
Denn diese bestimmen, welche Merkmale Texte als literarisch qualifizieren.
(Rusch, 221) 27. Zu Schmidts Theorie literarischen kommunikativen
Handelns (TLKH). Als Gegenstandsbereich dieser Theorie werden literarische
Handlungen (nicht Texte) bestimmt, in denen Akteure (in der Theorie „Aktanten“
genannt) mit solchen Texten umgehen, denen sie die Eigenschaft „literarisch“
zuschreiben. Dabei wird Literarizität (als eine Texten attribuierte
Eigenschaft) abhängig gemacht von der Art und Weise, wie Aktanten mit Texten
umgehen. Produzieren oder lesen sie Texte nicht primär im Hinblick auf ihre erfahrungsweltliche
Referenzialisierbarkeit, so handeln sie einer Konvention gemäß, die als ästhetische Konvention bezeichnet wird. Produzieren oder rezipieren Aktanten Texte außerdem nicht unter dem Gesichtspunkt der
Eindeutigkeit der Texte und Text-Komponenten sowie der ausgesagten
Sachverhalte, sondern erwarten sie eine bzw. schreiben oder lesen sie im
Hinblick auf eine Vielzahl möglicher Lesarten und Bedeutungsvarianten, so
handeln sie gemäß der Polyvalenz-Konvention. Unter diesen Voraussetzungen gelten nun Texte als
literarisch, wenn sie von Aktanten als literarische Texte behandelt werden,
d.h. wenn Aktanten im Umgang mit Texten den beiden genannten Konventionen
folgen. (Rusch, 222) 28. Literarische Prozesse werden als integrale Komponenten
von Gesellschaft aufgefasst, die sich zusammen und in Wechselwirkung mit
anderen gesellschaftlichen Prozessen verändern. Mit der Formulierung von Hypothesen über Prozesse
geschichtlicher Veränderung geht die ETL weit über das in der
Literaturgeschichte Übliche hinaus: Erstens werden tatsächlich auf der Basis
expliziter Theorien Hypothesen über diachrone Prozesse angeboten und nicht
Darstellungen literarhistorischer Begebenheiten geliefert. Zweitens versucht
der ETL-Typ von Literarhistorie nicht, die Konstruktivität literarhistoriographischer
Arbeit zu verschleiern. (Rusch, 224) 29. Probleme und
Perspektiven. Wird Literaturwissenschaft als empirische Sozialwissenschaft
betrieben, so entsteht in der Außenwahrnehmung leicht der Eindruck, dieser
Literaturwissenschaft ginge es gar nicht mehr um die Literatur, sondern um
soziale Prozesse, kognitive Schemata usw. Replik: Erstens ist der Gegenstand der Empirischen
Literaturwissenschaft Literatur. Es
geht also ganz zentral darum, eine Literaturtheorie zu entwickeln, die uns die
Beantwortung von Fragen nach der ‘Natur’ der von uns beobachteten literarischen
Phänomen, nach der Literarizität der kanonischen Texte, nach den
Voraussetzungen, Ursachen, Bedingungen und Folgen des Umgangs mit literarischen
Texten usw. gestattet. Wenn sich nun zeigt, dass Texte als semiotische Objekte
nicht aufgrund endogener bzw. immanenter Ursachen literarisch sind,, sondern
aufgrund eines komplexen Ursachenbündels aus verschiedenen Faktoren, dann muss
eine Theorie der Literatur diese Faktoren berücksichtigen. Es ist dann ganz
selbstverständlich, dass sich der Status von Texten in diesem Ursachenfächer
verändert. Der Eindruck ist also durchaus zutreffend, und es hat gute Gründe,
dass Texte in einer Empirischen Literaturwissenschaft eine nicht so prominente
Rolle wie in hermeneutischen Ansätzen
spielen. (Rusch, 225) 30. Wie gehen nun Empirische Literaturwissenschaftler mit
Texten um? Die Empirische Theorie der Literatur ist eine Theorie über die
Bedingungen der Zuschreibung von Literarizität. Der Theorie zufolge gelten
Texte als literarisch, wenn Akteure in spezifischer Weise mit ihnen umgehen,
insbesondere in ihrem auf Texte bezogenen Handeln den postulierten Konventionen
folgen. Was muss jemand tun, wenn er der ästhetischen und der
Polyvalenzkonvention folgt? Er muss zunächst einmal Kommunikate, Vorstellungen von dem im Text ausgesagten
Sachverhalten, eine Lesart eines Textes (und seiner Komponenten) erzeugen.
Aufgrund seiner Beobachtungen, seiner persönlichen Präsuppositionen,
Dispositionen und Motivationen muss der Leser (der ästhetischen Konvention
folgend) im Verlaufe seiner Lektüre mehrfach darüber entscheiden, ob er den Text unter dem Gesichtspunkt der
Tatsächlichkeit der ausgesagten Sachverhalte oder unter dem Aspekt der
Fiktionalität der ausgesagten Sachverhalte lesen möchte bzw. lesen kann.
(Rusch, 225f.) 31. Von besonderem Interesse ist, auf welcher Basis Leser
die Entscheidung treffen, einen Text literarisch zu lesen. Daraus ergibt sich
für eine empirische Theorie literarischer Rezeption ein spezifischer Bedarf für
solche textanalytischen Instrumente und Verfahren, die rezeptionsrelevante
Textmerkmale auf grammatischer und semantischer Ebene zu beschreiben und mit
den Literarizitätsentscheidungen von Lesern zu korrelieren gestatten. Für die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen und
Voraussetzungen für die Vergabe des Literarizitätsprädikats braucht die
Textanalyse nur so weit zu gehen, wie Rezipienten in ihrer Lektüre gehen. Und
dies ist eine empirische Frage. (Rusch, 226) 32. Der Literaturbegriff.
Die Innen-Außen-Differenzierung des Systems Literatur soll durch die Ästhetik-
und Polyvalenz-Konventionen geleistet werden. Es stellt sich die Frage, ob Rezipienten tatsächlich immer
eine Mehrzahl von Lesarten realisieren, oder ob sie sich nicht vielmehr mit
ihren spontan realisierten und subjektiv plausiblen Lesarten begnügen. Im Falle
der starken Polyvalenz würde man es mit einem relativ kleinen Literatursystem
zu tun haben, aus dem die allermeisten Fälle literarischer Kommunikation
ausgeschlossen bleiben. Die ungenügende Differenziertheit des
Polyvalenz-Konzeptes hat dem Missverständnis Vorschub geleistet, die ETL würde
eine normative Elite-Ästhetik begründen. (Rusch, 226f.) 33. Durch Importe aus der Selbstorganisationstheorie und
der theoretischen Soziologie Niklas Luhmanns sollten bestimmte Defizite der ETL
beseitigt werden. Die systemtheoretischen Anleihen bei Luhmann haben die
schon bekannten Probleme aber nicht gelöst, sondern eher noch verschärft, wiel
die handlungstheoretische Basis der Etl mit einer Soziologie inkompatibel ist,
die handlungsmächtige Individuen bzw. Akteure nicht kennt. (Rusch, 228f.) 34. Siegfried J. Schmidt legt 1980/82 seinen Grundriß der Empirischen
Literaturwissenschaft vor. Das Projekt der Empirischen Theorie der Literatur ist innerhalb der
interdisziplinären Arbeitsgruppe NIKOL entstanden, zu der Mathematiker,
Wissenschaftstheoretiker und Linguisten gehören. Diese Grenzüberschreitung
prägt das erkenntnistheoretische Programm, aus dem u.a. das Siegener Periodicum zur Internationalen
Empirischen Literaturwissenschaft (kurz: SPIEL) hervorgegangen ist.
Wichtige Grundlagen sind die analytische Wissenschaftstheorie Joseph P. Sneeds
und der Konstruktivismus Humberto Maturanas sowie Übernahmen aus der
linguistischen Sprechakttheorie. Die ETL versucht auf diese Weise, ein nicht-hermeneutisches Paradigma
anzubieten. (Zens, 194) 35. Die ETL versteht sich als eine Theorie der literarischen
Kommunikationshandlungen. Ausgangspunkt ist die „empirische Hypothese, dass
es in unserer Gesellschaft ein Handlungssystem gibt, das traditionellerweise
als ‘Kunst’ bezeichnet wird und das theoretisch als ein System Ästhetischer
Handlungen konstruiert werden kann [...]. Innerhalb dieses Systems Ästhetischer
Handlungen lässt sich ein Teilbereich ausgliedern, der selbst wieder
Systemcharakter besitzt und traditionellerweise als ‘Literatur’ bezeichnet
wird. Dieser Bereich wird [...] konstruiert als ein System von Handlungen, die
auf solche sprachliche Objekte abzielen, die von den Handelnden gemäß der von
ihnen vertretenen Normen für ‘literarisch’ gehalten werden.“ (Hintzenberg u.a.
1980, 13) Die Theoriekonstruktion erfolgt in verschiedenen
Schritten. Zunächst werden ‘Voraussetzungstheorien’ entworfen, auf deren
Grundlage die spezifische Theorie des Literatursystems gebildet wird. (Zens,
194f.) 36. Als Grundlegung formuliert Schmidt eine allgemeine
‘Theorie der Handlung’ (TH). Voraussetzung für den Sachverhalt ‘Handlung’ ist
jemand, der bereit und in der Lage ist zu ‘handeln’. Schmidt nennt diese Instanz
Aktant. Aktanten können individuell,
kollektiv oder institutionell sein. Auch kollektive oder institutionelle
Aktanten bestehen letztlich aus individuellen, die im Gefüge einer Gruppe oder
Institution handeln. „Aktanten müssen immer gesehen werden als historisch
lokalisierbare Instanzen, die einen ‘Sozialisationsprozess’ durchlaufen haben
und in einer bestimmten Situation mit bestimmten Absichten ‘handeln’.“ (Schmidt
1991, 39) Handlungen
werden von einem oder mehreren Aktanten in einer Handlungssituation ausgeführt.
Diese Handlungssituation wird durch
die ‘kopräsenten’ (auch anwesenden) Objekte, die ‘kopräsenten’ Aktanten und
gleichzeitig ablaufenden Handlungen bestimmt. Handlungen können beabsichtigte
(‘Resultate’) und unbeabsichtigte (‘Konsequenzen’) Folgen haben. Die Definition
von Handlung (H) lautet: „H ist eine Handlung von Aktant A genau dann, wenn H
eine Veränderung oder Aufrechterhaltung eines Zustands ist, die von A in einer
Situation im Rahmen seines Voraussetzungssystems gemäß einer Strategie
intentional realisiert wird“. (Ebd.. 51) (Zens, 195f.) 37. Die ‘Theorie der Handlung’ wird zu einer ‘Theorie der
kommunikativen Handlung’ (TKH) spezifiziert. In ihr wird der Aktanz zum
‘Kommunikationsteilnehmers’. Es interagieren zumindest zwei Aktanten. Eine
kommunikative Handlung ist notwendig dialogisch. Kommunikationsmittel sind zunächst nur physische
Wahrnehmungsangebote. Als Kommunikatbasis
sind sie das materiale Substrat, dem die Kommunikationsteilnehmer in
unterschiedlichen kognitiven Operationen ‘Bedeutungen’ zuordnen, die auf
vorgängige, gespeicherte Bedeutungsstrukturen Bezug nehmen. Sprachliche
kommunikative Handlungen sind ein (medien-)spezifizierter Teilbereich
kommunikativen Handelns. Kommunikationsmittel sind hier natürliche Sprachen;
die sprachlichen Kommunikatbasen sind, was umgangssprachlich Texte genannt wird. Kommunikate sind Texte in
ihrer kommunikativen Funktion. (Zens, 196) 38. Das dem Literatursystem übergeordnete System Kunst
wird mit Hilfe der ‘Theorie ästhetisch kommunikativen Handelns’ (TÄKH)
beschrieben. Diese geht von einem System Kunst aus, das durch spezifische
Handlungen organisiert wird. Die Annahme eines Kunstsystems erfordert Kriterien
zur Außen-Innen-Differenzierung und internen Strukturierung. Als typische
handlungsorientierende Regeln führt Schmidt zwei Konventionen ein. Konventionen sind soziale Regularitäten, die aus
der Notwendigkeit entstehen, im sozialen Leben Koordinations- und
Kooperationsprobleme lösen zu müssen. Konventionen ermöglichen den handelnden
Individuen, gemeinsames Wissen oder auch gemeinsame Intentionen anzunehmen und
auf dieser Grundlage zu agieren. Konventionen werden nicht notwendig als solche
bewusst; soziales Leben basiert jedoch darauf, dass sie absichtlich oder
habituell befolgt werden. Die Abgrenzung des Systems ästhetischer
Kommunikationshandlungen erfolgt bei Schmidt über die Ästhetik-Konvention und
die Polyvalenz-Konvention. Die Ästhetik-Konvention
wird zunächst negativ definiert: in allen Kommunikationssystemen außer dem
Kunstsystem gilt, dass ein Bezug zur Wirklichkeit oder zur Vorstellung von
Wirklichkeit herstellbar sein muss. Es wird erwartet, dass Aussagen ‘wahr’ sind
oder zumindest ‘referenzfähig’. Der praktische Nutzen von Aussagen wird an
dieser Referentialität festgemacht. Ästhetische Kommunikation hingegen findet
unter der Konvention der gesellschaftlichen Zweckfreiheit statt. Positiv
bedeutet das, dass die Kommunikationsteilnehmer nach Regeln agieren, die sie
‘für ästhetische halten’. Konsequenzen dieser Ä-Konvention sind die Erhöhung
der Unsicherheit und Unbestimmtheit von Handlungserwartungen, aber auch die
Erweiterung von Handlungsspielräumen, die in dem Maße zu einer gesteigerten
Erklärungsbedürftigkeit von Kunstwerken führt wie die von der Konvention
tolerierten ästhetischen Normen an Allgemeinverständlichkeit verlieren. Auch die Polyvalenz-Konvention
wird zunächst negativ bestimmt. Für Kunst gilt gerade nicht, dass
Kommunikatbasen eindeutige (monovalente) Kommunikate zuzuordnen sind. Auch die
P-Konvention vergrößert die Freiheit ästhetischer Handlungen, Toleranz und
Überraschung(serwartung). Texte können polyvalent produziert, rezipiert und
verarbeitet werden. Verschiedene Rezipienten ordnen dem Text unterschiedliche
Bedeutungen zu. (Zens, 196ff.) 39. Schmidt unterscheidet drei Grundfunktionen
ästhetischer Kommunikation: eine kognitiv-reflexive,
eine moralisch-soziale und eine hedonistisch-emotionale. Der Leser
erfährt in der Rezeptionshandlung die Konfrontation eines Modells möglicher
Wirklichkeit (des Kommunikats) mit einem Modell wirklicher Wirklichkeit (seiner
Erfahrungswelt). In ihrer Differenz liegt ein kognitives Potential
literarischen kommunikativen Handelns, insofern die Reflexion über Wirklichkeit
und Wirklichkeitswahrnehmung zum Ausgangspunkt von Handlungen wird. Neben der
Erkenntnis von Fiktionalität aktualisiert die Rezeption soziale
Normvorstellungen, die Handeln in der Erfahrungswelt leiten können. Nicht
weniger wichtig ist die Unterhaltungsfunktion. Die genannten Funktionen
bezeichnen Leistungen für das Individuum, sie machen keine Aussage über die
Funktion des Systems Kunst für die Gesamtgesellschaft. Diese
gesamtgesellschaftliche Funktion ist vielmehr durch die differenzierenden
Konventionen markiert: die jeweils gültigen ästhetischen Normen, die
Zweckfreiheit und polyvalente Ausdeutbarkeit. (Zens, 198) 40. Der eigentliche Kernbereich des Konzepts ist die
‘Theorie des literarisch kommunikativen Handelns’ (TLKH), die Literatur als den
ausdifferenzierten Teilbereich von Kunst beschreibt, der durch die Verwendung sprachlicher
Medien gekennzeichnet ist. Zu unterscheiden sind vier Handlungsrollen und ihre
Relationen. Es sind dies die Rollen Produzent,
Vermittler, Rezipient und Verarbeiter literarischer Texte. Alle Handlungen
finden unter der Voraussetzung literarischer Massenkommunikation statt, d.h.
unter der Voraussetzung einer medialen Kommunikation, die die unvermittelte
literarische Individualkommunikation weitgehend verdrängt hat. Mittels vier an
diesen Handlungsrollen orientierten spezifischen Teiltheorien soll der
Gegenstandsbereich umfassend erschlossen werden. Damit nimmt Schmidt u.a.
Anregungen der Rezeptionsästhetik auf, die den Primat der Produktion in Frage
gestellt hatte, ohne jedoch wie diese mit einem Primat der Rezeption zu
antworten. (Zens, 198f.) 41. Die Übernahmen aus der Kognitionstheorie Maturanas,
den Arbeiten des Entwicklungs- und Sprachpsychologen Ernst von Glasersfeld
sowie des ‘frühen’ Kybernetikers Heinz von Foerster formieren sich zum
erkenntnistheoretischen Programm des Radikalen
Konstruktivismus, welches auch die Siegener Arbeiten zur
Literaturwissenschaft seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend grundiert. Ist alle
Wahrnehmung konstruierend, so hebe dies letztlich auch die Scheidung von
fiktionaler Kunst und realer Wirklichkeit auf. Kunst unterscheidet sich dann
nur noch in ihren Verfahren, nicht in ihrer Konstruktivität von anderen
Welt-Beschreibungsmöglichkeiten. (>Kritik)
Etwas ins Dunkel gerät bei diesen Ausführungen allerdings, dass die
Konstruktion einer Realität sich in ihren handlungslogischen Konsequenzen
wesentlich von der Konstruktion einer Fiktion unterscheidet. (Zens, 199) 42. Traditionelle Werkinterpretationen sieht Schmidt nicht
als Aufgabe der Literaturwissenschaft, sondern vielmehr als Gegenstand, der
selbst analysiert werden muss. Die Textbetrachtung, die sich auf die Suche nach
der ‘objektiven’ und ‘richtigen’ Bedeutung macht, kann aus konstruktivistischer
Sicht keine wissenschaftliche Aufgabe sein. Mit der Aufgabe eines ontologischen
Werkbegriffs und einer darauf gestützten Interpretationspraxis formuliert
Schmidt also noch einmal einen ebenso zentralen wie konsensuellen Gedanken des
scientific turn. In der ETL ist die Unterscheidung von Text und Kommunikat eine
Voraussetzung, um bedeutungskonstruierende Prozesse statt bedeutungsfixierter
Werke zum Thema zu machen. (Zens, 199) 43. Schmidt orientiert sich letztlich an einem
‘Naturwissenschaftlichen Paradigma’, dem des biologischen und psychologischen
Kognitivismus. Für den Konstruktivismus existieren die Instanzen Autor und Text
nicht als erfahrbare Gegenstände, sondern allein als Zuschreibungsordnungen des
jeweiligen Lesers. Die Erkenntnisleistung des Lesers bestimmt Schmidt daher
auch nicht als die Erschließung einer wie auch immer gearteten objektiven
Wirklichkeit, sondern als einen selbständigen Akt des Erlebens und Erfahrens,
der Realität erst erfindet. „Rezipienten erzeugen Lesarten [...] ohne Original“
(Schmidt 1988, 151), formuliert Schmidt in Übereinstimmung mit
poststrukturalistichen Ansätzen. Der literarische Text erscheint als ein bloßer
Reiz , der vom Leser aufgenommen und interpretativ verarbeitet wird. Für den
Konstruktivismus verkörpert der empirische Leser daher die einzige Instanz, die
überhaupt noch den Ausgangspunkt für wissenschaftliche Aussagen zulassen kann,
Aussagen allerdings, die sich nicht auf die Struktur und Geschichte
literarischer Texte richten, sondern nur noch auf die Beobachtung des
Beobachters Leser. (Geisenhanslüke, 63) 44. Übergang zur modernen Medienwissenschaft: Neue Medien
übernehmen die Funktion der Wirklichkeitserzeugung, die in traditionellen
Erklärungsmodellen den Subjekten vorbehalten war. (>Kritik) Der
Ansatz krankt an der Verkürzung literaturwissenschaftlicher Fragen auf
biologisch und psychologisch begründete Kognitionszusammenhänge.
(Geisenhanslüke, 63) |