10 Postkolonialismus

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10.02 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze

1. ‘Race’ bezeichnet eher ein Problem als eine feste Kategorie, über deren Existenz wir uns alle mehr oder weniger sicher sind, selbst wenn die genaue Bedeutung strittig bleibt. Das deutsche Wort ‘Rasse’ ist historisch so nachhaltig belastet, dass es als Äquivalent nicht mehr in Frage kommt. Aber auch das Englische erfordert Anführungszeichen, stumme Zeugnisse der Last kolonialer Vergangenheit, die das Wort trägt. Und selbst wenn wir die historischen Gebrauchsweisen und ihre Effekte ausblenden könnten, blieben die fundamentalen philosophischen Widersprüche bestehen, die eine Verwendung von ‘race’ als neutrale, deskriptive Kategorie zur Markierung geschichtlicher Unterschiede unter Völkern unterminieren.

Der Konsens innerhalb der Naturwissenschaften bestätigt, dass eine genetische Information ebenso wenig wie eine Untersuchung von Verwandtschafts- oder Abstammungsbeziehungen hinreichende Kriterien zur Feststellung ‘rassischer’ oder ethnischer Differenzen liefern kann. (Raman, 241)

2. Dennoch: die innere Inkohärenz berechtigt uns nicht, ‘race’ einfach als eine rein fiktionale und folglich irrelevante Konstruktion aus der Verantwortung zu entlassen. Denn diese Fiktion hat äußerst reale Konsequenzen: „Unzählige Menschen“, so Gates (1986, 6), „werden jeden Tag getötet im Namen von Differenzen, die allein ‘race’ zugeschrieben werden. (Raman, 241)

Gefordert ist eine Reformulierung des geschichtlich situierten Begriffs zu einer signifikanten Kategorie innerhalb des umfassenden Prozesses, in dem ‘Kultur’ die Welt der Handelnden mit den durch ihre soziale Praxis geschaffenen Strukturen vermittelt. Literatur spielt eine bedeutende Rolle in diesem kulturellen Prozess. Sie bildet den Ort, an dem sich ‘race’ zu festen Oppositionen sedimentiert, aber auch den Ort, an dem die Instabilität solcher Oppositionen erkennbar werden kann. Literarischen Texten kommt eine entscheidende Funktion zu bei der Bildung ideologischer Schemata, die bestimmte Formen von sozialer Praxis konsolidieren und legitimieren. (Raman, 241f.)

3. Die Arbeiten von Gates und anderen zeigen, wie im 18. und 19. Jahrhundert in Amerika die Differenz einer mündlichen und einer schriftlichen Kultur zugleich ein Bindeglied zwischen ‘rassischer’ Fremdheit mit wirtschaftlicher Entfremdung bilden konnte. Andererseits konstituiert der Akt des Schreibens in den Händen derer, die unter dieser doppelten Entfremdung litten, nichts weniger als die politische Arbeit, sich selbst aus dieser Entfremdung ‘herauszuschreiben’. (Gates 1986, 6-11) Der kulturelle Raum wird hier nicht als ein neutrales Feld beschrieben, wo sich die Beteiligten als Gleichgestellte miteinander auseinandersetzen, sondern er wird bestimmt durch „ein ungleiches Verhältnis zwischen dem Kolonialisten und dem Kolonialisierten, dem Unterdrücker und dem Unterdrückten“. (Said 1983, 48) Nur wenn wir diese Ungleichheit erkennen, können wir die durch die Barbarei der Zivilisation zum Schweigen gebrachten Stimmen wieder zum Sprechen bringen. (Raman, 242)

4. Ziel ist es, aus ‘race’ auf der Grundlage geschichtlicher Widersprüchlichkeit ein kritisches Regulativ zu gewinnen. Dazu gehört die ideologiekritische Entmystifikation von Diskursen, die zwar die Wirkungen eines strukturell oder institutionell eingeschriebenen Rassismus zu leugnen versuchen, jedoch selbst in ihm fundiert sind. Ferner ist der Reanthropologisierung der aufgespürten Mechanismen entgegenzuwirken, in  der ‘race’ als „ewiger, essentieller Faktor der Trennung innerhalb von Gesellschaft“ (Gilroy 1987, 17) festgeschrieben würde. Da die Machtkonflikte zwischen verschiedenen Sozialgruppen die kulturelle Ausdifferenzierung einer Gesellschaft vorantreiben, könnten ‘rassische’ Differenzen in einen Funktionszusammenhang gestellt werden, in dem sie als natürlich oder gar notwendig erscheinen. (Raman, 242)

5. Dass menschliche Geschichte und Gesellschaft auf historisch sich entwickelnden Differenzierungen beruht, eröffnet gleichzeitig Möglichkeiten, alternative Geschichten zu schreiben, die den Spuren solcher sozialen Differenzierungen jenseits der herrschenden Kategorien folgen, in denen ‘race’ gewöhnlich gedacht wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass alternative Geschichtsschreibungen völlig unabhängig von diesen Kategorien bleiben können.

Als kritisches Konstrukt stimuliert ‘race’ ein Umschreiben von Geschichte in der beharrlichen Kritik der überkommenen Binäroppositionen, die wir verwenden, um Realität zu beschreiben und zu verstehen. (Raman, 243)

6. An einem zentralen Text der Weltliteratur, Shakespeares A Midsummer Night’s Dream, soll nachgewiesen werden, wie durch eine nichtkanonische Lektüre eines kanonischen Textes die in der Aufklärung entstandenen Kategorien der Textanalyse problematisiert werden können. Durch die Fokussierung auf ‘race’ soll der Bruch zwischen den universalen oder transhistorischen Ansprüchen solcher Kategorien und dem geschichtlichen Prozess der materiellen Unterdrückung aufgezeigt werden, von dem ihre Universalisierung abhängt.

Shakespeares Text präsentiert homologe Krisen und deren Auflösungen auf den vier verschiedenen Ebenen der Nobilität, des Bürgertums, der Feenwelt und der Arbeiter. Die dramatische Auflösung in der Schlussszene, in der die romantischen Konfusionen entwirrt und in gesellschaftlich legitimierte Ehen überführt werden, konstruiert eine spezifische Auffassung von Geschichte als Prozess, in dem persönliches Begehren mit den übergreifenden Imperativen sozialen Zusammenhalts versöhnt wird. Diese Versöhnung kann aber nur zustande kommen, weil die entscheidenden Konflikte nicht ausgetragen, sondern verdrängt werden. (Raman, 243f.)

7. Die gesellschaftliche Realität von ‘race’ scheint hier weit entfernt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Krise aus dem Streit zwischen Oberon und Titania um den indischen Jungen hervorgeht, den Titania nicht aufgeben will. Damit ist es in erster Linie eine ‘rassische’ Differenz, durch die die patriarchale Hierarchie (als dessen Vertreter Oberon und Theseus fungieren) destabilisiert wird. Darüber hinaus hängt die Auflösung der Krise von der Tatsache ab, dass Oberon Titania betrügt, um den indischen Jungen von ihr zu bekommen; und erst in dieser Transformation des ‘rassisch’ Anderen in ein Objekt des Austauschs kann die soziale Ordnung wiederhergestellt werden. Und doch, auch wenn der indische Junge als Auslöser der dramatischen Handlung fungiert, taucht er selbst niemals im  Stück auf. So bildet er dessen abwesendes Zentrum; seine getilgte Präsenz sowie seine Austauschbarkeit bleiben auf paradoxe Weise unentbehrlich für die Wiederherstellung der patriarchalischen Herrschaft. Welche Bedeutung besitzt der indische Junge – als ‘abwesende Präsenz’ – innerhalb der dominanten Strukturen dieser frühen Aufklärungserzählung? (Raman, 244f.)

8. Dieses Problem ist ein historisches: Shakespeares (Nicht-)Repräsentanz des indischen Jungen beruht direkt auf den besonderen geschichtlichen Praktiken und Diskursen, in denen sich die Identität dieser fremden Figur konstituiert und die die Form bestimmen, in der eine marginale Figur innerhalb des kulturellen Raums der englischen Renaissance dargestellt werden konnte. Der grundlegende Diskurs ist in diesem Fall der des Kolonialismus, durch dessen Praktiken England schließlich in Kontakt tritt mit ‘Indien’ – ein reales Land, das dennoch ein imaginärer Ort bleibt.

Wenn Titania begründet, warum sie den indischen Jungen nicht aufgeben will, wird dieser kolonialistische Rahmen thematisch. Titanias Beschreibung instrumentalisiert geschickt den Diskurs des merkantilen Kolonialismus, um ihren Anspruch auf das Kind zu rechtfertigen. Der indische Junge tritt für Titania – metonymisch – an die Stelle seiner abwesenden Mutter, während sein Wert – metaphorisch – den vom Abendland konsumierten indischen Waren entspricht. Seine Abwesenheit ist nichts anderes als die ungeheure Distanz, die Europa von Indien trennt, seine Anwesenheit nichts anderes als die Überbrückung dieses Abstandes in der Form der Konsumtion östlicher Waren in Europa: Titania will das Kind nicht weggeben, weil sie es schon als Teil ihrer selbst internalisiert hat. (Raman, 245f.)

9. Oberon dagegen sieht in dem Jungen ein „Wechselkind“, das einem indischen König geraubt wurde und das er nun für sich als „Knappe“ fordert. Er betrachtet ihn also als eine Art Spielmarke in einem Tauschprozess. Wenn Titania diese Sichtweise zurückweist, hebt sie die grundlegende Differenz zwischen den jeweils ausschlaggebenden Wert-Ökonomien hervor; wenn aber dann im vorletzten Aufzug der Austausch doch stattfindet, erhält Oberon nicht nur das Kind. Zugleich wird die von ihm vertretene Sozialordnung stabilisiert, die in Analogie zum merkantilistischen Kolonialismus auf der fiktionalen Basis eines gerechten und gleichwertigen Austausches beruht. Gegenüber diesem Wertsystem, in dem das Wechselkind nur als Signifikant des Tauschwerts funktioniert, befürwortet Titania eine Ökonomie des Gütertausches, die auf den ‘Gebrauchswerten’ von Gemeinschaft, Erinnerung und gemeinsamer Freude beruht. Das Kind symbolisiert für sie eine mit seiner Mutter geteilte Vergangenheit, eine Geschichte, ein Bündel sozialer Beziehungen. Aber auch sie legt den Maßstab der kolonialistischen Ökonomie von Handel und Austausch an. Tatsächlich basieren beide Wertsysteme auf einer Verdinglichung des Ostens, durch die dessen Andersheit den Strukturen okzidentalen Denkens assimiliert werden kann. Der Osten selbst wird dabei konstruiert als eine Leerstelle, die zu nichts anderem dient, als mit dem materiellen Begehren des Abendlandes gefüllt zu werden. Es sind die Waren, die von den europäischen Handelsschiffen in die ‘Heimat’ getragen werden, die diesen Osten im europäischen Bewusstsein nicht nur verkörpern, sondern definieren: er ist genau der Ursprungsort dieser Waren. Im Konflikt zwischen Oberon und Titania werden die Bedeutung dieser Materialität sowie die Form ihrer Beherrschung verhandelt. (Raman, 246)

10. Oberons Sieg ist zugleich ein Sieg der Geschichtsversion, für die er steht, ein Sieg für die Erzählung der Aufklärung, die in der angestrebten Harmonisierung von individuellem Begehren und sozialer Ordnung enthalten ist. Aber die Figur des indischen Jungen verkörpert, dass sich diese optimistische Erzählung nur etablieren kann in der Herrschaft über seinen – zum Objekt gemachten – Körper. Die Übertragung des Kindes an Oberon ist ein dramatisches Bild für die materielle Unterwerfung des Kolonialisierten im kolonialistischen Tauschprozess. Am Ursprung der Geschichte von der Aufklärung und ihren universalistischen Kategorien von menschlicher Liebe und Leiden markiert ‘race’ einen kritischen Riss zwischen solchen universalistischen Ansprüchen und ihrer Verankerung in Praktiken der materiellen Unterdrückung; ‘race’ fungiert als ein Moment der Differenz, die materiell eingeführt werden muss, um die ideologische Konstitution eines abendländischen Subjekts und einer Geschichte jenseits von Differenz zu ermöglichen. (Raman, 246f.)

11. Shakespeares ambivalenter Umgang mit ‘race’ reflektiert in gewisser Weise die historische Unmöglichkeit, im 16. Jahrhundert das ethnisch Andere anders als ein vom abendländischen, imperialistischen Begehren projiziertes Objekt zu fassen. Die Auslöschung dient letztendlich den sich abzeichnenden eurozentristischen Konzepten von Subjektivität und Geschichte, die die Aufklärung entfaltet. Ihre Realität ist verankert in der materiellen Unterwerfung von Gruppen, die als ‘anders‘ markiert sind, und diese Praxis ist es, die ‘race’ als Kategorie konstituiert. (Raman, 248)

12. Während einerseits ‘kanonische’ Interpretationen häufig die Logik der interpretierten Texte reproduzieren in Form einer unreflektierten Übernahme von Kategorien, an deren Entstehung und Etablierung diese Texte selbst beteiligt waren, so setzen sich andererseits Lektüren, die von literaturtheoretisch reflektierter Position aus solche ‘naiven’ Interpretationen unterlaufen wollen, dem Risiko aus, ihre eigenen Voraussetzungen zu universalisieren. (Raman, 248)

13. Die Tilgung von ‘race’ ist konstitutiv für solche theoretischen Orientierungen, die in der Interpretation kanonischer Texte der abendländischen Literaturtradition entwickelt wurden. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, dann steht eine direkte Anwendbarkeit der entsprechenden Literaturtheorien auf Texte außerhalb dieser Tradition in Frage. Die Interpretation solcher Texte erzwingt vielmehr eine Transformation des theoretischen Apparates selbst. Das bedeutet nicht, dass abendländische Literaturtheorie auf nicht-abendländische Texte schlechthin unanwendbar ist – aber wir können nicht erwarten, dass ihre Applikation den gleichen Mustern folgt und zu vergleichbaren Ergebnissen führt. (Raman, 249)

14. Die Arbeit von Autoren wie Houston Baker oder Henry Louis Gates jr. konzentriert sich darauf, einerseits das Verhältnis zwischen Literaturtheorie und afroamerikanisch-kultureller Produktion zu überdenken und andererseits eine literarische und ästhetische Tradition zu entwickeln, die durch genau das bezeichnet wird, was Gates als „signifyin(g) black difference“ bezeichnet. Er lokalisiert diese Differenz in der Tatsache, dass sich ‘black’-Texte auf mindestens zwei unterschiedliche textuelle Traditionen beziehen. Einerseits werden diese Texte von der abendländischen Literaturtradition formiert und antworten auf sie, andererseits beruhen sie auf anderen, einheimischen Traditionen. Der ‘schwarze’ Text verweist nicht auf irgendeine essentielle ‘Schwärze’, gebunden an die Hautfarbe des Autors, sondern er wird genau in diesem ‘Dazwischen’ lokalisiert, d.h. er wird definiert durch den Zusammenhang, der ihn sowohl mit der abendländischen als auch mit einheimischen Literaturtraditionen verbindet, ohne dass er auf das eine oder das andere reduziert werden könnte. (Raman, 249)

15. Wir können daher die literaturtheoretische Funktion von ‘race’ positiv bestimmen als Rückwendung auf einheimische textuelle Traditionen, mit dem Ziel, diese als Traditionen zu entfalten und daraus wieder einen den Texten angemessenen theoretischen Rahmen zu erzeugen. Anvisiert wird die Dekolonisation von Literatur und Literaturtheorie. (Raman, 249f.)

16. Diesem Entwurf ist die Gefahr inhärent, „Dokolonisation zu verwechseln mit der Wiederherstellung einer [idealisierten] präkolonialistischen Realität“. (Ashcroft 1989, 30) Das von Aimé Césaire und Leopold Sedar Senghor entwickelte Konzept der Négritude stellt den einflussreichsten Versuch dar, die Eigenart der ‘black’culture und Identität herauszustellen: „‘black’culture ist eher emotional als rational; sie betont Integration gegenüber Totalität und Zergliederung; [...] sie beansprucht eine distinkte afrikanische Perspektive auf Raum-Zeit-Relationen, Ethik und Metaphysik“ (Ashcroft 1989, 21). Wie Frantz Fanon geltend macht, war der Rückgriff des Négritude-Konzepts auf einen vom Kolonialismus zerstörten panafrikanischen Identitätsbegriff nicht weniger fiktiv als die aus kolonialistischer Perspektive vermittelten Bilder afrikanischer Kulturen. Darüber hinaus hing diese Fiktion selbst von Kategorien ab, die die Kolonialmächte erst eingeführt hatten: ‘Afrikaner’ gibt es nur, weil die Differenzen verschiedener afrikanischer Stämme mit ihren vielfältigen kulturellen Traditionen durch die gemeinsame Differenz zur herrschenden Kolonialmacht überdeckt wurden. „Négritude“, so Fanon, „war die affektive, wenn nicht logische Antithese zur Beleidigung der Menschheit durch den weißen Mann“ (Fanon 1966, 13). (Raman, 250)

17. Diesem Problem begegnet beispielsweise Gates mit der Weigerung, ‘race’ als die Figur einer „endgültigen, nicht reduzierbaren Differenz zwischen Kulturen, linguistischen Gruppen oder Angehörigen spezifischer Glaubenssysteme“ zu behandeln (Gates 1985, 5).

Gates liest Ismael Reeds Roman Mumbo Jumbo als eine kritische Reflexion über kanonische Genres des Abendlandes ebenso wie über vorausgehende ‘schwarze’ Versuche, eine alternative „Gefühlsstruktur“ außerhalb der metaphysischen Voraussetzungen abendländischen Schreibens zu positionieren. Reed etabliere sich als Teil einer bestimmten Herkunft, indem er die überkommenen und konventionellen Gefühlsstrukturen destabilisiert, die ihn mit dieser Herkunft verbinden. (Raman, 250f.)

18. Auf der Ebene von Literaturkritik sucht Gates eine Position, die derjenigen Reeds analog ist: das zum Standard zeitgenössischer Literaturtheorie gewordene Saussuresche Konzept der Signifikation reformulierend, identifiziert Gates alternierende Modi der Signifikation, in denen sich die Eigenheit einer ‘black’tradition  begründet. Diese kann nun beschrieben werden als Prozess eines „signifyin(g)“, d.h. einer doppelten Signifikation, die sowohl auf „eine ununterbrochene Linie von Figurationsmustern innerhalb ‘black’ cultures als auch auf die kanonischen Formationen abendländischer Literatur verweist (Gates 1987, 237). Nur als Zusammenhang dieser differentiellen Verhältnisse kann der ‘black’-Text definiert werden. (Raman, 251)

19. Zwei zentrale Strategien postkolonialistischer Literatur und Literaturtheorie, ihre eigene Identität zu definieren, sind zu unterscheiden: Aufhebung (abrogation) und Aneignung (appropriation). Beide Modi setzen voraus, dass die Sprache kein neutrales System für die Übermittlung fixierter Bedeutungen bildet, sondern eher als ein Medium der Macht aufzufassen ist, in der die Vorherrschaft einer Bedeutung von anderen, konkurrierenden entschieden wird. Aufhebung kann als Negation der normativen Kategorien verstanden werden, in denen eine imperialistische Kultur bestimmte interpretative Strukturen als die einzig gültigen und möglichen Formen des Denkens und Ausdrückens fixiert. Die Identifikation von ‘Schwärze’ mit Abwesenheit etwa spiegelt die historischen Verdrängungsprozesse wider, in denen imperialistische Mächte die semantischen Zirkulationen so den kolonialen Machtstrukturen unterworfen haben, dass kolonisierte Subjekte nur noch innerhalb dieser Strukturen ‘erzeugt’ werden können. Das Konzept der Aufhebung bestreitet den Wert derartiger Normen und verweigert ihnen die Anerkennung als einzig legitime Garantie von Sinn. Für die Négritude-Theorie folgt aus dieser Verweigerung, dass eine ‘afrikanische Erfahrung’ als ‘authentisch’ reklamiert wird, die als alternative Repräsentation der ‘Afrikaner’ den Gegenpol bilden soll zur herrschenden, von einem imperialistischen Zentrum, zu dem die Afrikaner nicht gehören, getragenen Repräsentation (Ashcroft 1989).

Aneignung dagegen strebt eine Rekontextualisierung der kolonialistischen Sprache an, in der die impliziten geschichtlichen Verbindungen zwischen dem Schweigen innerhalb dieser Sprache und dem Zum-Schweigen-Bringen des kolonialisierten Subjekts sichtbar werden. Hinter diesen Aneignungsstrategien steht die Einsicht, dass der Erfolg kolonialistischer Unterdrückung nicht nur auf ihrem direkten Zugriff auf Eigentum und Leben beruht, sondern, wie Todorov zeigt, auch auf der Kontrolle der Kommunikationsmittel (Todorov 1974). Tatsächlich können materielle Unterdrückung und Unterdrückung einheimischer Sprachen nur systematisch durch die Produktion eines Diskurses und eines Bereichs kultureller Symbolik aufrecht erhalten werden, in dem determiniert wurde, was das kolonialisierte Subjekt wissen konnte und wie es wissen konnte. Ziel von Aneignung ist es daher, die Kontrolle über die Mechanismen und Institutionen zu erlangen, in denen Sinn erzeugt wird, das heißt, über die Strukturen, die die Erzeugung von Wissen beherrschen. Strategien der Aneignung unterminieren den kolonialistischen Diskurs und seine Ansprüche der Universalität und Zentralität, indem sie das Verhältnis von Sprache und der ideologischen Produktion einzelner Sinneffekte sichtbar machen. Aber jenseits dieser Subversion benötigen wirkungsvolle Aneignungsstrategien eine Form von Rezentalisierung, um die eroberte Kontrolle der kolonialen Sprache durch die Kolonialisierten zu behaupten. (Raman, 251f.)

20. Postkolonialistisches Schreiben entsteht in einem Raum, der zwischen Aufhebungs- und Aneignungsstrategien gespannt ist. Es muss seine eigene Verschiebung durch die Strukturen des Kolonialismus stets zweifach verhandeln: indem es eine in Sprache und institutionelle Strukturen eingebettete koloniale Autorität negiert, während es zugleich diesen Hintergrund in eine produktive Quelle der eigenen, als historische Form im Kampf um Bedeutung gewonnenen Identität transformiert.

Im Konzept der Négritude wird die Logik des Imperialismus lediglich in umgekehrter Form wiederholt. Aber es gibt komplexere Aufhebungsstrategien, die sich der Unmöglichkeit einer Rückkehr stellen, d.h. der Notwendigkeit, Hybridität als historischen Zustand des kolonialisierten Subjekts in der Zeit der Dekolonisation anzuerkennen (Bhabda 1986; 1989). Eine solche Reaktion besteht darin, die vom Kolonialismus privilegierte Sprache von innen her zu unterlaufen in der Transformation ihrer internen semantischen und syntaktischen Formen. (Raman, 252)

21. In seinem Roman Voice überträgt Gabriel Okara vorsichtig syntaktische und lexikalische Formen seiner Muttersprache Ijaw ins Englische, um die privilegierte Sprache des Imperialismus zu transformieren. Das Ergebnis ist eine hybride Sprache, die mittels des Ijaw das Englische auf neue Sinneffekte hin öffnet, um gelebte Wirklichkeit zu re-konstruieren, die selbst hybrid ist, d.h. aus einer Kombination von Fragmenten der Ijaw-Kultur mit einer kolonialistisch strukturierten Welt besteht. Das Rearrangement englischer Wörter innerhalb fremder syntaktischer und diskursiver Sprachstrukturen hebt den normativen Sprachgebrauch des Englischen auf und unterläuft dessen Verbindung mit überkommenen Formen kolonialistischer Praxis. (Raman, 253)

22. Für karibische Autoren wie Derek Walcott oder V.S. Naipaul stellt sich die Frage nicht, welche Sprache sie wählen sollen: in der Karibik haben die kolonialistischen Strukturen die ursprüngliche Kultur so vollständig aufgesogen, dass keine linguistisch unabhängigen Muttersprachen mehr existieren. Hier bleibt allein der Weg einer Reformierung des Englischen, einer umwandelnden Aneignung dieser die Karibik lange Zeit beherrschenden Sprache, die eine neue Geschichte und eine neue Identität formulierbar macht.

[Zu einer Textpassage von Naipaul:] Unlesbar als ‘richtiges Englisch’, ist der Text zu lesen als Figur, die die Bedingungen seiner Unlesbarkeit verdeutlicht: die verstellten Satzzeichen verweisen auf die Entstellungen des Kolonialismus, auf eine für den Postkolonialismus konstitutive Entfremdung. Zugleich transformiert die ‘Notiz’ unabsichtlich das ‘richtige Englisch’ und produziert einen Sinn, der gesicherte Eigentumsstrukturen unterläuft. (Raman, 253)

23. Die von Okara propagierte Strategie der Aufhebung ähnelt den Modi der Aneignung, in denen im postkolonialistischen Schreiben „der Sprache [der kolonialistischen ‘Metropolen’] die Last der eigenen kulturellen Erfahrung [der kolonialisierten ‘Peripherie’] aufgebürdet wird“ (Ashford, 1989, 38). In der Tat können wir die Verschmelzung des Englischen mit Ijaw in Okaras Texten als eine Aufhebung durch Aneignung verstehen: der Gebrauch des Ijaw negiert die normativen Sprachstrukturen des Englischen, um diese als Ijaw, als die eigene Muttersprache zu reformulieren. Nichtsdestoweniger bekräftigt Okara in dieser Figur die Umwandlung der dominanten Position der englischen Sprache noch einmal, weil er weder Notwendigkeit noch Richtung einer solchen Umwandlung hinterfragt. Die ideolgischen Effekte des Kolonialismus manifestieren sich in dem unreflektierten Bedürfnis, Englisch zur Zielsprache von Übersetzungen zu machen. (Raman, 254)

24. Im größten Teil der Karibik (uns bis zu einem gewissen Grad auch in Indien) lässt die spezifische Form kolonialistischer Herrschaft (nur) die Möglichkeit, die Spannung zwischen ‘ordentlichem’ Englisch und lokalen Varianten für eine eigenständige Literatur produktiv zu nutzen. Die Konstellation, die Ngugi für Afrika beschreibt, sieht anders aus: während der „Imperialismus immer noch die Wirtschaft, die Politik und die Kulturen kontrolliert“, formieren sich „die unaufhörlichen Kämpfe des afrikanischen Volkes um eine eigene kreative Rolle in der Geschichte mit Hilfe der tatsächlichen Kontrolle aller Möglichkeiten gemeinschaftlicher Selbstbestimmung in Raum und Zeit“ (Ngugi 1985). Diese Aneignung geht aus von dem Versuch, das Verhältnis der Sprachen kolonialistischer (und postkolonialistischer) Verwaltungen zu den anderen afrikanischen Sprachen neu zu bestimmen. Ngugi bestreitet nicht den Einfluss der englischen, französischen oder portugiesischen Literatur auf moderne afrikanische Texte, er kämpft jedoch dagegen, diesen Einfluss als quasi ‘natürliche’ Gegebenheit zu akzeptieren und zu affirmieren. Seine Argumentation will die Texte afrikanischer Traditionen neu positionieren: statt etwa über den Ort afrikanischer Literatur innerhalb anglistischer Fakultäten zu diskutieren, sollte diese Literatur selbst „ins Zentrum [rücken], damit wir andere Kulturen in Relation zu ihr betrachten können“ (Ngugi 1972). (Raman, 254f.)

25. Das Joch des Kolonialismus abzuwerfen bedeutet, wie Frantz Fanon immer wieder betont hat, noch nicht das Ende des Kampfes gegen den Kolonialismus. Dieser besteht in einer postkolonialen Welt fort – in Form institutioneller Strukturen und ihrer Internalisierung, in Form unreflektierter Kategorien und Praktiken, die die Grenzen dessen bestimmen, was gedacht und erlebt werden kann.

Analog hierzu bedeutet die Realität dessen, was wir als postkoloniale Verfassung bezeichnen könnten, nicht, dass wir ‘race’ hinter uns gelassen haben. An die Stelle der expliziten Formen der Unterdrückung ist deren implizites, aber umso beharrlicheres Fortwirken innerhalb gelebter Strukturen unserer sozialen Welt getreten. The racial turn beschreibt eine Reformulierung von Geschichte und Literatur mit dem Ziel, die Bedingungen der Unterdrückung in Bedingungen der Befreiung zu verwandeln. Die Spannungen, die aus dieser doppelten Bewegung resultieren, sind auf der Ebene der Literaturtheorie unüberwindbar, denn sie sind Symptome einer Krise innerhalb der Lebenswelt. Literatur und ihre Kritiker tragen zur Überwindung dieser Krise bei, insoweit sie eine Transformation der alltäglichen Praktiken und ihrer Bedeutungen ermöglichen. (Raman, 255)

26. Postmodernism, poststructuralism, postcolonialism: Unser Bewusstsein von einer Übergangszeit an der Jahrtausendwende kommt in einer Reihe schon inflationärer post-Bezeichnungen zum Ausdruck, die deutlicher das Ende der vorangegangenen Epoche oder Phase markieren als den Tenor der neuen bestimmen.

Das abgrenzende Präfix post ist nicht einfach gleichbedeutend mit nach oder anti, sondern auch jenseits. (Kreutzer 1, 199)

27. Zum Postkolonialismus: Der weltgeschichtliche Bezugspunkt ist dabei die Auflösung der von den europäischen Mächten errichteten Kolonialreiche, die Nachwirkung des imperialen Erbes in den neu entstandenen Nationen (etwa in der Anverwandlung kolonialistischer Denk- und Handlungsmuster) und die Rückwirkung auf die imperialen Zentren durch den Zustrom von Einwanderern aus der Dritten Welt, die etwas vom Konfliktpotential dieses Erbes nach Europa getragen und unseren Kontinent multikulturell verändert haben. Eine komplizierte Überlagerung dieses Prozesses ergibt sich aus der Übernahme einer neoimperialen Rolle durch die Supermacht USA, die weltweit politisch interveniert, ökonomisch dominiert und kulturell Einfluss nimmt.

Die postkoloniale Literaturkritik hat ein von politischen Implikationen und kulturhistorischen Prozessen unablösbares Literaturverständnis. (Kreutzer 1, 199)

28. Es ist kein Zufall, dass die entscheidenden Impulse zur Konstitution der postkolonialen Literaturkritik von der Beschäftigung mit englischsprachiger Literatur ausgegangen sind. Denn keines der Kolonialreiche war so weltumspannend, dauerhaft und erfolgreich wie dasjenige Großbritaniens.

Die Entstehung anglophoner Literaturen in den ehemaligen Kolonien Großbritanniens hat der literarischen Weltkarte erheblich veränderte Konturen verliehen. Als neue bzw. neuerdings registrierte englischsprachige Literaturen haben sie aufgrund ihrer perspektivischen Abweichungen zugleich die Revision der aus der Kolonialzeit stammenden englischen Literatur nahegelegt. Im übrigen berühren diese Literaturen aus Übersee sich aufs engste mit der in Großbritannien aufgekommenen ethnischen Minderheitenliteratur der Immigranten aus dem Commonwealth. Gegenstand der postkolonialen Literaturkritik ist somit grundsätzlich die gesamte anglophone Literatur, die direkt oder indirekt auf die ehemaligen Kolonien Bezug nimmt. (Kreutzer 1, 199f.)

29. Zum mehrdeutigen Begriff postcolonial: Das Wort kann einmal als historische Bezeichnung verstanden werden, die den Zeitraum nach der Kolonialherrschaft und seit der nationalstaatlichen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien umreißt. In diesem Sinne ist der Begriff gleichbedeutend mit post-independence. Als historische Epochenbezeichnung lässt er sich am ehesten auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anwenden, in der die meisten Dritte-Welt-Länder diesen Status erreichten.

Der historische Begriff besagt nicht, dass mit der Unabhängigkeit der neuen Nationen das Phänomen des Kolonialismus überwunden sei. Zur Betonung dieses Unterschieds werden meist für die historisch begrenzbare Phase der direkten Abhängigkeit der unterworfenen Kolonien der Begriff colonial und für die Zeit davor und danach die Begriffe pre-colonial und post-colonial verwandt, während für die wesentlich umfassendere, tiefer gehende und stark nachwirkende Beeinflussung indirekter Art sich der Begriff imperial durchgesetzt hat.

In seiner zweiten, kultur- und literaturwissenschaftlich bevorzugten Bedeutung wird der Begriff colonial weiter gefaßt und häufig im Sinne von anti-imperialist verwendet. Der Begriff lässt sich dann auf sämtliche Wechselwirkungen zwischen (ex)colonizer und (ex) colonized anwenden.

Führende Vertreter der postkolonialen Literaturkritik wie Said oder Bhabha betrachten zwar prinzipiell beide Seiten der vom „imperialen Prozess“ geprägten Literatur, in der veranschaulichenden Praxis der Textanalyse konzentrieren aber sie sich meist entweder auf die imperialistischen Implikationen der englischen Literatur (Said) oder auf die antiimperialistischen Strategien der englischsprachigen Literaturen außerhalb Großbritanniens und der USA bzw. der ethnischen Minoritätenliteratur in beiden Ländern (Bhabha) (Kreutzer 1, 200f.)

30. Man kann also in der postkolonialen Literaturkritik zwei Hauptansätze unterscheiden. Wir haben einmal die vorrangige Analyse der vom Kolonialismus geprägten Texte der englischen Literatur aus postkolonial ideologiekritischer Sicht. Die generell den sozialen Kontext einbeziehende Diskursanalyse wird hier auf koloniale Texte angewandt, um deren imperiale Denk- und Ausdrucksmuster offen zu legen und zu hinterfragen. Wir haben zum anderen die Analyse der englischsprachigen Literaturen der (ehemaligen) Kolonien, deren Texte überwiegend aus einer fortgesetzten, variabel artikulierten anti-imperialistischen Reaktion heraus begriffen werden. Dabei zeichnet sich insgesamt eine Verlagerung zum zweiten Ansatz ab. (Kreutzer 1, 201)

31. Kritik ist vor allem gegen ein Verständnis von postcolonialism vorgebracht worden, das mehr Homogenität und Kontinuität beansprucht als der bezeichneten Sache zukommt. Es besteht dabei die Gefahr, dass die Welt wieder auf eine binäre Opposition wie eben colonial/postcolonial reduziert wird, so sehr die meisten postkolonialen Kritiker sich gegen „essentialistische“ Denkweisen verwahren. Und selbst wenn man den Begriff auf die post-independence-Phase einschränkt, fragt sich etwa, ob die daraus hervorgegangene Literatur wirklich vergleichbare anti-imperialistische Grundzüge aufweist und – elementarer noch – ob sie überhaupt maßgeblich am Problem des Kolonialerbes interessiert ist.

Die semantischen Vorzeichen der Begriffe sollten nicht im Sinne allzu festgelegter Ideen die Analyse bestimmen. Die Hauptverfechter der postkolonialen Literaturkritik entgehen nicht immer dieser Gefahr, zumal wenn sie exemplarische Textinterpretationen einem systematischen Modell einpassen. Doch oft argumentieren sie auch differenzierter als ihre Grundkonzepte es nahelegen. (Kreutzer 1, 201f.)

32. Edward W. Saids Studie Orientalism 1978) hat die postkoloniale Literaturkritik begründet. Said greift in dem Buch Ideen von Frantz Fanon und Michel Foucault auf. Fanon beschäftigte sich in seinen Hauptwerken mit den psychischen und sozialen Folgen des Kolonialismus, die eine Eskalation der Gewalt mit sich bringen. Er analysierte zumal die Rassendiskriminierung, die in ihrer fiktiven Stereotypik die Basis des Kolonialsystems bildet, indem sie das Selbstwertgefühl der Schwarzen zerstört oder sie in die selbstentfremdende Anpassung treibt. Ein „manichäischer Wahn“ erzeugt mit der Dichotomie von Unterdrücker und Unterdrücktem zugleich die einseitig koordinierten Gegensätze von Schwarz und Weiß, Wahr und Falsch, Gut und Böse, die als Grundelemente eines Herrschaftsdiskurses das repressive System stabilisieren. Der Prozess der Entkolonialisierung beginnt mit der Entmythisierung solcher Denkmuster, endet aber keineswegs mit der nationalen Befreiung, da diese nicht die Machtübernahme einer kolonialistisch gesinnten einheimischen Bourgeoisie verhindern kann und eine revolutionäre Veränderung des Gesellschaftssystems nach sich ziehen muss. Auch Foucault setzt sich kritisch mit dem systemerhaltenden Herrschaftsdiskurs auseinander.

Said wendet solche Denkansätze in Orientalism auf den hegemonialen Diskurs an, mit dem der Westen ein diskriminierendes, quasi-mythisches Bild vom Orient entworfen und eine sich davon abhebende eigene Identität geschaffen hat, um mit der Autorität des Überlegenen den Raum des islamisch-arabischen Nahen Ostens kolonialistisch beanspruchen zu können. Das geschieht in der Praxis durch die bewusste oder unbewusste Manipulation der Darstellung des Orients in Wort und Bild, die einseitige Verfolgung wissenschaftlicher Interessen, Verbreitung weltanschaulicher Doktrinen oder Bereitstellung kultureller Dokumentation (einschließlich der stereotypisierenden Unterstellung einer orientalischen Disposition zur Irrationalität, Sensualität, Dekadenz, Feminität, Despotie, Brutalität). Orientalismus ist für Said die kontinuierliche Projektion eines so „orientalisierten“ Orients, und die Analyse des orientalistischen Diskurses, wie er in diversen Texten explizit oder implizit zum Ausdruck kommt, hat entsprechende Denk- und Ausdrucksschemata kritisch offen zu legen und intertextuell auf rekurrente oder historisch modifizierte Vorstellungsmuster hin zu sichten. (Kreutzer, 202f.)

33. Said berührt sich im Ansatz und in der Methode offensichtlich mit Frederic Jameson, dem amerikanischen Anglisten, der in The Political Unconscious (1981) eine dialektisch ideologiekritische Texttheorie entwirft, indem er Texte von historisch bedingten inneren Widersprüchen und zumal durch vom kollektiven politischen Unbewussten gesteuerte Aussparungen gekennzeichnet sieht: Funktion der Textanalyse ist das Herausbringen des Nichtgesagten. (Kreutzer, 203)

34. Said entwickelt in Culture and Imperialism (1993) sein Konzept in zweierlei Hinsicht weiter. Er zielt nun auf eine umfassende Theorie des Zusammenhangs von Kultur und Imperialismus, indem er den Gegenstandsbereich auch auf außerorientalische Kolonien ausdehnt. Er betont sodann stärker die anti-imperialistischen Widerstände, um zu einem ausgeglichenerem Bild der Kolonilisierungs- und Entkolonisierungsprozesse zu kommen.

Leitidee des Buches ist die „kontrapunktische Lesestrategie“. Said versucht damit, von den binären Oppositionen wegzukommen. Entsprechend lehnt er essentialistische Argumentationen – im Namen etwa des Europäers gegen den Afrikaner oder auch umkehrt – entschieden ab und bemüht sich um eine differenzierte Erfassung der Heterogenität einer Kultur, jener als dynamische Vielfalt positiv verstandenen Hybridität, die letztlich – seiner Ansicht nach – jede Kultur kennzeichnet. (Kreutzer 1, 203)

35. Said wendet sich dem „kulturellen Archiv“ europäischer Texte zu, die mehr oder weniger ausgeprägt imperiale Züge aufweisen. Er zeigt anhand von Texten vornehmlich der englischen Literatur seit dem 17. Jahrhundert, wie das Zentrum des entstehenden Empire mit der kolonialen Peripherie assoziiert wird, die als profitable Ressource, aber kulturelle Provinz, wenn nicht gar barbarische Außenwelt erscheint. Lange vor dem eigentlichen Age of Empire in spätviktorianischer Zeit gab es ethnozentrische Schriften, deren offener Rassismus im eklatanten Widerspruch zur Humanität ihrer Autoren steht.

Said zeigt, wie z.B. Joseph Conrad trotz seiner deutlichen Kritik des Kolonialismus als eines ausgesprochen korrupten Systems letztlich doch seiner Zeit verhaftet bleibt, da er keine grundsätzliche Alternative erkennt, die den Kolonialvölkern des dunklen Kontinents das Recht auf Eigenständigkeit erlauben würde.

Said verweist darauf, dass die Ideologiekritik den Werken nichts von ihrer Komplexität nimmt – als Erzeugnisse der kreativen Imagination lassen sie sich nicht als Reflexe außerliterarischer Vorgaben reduzieren. (Kreutzer 1, 204)

36. Zur kontrapunktischen Sicht Saids gehört, dass er die europäische Kultur stärker von nicht-europäischen Einflüssen geprägt sieht, als diese ihrem Verständnis nach vielfach zugeben mag. Schon die Quellen der abendländischen Tradition in der Antike waren stärker von Asien und Afrika geprägt als die spätere Geschichtsschreibung wahrhaben will. (Kreutzer 1, 204f.)

37. Bei der Entwicklung einer anti-imperialistischen Opposition in den Kolonien und neuen Nationen während des 20. Jahrhunderts macht Said drei Schwerpunkte aus. Zunächst steht die Rückgewinnung der eigenen Geschichte, die Wiederbelebung bodenständiger Literatur (etwa der oral tradition), die volle physische und geistige Rückeroberung und Inbesitznahme des Landes im Vordergrund. Dann entstehen in der Reibung mit der Kultur der Kolonialmacht konternde Alternativen von der Peripherie aus, die auch die Kultur des selbsternannten imperialen Zentrums verändert. Schließlich wird die vorübergehend zwangsläufig national orientierte Phase der in den ehemaligen Kolonien wiederbelebten und neu entstandenen Kultur in Richtung einer umfassenderen Idee von freier, humaner Gemeinschaft überwunden. So kann eine neue Weltliteratur entstehen – im Sinne der interkulturell vernetzten einen Welt, in der eine Pluralität von Texten zum gleichberechtigten Austausch kommt. Die größte Gefahr für die Weiterentwicklung so positiver Ansätze sieht Said in den imperialistischen Tendenzen, die von den USA ausgehen, nicht zuletzt mit Hilfe der Massenmedien, die sich weltweit amerikanisierend oder polarisierend auswirken. (Kreutzer 1, 205)

38. Der zweite Repräsentant der postkolonialen Literaturkritik ist der Inder Homi Bhabha, dessen Essaysammlung The Location of Culture(1994) sich in wesentlichen Punkten mit Saids Ideen berührt, auch wenn er stärker psychoanalytische Betrachtungsweisen einbezieht und sein literarisches Material häufiger aus der zeitgenössischen Literatur der postkolonialen Länder bzw. den Diaspora-Literaturen nimmt. Beide schreiben mit dem persönlichen Engagement des aus der Dritten Welt kommenden Kosmopoliten; beide argumentieren eklektizistisch und knüpfen vor allem bei Fanon und Foucault an; beide betrachten die Literatur im politischen Kontext und als kulturelles Phänomen im interdisziplinären Vergleich mit anderen Texten, Künsten und Medien; beide betrachten den Prozess kultureller Identitätsbildung als Artikulation von Differenzen und sehen zumal die Notwendigkeit unterdrückter oder verdrängter Kulturen, gegen die bevormundende Repräsentation ihrer selbst zu intervenieren. In Übereinstimmung mit Said insistiert Bhabha auf dem Prinzip einer Hybridität, die gegen die hegemonialen Darstellungsnormen Widerstand anmeldet und Gegendarstellungen geltend macht, ohne die Opposition nur umzupolen. Bhabhas postkoloniales Projekt verfolgt eine „Befreiungsästhetik“, deren Entwicklungspotential er am ehesten in der double vision der im Grenzbereich zwischen den Kulturen sich bewegenden Migranten und Randständigen erkennt. Die so positionierten Künstler können die komplexe Grenzzonenperspektive in kreativer Übersetzungs- und Transformationsarbeit vermitteln und so paradigmatisch dazu beitragen, dass soziale Gegensätze nach Rasse, Klasse, Geschlecht, Nation, Generation oder Standort überwunden werden. (Kreutzer 1, 206f.)

39. Als dritte muss die Inderin Gayatri Chakravorty Spivak genannt werden, näher als die beiden anderen an Derridas Dekonstruktionsphilosophie und zugleich entschiedener marxistisch, vor allem aber feministisch engagiert. Bei ihr findet jene race-gender-class-Triade, die der postkolonialen Perspektive besonders naheliegt, ihre volle Auswirkung. Dabei geht es ihr zumal um eine – der eigenen Privilegiertheit kritisch bewußte – Problematisierung der Situation jener „subalternen“ Mehrheit der unterdrückten ländlichen Bevölkerung Südasiens, von deren Bewusstseinslage und Artikulationsmöglichkeiten eine repräsentative Darstellung der Region entscheidend abhängt. Sie berührt sich darin eng mit dem progressiven Projekt der „Subaltern Studies“, das von einer Gruppe indischer Historiker verfolgt wird. Die südasiatische Frau ist doppelt unterdrückt, sie ist als Opfer der einheimischen patriarchalischen Tradition und des britischen Imperialismus zum Schweigen verurteilt und kann auf keine angemessene historische Beschreibung ihrer Situation hoffen.

Sie postuliert eine Kritik der Entwicklungsideologie, deren Bezugsrahmen gleichermaßen den „transnationalen Migranten“ in der Ersten Welt und den „obskuren Subalternen“ in der Dritten Welt erfaßt. (Kreutzer 1, 206f.)

40. Einen systematischen Überblick über die Theorie und Praxis der postkolonialen Literaturen liefern die drei Anglisten Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin in The Empire Writes Back (1989). Ihr Modell beruht auf folgenden Gedanken. Die postkolonialen Literaturen können nicht einfach als „Verzweigungen“ der englischen Literatur angesehen werden, sondern sind als Ausdruck eines Entkolonisierungs- und Dezentralisierungsprozesses zu verstehen, der nach dem komplementären Prinzip der „abrogation und appropriation“ verläuft. Gemeint ist damit die subversive Verweigerung des imperialen Diskurses und die spannungsvoll dagegengesetzte Aneignung eines eigenständigen indigenen Diskurses. Diese kritische Neuorientierung vollzieht sich in einer dynamischen Hybridität, die kreative Energien freisetzt.

Dieser Zielvorstellung dient weder eine regressive Wiederanknüpfung an „unverfälschte“ vorkoloniale Kulturtraditionen noch die pure Abkapselung einer auf nationale, regionale Selbständigkeit fixierten Kultur, da beide Tendenzen den kolonialgeschichtlichen Einfluss leugnen: Die fortgesetzte Auseinandersetzung mit der „aufgepfropften“ Kultur ermöglicht erst die signifikante Produktivität und globale Progressivität dieser Literaturen. Eine zentrale Aufgabe kommt dabei der Hinterfragung des imperialen Diskurses durch die Strategien des rereading und rewriting zu, d.h. der Revision des Kolonialerbes durch die Rekonstruktion der Geschichte und Reinterpretation der Literatur. Der literarische Kanon muss gründlich enthierarchisiert werden, das Einzelwerk der englischen Literatur neu gedeutet oder mit schöpferischen Alternativversionen beantwortet werden. Beispiel: Jean Rhys Wide Sargossa Sea (1966). (Kreutzer 1, 207f.)

In der subversiven Verweigerung des imperialen Diskurses (abrogation) und der Aneignung eines indigenen Diskurses (appropriation) entsteht eine dynamische Hybridität . (Kreutzer 2, 436)

41. Die drei australischen Anglisten stehen den Theorien von Said, Bhabha und Spivak recht nahe, zumal in der Betonung des Hybriditätsprinzips.

Der literarische Entkolonisierungsprozess beginnt für sie bei der Sprache: Dem privilegierten Standard des (großgeschriebenen) English werden die Varietäten des (kleingeschriebenen) english entgegengesetzt, die durch karibische, indische, australische und andere Besonderheiten dieser Art markiert sind. Die stilistische Palette reicht hier vom dosierten Einsatz eines einheimischen Vokabulars über das code switching zwischen Standard und Varietät bis zur varietätenspezifischen Durchstilisierung eines Textes. (Kreutzer 1, 208)

42. Im Hinblick auf die Entwicklungszusammenhänge dieser Literaturen unterscheiden die Verfasser drei Modelle der Theoriebildung: 1. nationale oder regionale Theorien, die sich den Wesensmerkmalen einer Nationalliteratur wie der kanadischen oder einer übernationalen Regionalliteratur wie der karibischen widmen; 2. ethnische Theorien, die sich auf die Literatur einer Rasse wie der schwarzen konzentrieren, um die Gemeinsamkeiten eines „atlantischen“ black writing zu kennzeichnen; 3. komparatistische Theorien, die den zwischen diversen Literaturen bestehenden Wechselwirkungen oder Affinitäten gelten. (Kreutzer 1, 209)

43. Die von postkolonialen Autoren formulierten Poetiken offenbaren Orientierungsversuche, die von Besonderheiten des eigenen Kulturraums, der eigenen ethnischen Gruppe oder des Kolonialerbes der eigenen Nation ausgehen, um spezifische Schreibweisen zu entwickeln. So gehört es zu den Besonderheiten des indischen Subkontinents, dass hier eine Jahrtausende zurückreichende literarische Kultur mündlicher wie schriftlicher Überlieferung existiert und eine Reihe selbständiger Sprachen der Gegenwartsliteratur zur Verfügung stehen. Indische Autoren tragen dem Rechnung, indem sie etwa auf das Motivrepertoire der Sanskrit-Epen oder mündliche Erzählmethoden zurückgreifen. Zugleich treffen sie mit der Wahl der Schreibsprache eine folgenreiche Entscheidung, die auf nationale Kommunikationsmöglichkeiten wie internationale Literaturmarktbedingungen Rücksicht nimmt und im Fall indoenglischer Texte vielfach dazu führt, dass ein kosmopolitisches Publikum um den Preis eines urban verkürzten Indienbildes erreicht wird. (Kreutzer 1, 209)

44. ... Said und Bahba, die mit dem Stichwort postcolonial den Schlüssel zu einer an der Jahrtausendwende wegweisenden Weltsicht gefunden zu haben meinen.

Gegen die alles vereinnahmende Idee der postkolonialen Perspektive. Vielleicht wäre eine neutralere Perspektive hier schon hilfreich. Ähnlich wie man „Multikulturalität“ als sachliche Bezeichnung für die Existenz diverser Kulturen in einem Bezugsfeld vom „Multikulturalismus“ als programmatisch geprägtem Schlagwort unterscheiden kann, lässt sich „Postkolonialität“ als Sachbegriff für eine historische Befindlichkeit nach der Kolonialzeit verstehen und vom „Postkolonialismus“ als ideologiekritisch besetztem Begriff abheben. (Kreutzer 1, 212)

45. Postkoloniale Literaturtheorie und -kritik: Theorie und Kritik, die aus Ansätzen des Postkolonialismus heraus die vom Kolonialismus beeinflussten bzw. sich von ihm absetzenden Literaturen zum Gegenstand hat. Die Theorie wurde u.a. E.W. Said, G.Ch. Spivak und H.K. Bhabha, Lit.wissenschaftlern aus der ‘Dritten Welt’, in den USA und England seit den späten 70er-Jahren entwickelt, wobei der frz. Poststrukturalismus entscheidende Anstöße gab und auch einige Affinitäten zu Postmoderne/Postmodernismus bestehen. (Kreutzer 2, 435)

46. Im weitesten Sinne ist die (von der Theorie auch zunehmend beeinflusste) Kritik definierbar als „a set of reading practices ... preoccupied principally with analysis of cultural forms which mediate, challenge or reflect upon the relations of domination and subordination – economic, cultural and political – between (and often within) nations, races and cultures, which characteristically have their roots in the history of modern European colonialism and ... continue to be apparent in the present era of postcolonialism“ (Moore-Gilbert 1997, 12). (Kreutzer 2, 435)

47. Race (dt. Rasse), biologische und anthropologische Differenzierungskategorie, die im Rahmen der Klassifikationsprojekte der Aufklärung zentral relevant für die Beschreibung und Erfassung des Menschen wurde. Mit den darwinistischen Theorien des späten 19. Jhs. wurde R. endgültig zur Leitmetapher für human- wie sozialwissenschaftliche Diskurse, zum Bezugspunkt für hierarchisierende Modelle von Natur und Gesellschaft. Ideologische und wissenschaftliche Interessen liefen ineinander.

Inzwischen ist der Begriff in bezug auf den Menschen wissenschaftlich weitgehend diskreditiert, erweist sich aber weiterhin als ideologisch höchst wirksam. (Meyer, 450f.)

48. Aufgrund der Einsicht, dass R. eher kulturell als biologisch kodiert ist, kommt die Begriffsdefinition der der Ethnie oft sehr nahe.

Eine Reaktion auf die Einsicht in die ungebrochene Wirksamkeit des Begriffs ist seine Neubesetzung im Engl. Anders als ‘Rasse’ wird R. v.a. von schwarzen Kritikern nicht rein pejorativ gebraucht, sondern als Mittel der Selbstsetzung und Abgrenzung gegenüber dem weißen Mainstream affirmiert. (Meyer, 451)

49. Die lit.wissenschaftlichen Debatten um R. werden in der Postkolonialen Lit.theorie und -kritik intensiv geführt.. So wies K.A. Appiah auf die Bezüge zwischen den Konzepten R. und nation hin, die gerade durch literar. Texte hergestellt und kontinuierlich neu verhandelt werden.  (Meyer, 451)

50. Morrison war eine der ersten Kritikerinnen, die ihre Aufmerksamkeit von blackness, d.h. schwarzer Differenz, auch auf whiteness, d.h. den weißen Status quo, ausweitete, und damit die Konstruiertheit sämtlicher ethnischer Stereotype zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung machte. (Meyer, 451)


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