11 Weitere aktuelle Positionen (Kulturelles Gedächtnis, Interkulturelle Hermeneutik, Medientheorie)

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11.1 Kulturelles Gedächtnis/Archäologie der literarischen Kommunikation

11.12 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze

1. Der französische Historiker Maurice Halbwachs entwickelte in den zwanziger Jahren sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses („mémoire collective“), das inzwischen zu einer maßgeblichen Quelle kulturanthropologisch orientierter Literaturwissenschaft geworden ist. Halbwachs meint, das individuelle Gedächtnis des einzelnen sei stets von Formen des kollektiven Gedächtnisses geprägt. Soziale Bezugnahmen organisieren und stabilisieren die persönliche Erinnerung an vergangene Ereignisse. Im Unterschied zur abstrakten „Geschichte“, die der Historiker idealiter zu beschreiben versucht, wird das kollektive Gedächtnis vom Bedürfnis der jeweiligen Gruppe nach Konstruktion einer sinn- und identitätsstiftenden Vergangenheit bestimmt. (Martinez, 444f.)

2. In den letzten Jahren hat der Ägyptologe Jan Assmann Halbwachs’ Konzept des kollektiven Gedächtnisses aufgenommen und in die beiden Untertypen eines „kommunikativen“ und eines „kulturellen Gedächtnisses“ zerlegt. Das kommunikative Gedächtnis  beruht auf persönlich beglaubigten Erinnerungen an zeitgenössische Ereignisse. Nach ungefähr achtzig Jahren weicht das kommunikative Gedächtnis der Zeitzeugen dem kulturellen Gedächtnis. Dieses gestaltet Vergangenheit mit Hilfe von festen Objektivationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art.

(>Literaturtheoretische Grundannahmen) Der literarische Text wird in den übergreifenden Rahmen der kulturellen Sinnproduktion gestellt. (Martinez, 445)

3. Als wir Mitte der siebziger Jahre den Plan zu dem Unternehmen „Archäologie der literarischen Kommunikation“ fassten, hatte die Konjunktur der Theoriebildung in den Sprach- und Literaturwissenschaft ihren Höhepunkt erreicht. Die historische Dimension drohte darüber vollkommen aus dem Blick zu geraten.

Archäologie: das bedeutete nicht nur die zeitliche Abfolge literarischer Diskurse, sondern die Frage nach Anfängen und Ursprüngen, Vorstufen und Vorschulen, also über die Literatur in einem engeren Sinne hinaus in das, was ihr voraus- und zugrunde liegt, sie hervorbringt und ermöglicht. Der Archäologie der literarischen Kommunikation geht es um eine ‘Geschichte des Textes vor der Literatur’ oder doch zumindest darum, solche ‘vorliterarischen’ Zeitalter und Nebenlinien in ihre Betrachtung einzubeziehen. Der neuzeitliche Sonderstatus der Literatur ist eine Errungenschaft der jüngsten abendländischen Entwicklung und kann nicht unbesehen auf ältere und außereuropäische Literaturen übertragen geschweige denn universalisiert werden. (Assmann, 200)

4. Wir verwenden daher den Begriff ‘Literatur’ im weitesten Sinne von ‘schriftlicher Überlieferung’ und lesen auch die neueren literarischen Texte nicht in ihrer Einzigartigkeit, sondern in ihrer Eingebundenheit in den Gesamtprozess kultureller Sinnproduktion. Literatur in diesem weiten Sinne wird gleichbedeutend mit ‘Schrift’, und zwar nicht im Sinne von Schriftsystem, sondern von Schriftkultur: Schrift als ein Medium des kulturellen Lebens, der Produktion, Speicherung, Überlieferung und Kommunikation von Sinn.

Diesem erweiterten Begriff von Literatur, dem die Literaturwissenschaft mit ihren Methoden nicht gerecht werden kann, galt das Interesse eines interdisziplinären Arbeitskreises, den wir Ende der siebziger Jahre ins Leben gerufen haben. (Assmann, 200f.)

5. Die beiden ersten Tagungen widmeten sich unter dem Titel „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ dem Zentrum der anvisierten Thematik; aus ihnen ging der 1983 publizierte Band Schrift und Gedächtnis hervor. Er knüpfte an ein Interesse am Wesen von Schrift und Schriftlichkeit an, das in den sechziger Jahren alle Bereiche der Geisteswissenschaften in der Form eines Paradigmenwechsels ergriffen hatte. (Assmann, 201)

6. Zwei Forschungsrichtungen sind zu unterscheiden. Die eine ist die historische Medienforschung nach dem Muster der sogenannten Toronto-Schule in Kanada. Eric Havelock z.B. verstand sein Wwerk als Fortsetzung der Untersuchungen Milman Parrys, der in den zwanziger und dreißiger Jahren der Homerforschung einen neuen Anstoß gab, als er die Kompositionsgesetze mündlicher Epik an lebendigen Traditionen auf dem Balkan studierte. Die zentrale These dieser Richtung lautet: Kulturen sind durch die Kapazität ihrer Medien, d.h. ihrer Aufzeichnungs-, Speicherungs- und Übertragungstechnologien definiert. Mit dieser These rücken Dinge wie Schriftsysteme und -institutionen, Kommunikationsformen, Transmissionskanäle von Nachrichten sowie die Speicherungstechniken von Wissen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. An die Schule von Toronto schließt insbesondere F.A. Kittler an. Die Pointe und Provokation dieser Richtung besteht darin, dass sie aus der Literaturwissenschaft eine Ingenieurwissenschaft macht. Aufseiten der Ethnologie gehört in diesen Zusammenhang die kulturanthropologische und entwicklungssoziologische Frage nach den Folgen „der Schriftlichkeit“, wie sie insbesondere von Jack Goody entfaltet wurde. (Assmann, 201)

7. Als ein zweiter Strang ist die französische poststrukturalistische Schriftphilosophie zu nennen, die sich mit den Namen Foucault, Lacan und vor allem Derrida verbindet. Hier geht es nicht mehr um Medien und ihre historischen Ausprägungen, sondern ganz allgemein um die unhintergehbare Medialität der Schrift.

Dieses neue Paradigma wollten wir sowohl von den Höhen der reinen Theoriebildung als auch aus der Abgeschlossenheit fachinterner Debatten herausholen und zu einem Thema historischer und interdisziplinärer Forschung machen. (Assmann, 201f.)

8. Kulturelles Gedächtnis. Konrad Ehlich definiert den Text als eine „wiederaufgenommene Miteilung im Rahmen einer zerdehnten Situation“. Die Kommunikationssituation kann räumlich und zeitlich zerdehnt werden, wenn eine Zwischenspeicherung der Rede in der wechselseitigen Abwesenheit von Sprecher und Hörer gesichert ist. Die mündliche Form der zerdehnten Mitteilung ist das Boteninstitut. Der Bote memoriert im Wortlaut die Mitteilung eines Absenders und ermöglicht so, dass sie an einem anderen Ort zu späterer Zeit von einem Empfänger wieder aufgenommen werden kann. Was der Bote vermag, kann Schrift in einem ganz anderen Umfang leisten. Literatur unterscheidet sich vom Brief darin, dass sie auf die zerdehnte Kommunikation hin angelegt ist. Da ihre Wahrheiten von vornherein ‘insubstantiell’ sind, kann diese Mitteilung zu jeder beliebigen Zeit wiederaufgenommen werden.

Die israelitischen Schriftpropheten müssen ihre Zuflucht zur Schriftlichkeit nehmen, weil sie dem verstockten Volk ihre Botschaft nicht ausrichten können.

Wenn wir ‘zerdehnte Kommunikation’ mit Formen identitätsstabilisierender ‘Langzeitkommunikation’ in Verbindung bringen, gelangen wir zum Begriff des ‘Kulturellen Gedächtnisses’. (Assmann, 202)

9. Schrift und Gedächtnis. Zerdehnung der Kommunikationssituation erfordert Möglichkeiten der Zwischenspeicherung. Das Kommunikationssystem muss externe Speicher entwickeln, in die Mitteilungen ausgelagert werden können, sowie Formen der Auslagerung (Kodierung), Speicherung und Wiedereinschaltung. Das erfordert institutionelle Rahmen, Spezialistentum und im Normalfall auch körperexterne Notationssysteme. Die Schrift ist überall aus solchen Notationssystemen hervorgegangen.

Damit war ein funktioneller Rahmen gefunden, der über die Ära der Schriftkulturen hinausreicht. Die Schriftkultur ließ sich jetzt als ein Sonderfall des kulturellen Gedächtnisses und der Perfektionierung seiner Zwischenspeicher begreifen. Damit war eine neue Möglichkeit gewonnen, kulturelle Transformationen zu beschreiben. (Assmann, 203)

10. Vereinfacht gesagt beruht die Speicherungstechnik oraler Gesellschaften auf Wiederholung, die von Schriftkulturen auf dauerhafter Speicherung. Gesellschaften, die nicht über Schrift verfügen, müssen das zum Wiedergebrauch bestimmte Wissen in lebendigen Gedächtnissen speichern und periodisch auffrischen. Dafür stellen Riten und Feste die äußeren Anlässe dar. Die außerordentliche Neuerung schriftlicher Aufzeichnung besteht darin, dass sie einen Inhalt ein für alle Mal festzuhalten vermag und damit eine vom Wiederholungszwang der Riten unabhängige Dauer schafft. Das Prinzip kultureller Kontinuität wandelt sich von ritueller zu textueller Kohärenz. (Assmann, 203)

11. Dieser Übergang wird aber noch keineswegs mit der Erfindung und Verwendung von Schrift vollzogen. Die altägyptische Kultur verwendete Schrift über Tausende von Jahren, ohne ihre Kontinuität mehr als allenfalls ansatzweise von ritueller auf textuelle Kohärenz umzustellen. Es gibt so etwas wie Steigerungsformen von Schriftlichkeit, die den alten Ägyptern fremd waren, und deren Entwicklung wir in Israel, Griechenland und China beobachten.

Die Schrift als solche ist kein Gedächtnis, sondern nur ein Speicher im Dienst der Erinnerung. Zum Medium des kulturellen Gedächtnisses wird sie erst in Verbindung mit einer entsprechenden Erinnerungskultur, und das heißt in diesem Fall: einer Auslegungskultur, die die gespeicherten Zeichen wieder in Sinn rückzuübersetzen vermag. Solche Auslegung wird aber nur Texten zuteil, die nicht nur verschriftet, sondern darüber hinaus auch noch ‘kanonisiert’, d.h. in den Rang überhistorischer Verbindlichkeit und Maßgeblichkeit versetzt wurden. Der kanonische Text ist ein Text zweiter Stufe, und der Kommentar ist notwendiges Korrelat solchermaßen gesteigerter Textualität. (Assmann, 203f.)

12. Kanon und Zensur. Kanonische und klassische Texte sind erstens fundierend und zweitens festgelegt, d.h. unfortschreibbar. Mit dem Begriff des Fundierens ist eine normative und formative Verbindlichkeit gemeint. Normative Verbindlichkeit schreibt Richtlinien des Handelns vor. Der normative Text legt fest, was zu tun ist, fundiert also Recht, Brauch, Sitte Verhalten. Formative Verbindlichkeit fundiert das Selbstbild der Gruppe, durch Erzählungen über Vorzeit und Geschichte, Mythen, Sagen, Legenden, die die Ordnung der Welt narrativ entfalten und die Stellung des Menschen in ihr beleuchten. Wenn der fundierende Text in seinem Wortlaut festgelegt wird, entsteht der kanonische Text und mit ihm der Kommentar. Denn jetzt ist die exegetische Akkomodation des Textes in Form redaktioneller Eingriffe unmöglich geworden. Er erschließt sich dem Verständnis nur noch durch den Interpreten. So kommt es zur Ausbildung von Auslegungskultur. (Assmann, 204)

13. Welche wissenssoziologischen Rahmenbedingungen erweisen sich im interkulturellen Vergleich als besonders produktiv hinsichtlich der Entstehung und Entfaltung mündlicher und schriftlicher Textwelten oder ‘Diskurse’? Unter dem Thema Weisheit ging es um die Bewertung des Wissens und die Frage nach den Möglichkeiten und Formen, höchstbewertetes Wissen, also Weisheit zu speichern und im Medium der Schriftlichkeit zu vermitteln. Das Thema Weisheit erwies sich in ganz besonderem Maße als geeignet, einen zu engen Begriff von Literatur aufzusprengen. (Assmann, 204f.)

14. An die Frage nach dem höchstbewerteten Wissen schloss sich eng die Frage nach dem vorenthaltenen Wissen an. Hier ist der Dualismus von ‘Secretum’ und ‘Mysterium’ zu berücksichtigen. Mit secretum ist das vorenthaltene, mit mysterium das unergründliche und daher nicht versprachlichbare und nicht kommunizierbare Wissen gemeint. Auch das Geheimnis ist eine poetogene Kategorie par excellence. Es gibt Texte, die sich als Enthüllung eines Geheimnisses inszenieren, und es gibt andere, die in ihrem Handlungsaufbau die Enthüllung eines Geheimnisses abbilden. In beiden Fällen spielen die Texte mit der Neugier des impliziten Lesers. (Assmann, 205)

15. Das neueste Projekt der Arbeitsgruppe heißt Einsamkeit. Sowohl Schreiben wie auch Lesen begünstigen Einsamkeit, und zwar durch Ermöglichung „interaktionsfreier Kommunikation“ (Luhmann). Ohne den Umgang mit anderen hätte niemand ein Bewusstsein, ein Gedächtnis, ein Selbst. Trotzdem ereignet sich in der Geschichte der Menschheit immer wieder der Umschwung, der darin besteht, dass das durch Kommunikation konstituierte Ich sich als unkommunizierbar erfährt und dass erst im Ausgang aus der Konnektivität der wahre Weg zum Selbst gesehen wird. Hinter der Einsamkeit des Denkens und Schreibens steht die allgemeinere anthropologische Fragestellung nach solchen Wandlungen des Menschenbildes. (Assmann, 205)


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