11.2 Interkulturelle Hermeneutik vs. Ethnographie des Lesens11.22 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze
1. Eine ethnozentrisch befangene Literaturwissenschaft hat
lange Zeit die Frage nach kulturell unterschiedlichen Rezeptionsweisen von
Literatur und ihren medialen, sozialen und epistemologischen Determinanten fast
vollständig verdrängt. Bestrebungen, die Praxis interkultureller
Literaturvermittlung theoretisch zu reflektieren und zu fundieren, spielen eine
ausschlaggebende Rolle bei der Anfang der achtziger Jahre einsetzenden
Diskussion um eine interkulturelle Hermeneutik. Geführt wurde und wird die Diskussion hauptsächlich von
Vertretern der sogenannten ‘Interkulturellen Germanistik’, die sich als kultur-
und literaturwissenschaftliche Erweiterung des Faches Deutsch als Fremdsprache
präsentiert und die „Erforschung und Vermittlung deutschsprachiger Kulturen
unter der Bedingung und in der Perspektive ihrer Fremdheit“ (Wierlacher 1987,
168) zu ihrem Programm gemacht hat. Die bisherigen Ansätze haben sich im wesentlichen aus der
Verschränkung der Hermeneutik Schleiermacher-Dilthey-Gadamerscher Provenienz
zum einen, aus der Rezeptionsästhetik zum anderen entwickelt. Ihr Ausgangspunkt
ist das Manko ‘traditioneller’ Hermeneutik, nur solche Verstehensprozesse zu berücksichtigen,
die sich aus dem zeitlichen Abstand der zu rezipierenden Texte ergeben, und
solche Probleme, die sich als Effekt kultureller Distanz einstellen, zu
vernachlässigen. (Schmidt, 340f.) 2. Für die Hermeneutik Gadamers wird das Wunder des Verstehens
nicht-zeitgenössischer Texte prinzipiell dann möglich, wenn der Rezipient in
der gleichen Tradition steht wie das Werk, das er liest, wenn er eingerückt ist
in dessen „Überlieferungsgeschehen“. Das wirkungsgeschichtliche Kontinuum
zwischen Subjekt und Objekt des Verstehens garantiert, dass der Verstehende
sich in den geschichtlichen Horizont des fremden Textes hineinversetzen, seinen
eigenen Horizont mit dem des Werkes „verschmelzen“ kann und dabei „zu einer
höheren Allgemeinheit“ gelangt. Auch wenn die Tradition, um die es dabei geht, ihrer
sprachlichen und kulturräumlichen Herkunft nach durchaus heterogen sein kann,
gibt es für Gadamer keine kulturellen Grenzen, die das wirkungsgeschichtliche
Kontinuum störend intermittieren. Fremdkulturelle Hermeneutik dagegen erklärt
sich gerade für jene Texte zuständig, bei denen ein solches verbindendes
Kontinuum nicht existiert. Die Frage nach der Gemeinsamkeit im Verhältnis
zwischen Eigenem und Fremdem ist folglich für sie von zentraler Bedeutung. Da
es ihr gerade um die Betonung kultureller Unterschiede geht, ist ihr der noch
für Schleiermachers allgemeines Verstehenskonzept konstitutive Rekurs auf
anthropologische Universalien als Ermöglichungsgrund transkulturellen
Verstehens verbaut. (Schmidt, 341) 3. Bis jetzt hat sich die Interkulturelle Hermeneutik den
Aporien fremdkulturellen Verstehens kaum gestellt, sondern das Verhältnis der
Schlüsselkategorien ‘Fremdes’ und ‘Eigenes’ im Verstehensprozess in ethischen
Kategorien erörtert. So kritisiert Wierlacher bei Vertretern ‘traditioneller’
Hermeneutik „Denkmuster europäischen Kolonialverhaltens“, wenn sie das Ziel
hermeneutischer Bemühung darin sehen, „durch kontrollierte methodische
Besinnung [...] das Fremde [...] auszuschalten“. Als Antwort auf solche Gesten
der Vereinnahmung und des Nicht-ernst-Nehmens des Fremden macht Wierlacher die
Formel stark, interkulturelles Verstehen sei „Vertrautwerden in der Distanz,
die das Andere als das Andere und das Fremde zugleich sehen lässt“. (Schmidt,
342) 4. Folgenreicher als diese Überlegungen sind für die
Praxis der Lektüre Maximen und Theoreme, die die Interkulturelle Hermeneutik
der Rezeptionsästhetik entlehnt hat. Dabei geht es um eine systematische
Aufwertung des Lesers. Aus der Einsicht, dass die Konkretisierung des literarischen
Werks im Akt des Lesens eine Funktion der Perspektive des Lesers ist und es
folglich eine prinzipiell unendliche Zahl unterschiedlicher Lektüren gibt,
schlägt die Interkulturelle Hermeneutik methodisches Kapital: Sie will den
fremdkulturellen Leser deutscher Literatur „als Subjekt zu Wort kommen“ lassen.
Dank der wissenschaftlichen Dignität, die damit fremdkultureller Lektüre
verliehen ist, kann der Auslandsgermanistik zugleich pauschal die Fähigkeit
attestiert werden, zu „interessanten, die Inlandsgermanistik ergänzenden oder
gar infragestellenden Lese-Erfahrungen und Deutungsergebnissen [zu] kommen“. >Kritik. Der
Verdacht liegt hier nahe, dass allein seine fremdkulturelle Ausgangslage den
Interpreten legitimiert, dem Text Bedeutungen zuzuweisen, ohne dass deren
historische Stimmigkeit noch begründet werden muss. Die Theorie der
Interkulturellen Hermeneutik gerät in diesem Punkt in die Nähe zu „Apologien
zufälliger Lektüre“, wie sie für poststrukturalistische Literaturtheorien
charakteristisch sind. (Schmidt, 343) 5. >Kritik.
Außerdem wird z.B. bei Krusche eine Rezeptionspraxis verabsolutiert, die das
historische Produkt eines jahrhundertelangen abendländischen
Domestizierungsprozesses des Lesens ist: eine Rezeptionspraxis, die auf der
Vorstellung beruht, Lesen sei die ‘verstehende Wiederbelebung des Geistes eines
Autors aus den toten Buchstaben eines Textes durch ein kongeniales Leser-Ich,
das sich dabei als nachschaffender ‘zweiter Autor’ selbst affiziert und ‘selbst
liest’. Zugrundegelegt wird das aufklärerische Programm einer literarischen
Kultur, die Interpretation als Verschriftung subjektiver Leseerfahrungen
definiert, damit Deutung und Selbstdeutung in eins setzt und ein ebenso
selbstbewusstes wie Sinn produzierendes Leser-Ich generiert, ‘das alle meine
Lektüren muss begleiten können’. (Krusche, 343) 6. >Kritik.
Selbst wenn die interkulturelle Hermeneutik noch so sehr eine Vielfalt
kulturell unterschiedlicher Interpretationen beschwört: Tatsächlich lässt sie,
ohne es zu bemerken, Pluralität nur insoweit zu, als es sich um
unterschiedliche inhaltliche
Lektüreergebnisse handelt. Was dagegen Rezeptionsverfahren anbelangt, präsentiert sich Hermeneutik, unberührt von
aller Interkulturalität, als universale Norm. Mit größter
Selbstverständlichkeit wird davon ausgegangen, fremdkulturelle Leser litten an
Sinn- und Identitätsdefiziten, sie läsen Literatur um der Sinnproduktion
willen. Damit wird freilich schlicht der pädagogische Diskurs der Aufklärung
fortgeschrieben, der sowohl Zweckbestimmungen wie Prozeduren von Lektüre
vorgibt. Dass Lesen selbst aber keine anthropologische Konstante
ist, hätte der Interkulturellen Hermeneutik bereits ein Blick auf die
abendländische Geschichte der Lektüretechniken eindringlich vor Augen führen
können – man denke nur an die spezifischen Praktiken so unterschiedlicher
‘Lesekulturen’ wie der höfischen des Mittelalters, in der Leben als soziales
Vorleseritual statthatte, oder der des Barock, für die Lesen vor allem der
Wissensanhäufung diente und in nichts anderem bestand, als Bücher nach
Wissenswertem, Kuriosem und rhetorischen Glanzpunkten zu durchforsten.
(Schmidt, 343) 7. Besonders aufschlussreich für den Vergleich
unterschiedlicher Lesekulturen sind stets solche Texte, die sich ausdrücklich
die Generierung und Normierung von Lesern zum Ziel setzen: praktische
Leseanweisungen also, pädagogische Maßregeln für den ‘richtigen’ Umgang mit
Texten. Bücher sind für den Kantianer Bergk (Kunst, Bücher zu lesen 1799) das zweckmäßigste Mittel, um den
Menschen zu Mündigkeit, ‘Selbstthätigkeit’ und Selbsterkenntnis zu erziehen.
Lektüre wird ganz in den Dienst der Entfaltung von Individualität und
Subjektivität gestellt. Die didaktische Pointe Interkultureller Hermeneutik
reduziert sich angesichts dieses Programms darauf, die von Bergk beschriebenen
Prozeduren und Effekte auf den Umgang mit fremdkulturellen Texten übertragen zu
haben. (Schmidt, 344) 8. Lesekonzepte und -praktiken unterscheiden sich auch von
Kultur zu Kultur. Forschungsansätze finden sich vor allem in den USA, wo sich
eine Lesekulturenforschung unter der Bezeichnung Ethnographie des Lesens etabliert hat. Ausgehend von der doppelten
Prämisse, dass Lesen auf einer Stufe mit anthropologischen Universalien wie
Essen, Kleidung, Sexualität steht und dass es zu den wesentlichen Zielen von
Ethnographie gehört, das Varianzspektrum kultureller Manifestationen solcher
Universalien zu dokumentieren, vereinigt die Ethnographie des Lesens höchst
unterschiedliche Studien: Postkoloniale Lesekulturen der Gegenwart in
kalifornischen Indianerreservaten oder im Hochland von Kolumbien werden in
Feldstudien ebenso untersucht wie am Beispiel von New Yorker Juden die ‘Erben‘
jahrtausendealter Interpretationstraditionen.
(Schmidt, 344) 9. Im Unterschied zur Interkulturellen Hermeneutik hätte
die Lesekulturenanalyse weniger nach der kulturspezifischen Logik der
Bedeutungszuweisung zu fragen, sondern vielmehr zunächst nach materiellen,
medialen, sozialen und institutionellen Voraussetzungen der jeweiligen
Lesekultur, sodann nach diskursiven und situativen Kontexten des Umgangs mit
Literatur. Grundsätzlich ist beispielsweise zu klären, wie sich der Gebrauch
unterschiedlicher Schriftsysteme und die damit verbundenen Lese- und
Leselerntechniken auf die Sinnproduktion während des Rezeptionsprozesses
auswirken. So ist zu vermuten, dass Literatur in einer Wortschrift wie der
chinesischen anders verarbeitet und „verstanden“ wird als alphabetisch
verfasste Texte. (Schmidt, 345) 10. Neben vor allem empirisch-soziologischen Methoden
verpflichteten Studien wären auch Arbeiten wünschenswert, die an
mentalitätsgeschichtliche Rezeptionsforschungen anknüpfen. Eine solche
Ethnographie des Lesens könnte dann Beiträge zu jener Grundlagenforschung
leisten, deren die Interkulturelle Hermeneutik als Komplement bedarf, um sich
vor der Verabsolutierung des abendländisch-hermeneutischen Umgangs mit
Literatur zu bewahren. (Schmidt, 345) 11. Lesetraditionen
in Japan. Kaoru Noguchi beschreibt in seiner Untersuchung zur Tradition
japanischer Lese- und Deutungspraktiken zunächst die Lektüreweise von Ito
Jinsai, einem der großen japanischen ‘Meister der Lesekunst’ des 17.
Jahrhunderts: „Lesen war kein analytisches Vorgehen, sondern ein eher
geduldiges, vertrauensvolles und ich-loses Hinhören auf den Text. Jinsai las
z.B. 40 Jahre lang in den Gesprächen des Konfuzius, bis Stimme, Atmen und
Husten von Konfuzius selbst hörbar wurden“. Diese Form intensiver Lektüre
scheint zwar ebenso auf umfassende Einfühlung in den Geist des Autors
abzuzielen wie die Hermeneutik, den ‘Lesemeistern’ geht es dabei jedoch um
alles andere als um Erfahrung ihres Selbst.: „Dass sie die Klassiker mit ihrer
eigenen Kraft lesen wollten, heißt nicht, dass sie eine eigene, individuelle
Lesart suchten. Sondern sie hofften ernstlich, von der Ichsucht und unreinen
Gedanken befreit, einen direkten Weg zu den Klassikern zu finden. [...] Ihnen ging es darum, [...] wie sie zur
Ich-losigkeit gelangen könnten“. Die Hingabe an den Text ist so total, dass der
Prozess des Lesens zum Prozess sukzessiver Selbstauslöschung geraten muss.
(Schmidt, 345f.) 12. Noguchis Untersuchung zeigt auch, dass die Entwicklung
japanischer Lesetheorien zunehmend zur Angleichung an westliche Verhältnisse
und im 20. Jahrhundert zu einem akademischen ‘Methodenpluralismus’ führt. Die kulturelle Hegemonie des Abendlandes hat das Fremde
tendenziell zum Verschwinden gebracht. Dieses Verschwinden der ‘Fremde’ im Zuge
einer eurozentrisch-’weltkulturellen’ Homogenisierung ist, wie Brenner darlegt,
die tatsächliche Voraussetzung interkulturellen Verstehens. Zumindest unter den
‘professionellen’ akademischen Lesern wirken sich längst methodische
Differenzen gravierender aus als kulturelle. Dass in jenen Kulturen, in denen
Schrift erst im Zuge der Kolonialisierung Einzug hielt, das Verhältnis zu (geschriebener)
Literatur wesentlich durch die kolonialen Bildungssysteme vermittelt ist, liegt
auf der Hand. |