11.3 Medientheorie11.32 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze
1. Der Übergang von der poststrukturalistischen
Literaturtheorie zur Medientheorie ist in den neunziger Jahren vollzogen
worden. „Wir leben in neuen Kommunikationsverhältnissen, die mit dem Leitmedium
der Neuzeit, dem Buch, gebrochen haben.“ (Bolz 1995, 7) Literaturtheoretisch umgesetzt wurde die Reflexion auf die
Medialität der Literatur vor allem von Friedrich A. Kittler in seiner
Untersuchung über die Aufschreibesysteme
1800/1900 (1985). Er geht neben der Psychoanalyse zunächst noch von
Foucauls Begriff der Diskursanalyse als der Rekonstruktion der Regeln aus, die
den Diskurs einer Epoche organisieren. Als Defizit der Diskursanalyse notiert
er jedoch, diese sich ausschließlich an
die traditionelle Form des Textes halte und andere Medienformen nicht
anerkenne. „Archäologien der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung,
-übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen“
(Kittler 1987, 429). Damit vollzieht K. nicht nur den ersten Schritt zu einer
Überführung der Diskursanalyse in die Medientheorie. Er definiert Literatur
darüber hinaus als eine Form der Datenverarbeitung, die den gleichen Gesetzen
gehorcht wie alle Datenverarbeitungsprozesse. (>Kritik) K.
geht von einer problematischen Gleichsetzung der Literatur mit einer Form des
Datenflusses aus. (Geisenhanslüke, 137f.) 2. In einer eigentümlichen Verknüpfung von Foucaults
Diskursanalyse und Lacans psychoanalytischem Ansatz beschreibt K. auf
fragwürdiger empirischer Grundlage das Literatursystem um 1800 durch die
Alphabetisierung des Kindes als Erotisierung der Buchstaben durch die Mutter,
die zugleich den Grund für die Genese moderner Dichtung lege: Die einmal über
die Mutter in das Lesen eingeführten Kinder verwandeln sich demzufolge in
Dichter, die in ihren Texten nichts anderes preisen als die mütterliche Instanz
eines der Natur entlehnten weiblichen Ideals. Die Produktion des literarischen
Diskurses sei dementsprechend vollständig abhängig von der Naturinstanz der
Mutter. Im Diskurssystem um 1800 diagnostiziert K. die Errichtung
eines geschlossenen Systems, bei dem die Philosophie die (tendenziell
homoerotische) professionalisierte und zugleich verbeamtete Interpretation des
Dichterwortes auf sich nehme, während die Frauen am Ende der Kette als
Leserinnen der durch den Muttermund belehrten Dichter wiedererscheinen.
(Geisenhanslüke, 138) 3. Die Epochenschwelle um 1900 deutet K. hingegen als den
Einbruch der neuen Medien in den Diskurs der Literatur. Emblematisch
festgehalten hat K. das am Beispiel von Nietzsches Schreibmaschine. Dabei gehe
es um die Differenz zwischen verschiedenen medialen Schaltkreisen, zwischen
Optik (Film) und Akustik (Grammophon) auf der einen Seite und der Selbstreferentialität
der Schrift (Schreibmaschine), die K. mit Derrida als Produktion
unhintergehbarer Differenz deutet, auf der anderen Seite. (Geisenhanslüke,
138f.) 4. Indem er die Literatur als ein von außen gesteuertes
System von Datenübertragungen definiert, schreibt sich K. in die selbsternannte
Position eines radikalen Erneuerers der Literaturtheorie hinein, der eine
neue Medien- und Maschinenwissenschaft
begründen will, die von der Literatur nichts anderes mehr erwartet als
Datenlieferung. (> Kritik)
Für K. geben die Medien die Formen vor, in denen ein einzelner Diskurs wie der
literarische dann überhaupt noch funktionieren kann. Die Betonung des
maschinellen Moments der Informations- und Kommunikationsvermittlung führt
damit aber zu einer selbst „maschinellen“ und tendenziell maschinistischen
Lektüre literarischer Texte, die darüber hinaus suggeriert, es gäbe überhaupt
so etwas wie „den“ literarischen Diskurs um 1800 oder 1900. Die Literatur wird
zu der Idee eines endlos fortlaufenden Datenflusses verkürzt, der allein von
der Maschine regiert wird. (Geisenhanslüke, 139) 5. Wie schon Foucault das moderne Subjekt im Begriff des
Diskurses verschwinden ließ, so führen Bolz und Kittler die hermeneutische
Kategorie des Subjekts auf die der Maschine zurück. „Unter Bedingungen der
neuen Medien ist der Mensch nicht mehr Benutzer von Werkzeugen und Apparaten,
sondern Schaltmoment im Medienverbund“ (Bolz 1995, 118). Vom scheinbar
autonomen Subjekt des Handelns wird der Mensch zum Objekt der Maschinen. (>Kritik) Da Bolz und Kittler damit über eine letztlich
populärwissenschaftliche Darstellung des Verhältnisses von Mensch und Maschine
nicht hinauskommen, derzufolge der Mensch, wenn er nicht mehr Herr über die
Maschine sein kann, ihr Sklave sein muss, ist noch der geringste Einwand gegen
die Reduktion des Geistes auf die Maschine. Strittiger noch ist der
Zusammenhang von Medien und Krieg: „Übertragungsmedien stammen aus
Kriegstechnologien“ (Kittler 1993, 1221). Die Gleichsetzung von Medien und
Kriegstechnologien enthält eine beängstigend martialische Dimension. Schritt zu
einer affirmativen Theorie der Maschine und des Krieges, die ihren idealen
Gegenstand nicht mehr in literarischen Texten findet, sondern in Schaltkreisen
der Macht. (Geisenhanslüke 139f.) 6. Koschorke.
Habilschrift Körperströme und
Schriftverkehr, zugleich ein literaturhistorischer Beitrag zur Geschichte
der Empfindsamkeit. Es geht um die Veränderungen des Diskurssystems um 1800
durch die Einführung des Mediums Schrift, wobei er neben literarischen Texten
sein Augenmerk insbesondere auf Gebrauchstexte aus den Bereichen der Medizin,
der Psychologie und der Populärphilosophie richtet. Ausgangspunkt ist die Frage
nach den Transformationen des Subjekts durch die Veränderungen der
Zirkulationsweise sozialer Energien. K. spricht der Schrift dabei die Funktion
der Ausprägung eines neuen Menschen- und Körperbildes zu, das auf der Ersetzung
des unmittelbaren Verkehrs zwischen den menschlichen Körpern durch die
Herausbildung des Körpers als eines autoreferentiellen Systems beruht, das nur
noch durch die mediale Substitution des Schriftverkehrs kommunizieren kann. Den
Tränenkult der Empfindsamkeit deutet K. als metonymisches Substitut seines
unmittelbaren Körperverkehrs, der dann vom Schriftfluss fortgeführt wird: Am
Beispiel der Briefkultur des 18. Jahrhunderts erscheint Schrift als Resultat
eines Individualisierungsprozesses, der einmal von einander geschiedene
Individuen wieder in Kommunikation miteinander treten lässt. „Medien sollen hier versuchsweise als
Rückkoppelungssysteme verstanden sein, die beide Komponenten der
Zeichenproduktion, ihre Materialität und ihre Bedeutungspotenz, wechselseitig
aufeinander einwirken lassen“ (Koschorke 1999, 11). Literatur- und Kulturwissenschaft
müssen daher im Zeichen der Medientheorie nicht notwendig in Opposition
zueinander treten. (Geisenhanslüke, 140f.) |