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Roland Braun

Bemerkungen zur Virtualität

Manche neuere Entwicklung in der Systemtheorie erweist sich als alter Wein in neuen Schläuchen. George Spencer Browns mathematische Formalisierung der Neokybernetik beeindruckt zwar durch Erfindungs- und Detailreichtum, doch findet der "Calculus of Indication" bisher nur vereinzelte Rezipienten in Mathematik und Logik. Dagegen stellt sich Gilles Deleuze gut hegelianisch in den Windschatten der Kritisierten und gewinnt anhand diverser geometrischer Modelle ein vergleichbares mathematisches Konzept: "Man wird insbesondere an die Rolle regulärer und singulärer Punkte denken, die in die durchgängige Bestimmung einer Kurvenart eingehen. Die Spezifikation singulärer Punkte (etwa Sattelpunkte, Knotenpunkte, Brennpunkte, Zentren) vollzieht sich zweifellos nur in der Form von Integralkurven, die auf die Lösungen der Differentialgleichungen verweisen. Nichtsdestoweniger gibt es eine durchgängige Bestimmung hinsichtlich der Existenz und der Verteilung dieser Punkte, die von einer ganz anderen Instanz abhängt, nämlich vom Vektorenfeld, das durch diese Gleichungen definiert wird." ("Differenz und Wiederholung" (DW), München 1992, 227) Die "singulären" oder "aleatorischen" Punkte bzw. "Singularitäten" sind somit "untrennbar von einem Potential oder einer Virtualität. In diesem Sinne implizieren sie keinerlei vorgängige Identität, keinerlei Setzung von irgendetwas, das man eines oder dasselbe nennen könnte; ihre Unbestimmtheit aber ermöglicht demgegenüber die Manifestation der Differenz als von jeglicher Unterordnung befreit. 2. Tatsächlich müssen diese Elemente bestimmt werden, allerdings wechselseitig, durch reziproke Beziehungen, die keinerlei Unabhängigkeit fortbestehen lassen. Derartige Verhältnisse sind eben ideale, nicht lokalisierbare Bindungen, sei es, daß sie die Mannigfaltigkeit global charakterisieren, sei es, daß sie mit Juxtaposition von Nachbarschaften operieren. Immer aber ist die Mannigfaltigkeit auf intrinsische Weise definiert, ohne daraus herauszutreten oder auf einen gleichförmigen Raum zu rekurrieren, in den sie eingebettet wäre." (DW, 234) Das Zitat verweist auf weitere Vorläufer der Luhmannschen Leitdifferenz System/Umwelt: 1. Bernhard Riemanns Mannigfaltigkeitstheorie, die das Rückkopplungsverhältnis von Grenze und Metrik zum Kriterium der Geometrie macht. 2. Ernst Cassirers Untersuchung über "Substanzbegriff und Funktionsbegriff", die die Dedekindsche Schnittheorie als arithmetisches Beispiel eines intrinsischen Funktionalismus benutzt. (DW, 222) 3. Georg Cantors Ordinalzahlen als "Manifestation der Differenz als von jeglicher Unterordnung befreit" (s.o.): Die Addition der Ordinalzahlen ist im Gegensatz zur Addition der Kardinalzahlen im Transfiniten nicht kommutativ. Deshalb lassen sich die Ordinalzahlen auch nicht dem mengentheoretischen "Ähnlichkeits"-Begriff unterordnen, sondern operieren einzig mit "Juxtaposition von Nachbarschaften" (s.o.). Nachbarschaften sind aber, gleichwohl nicht extensiv, sondern differentiell und intensiv (DW, 77), trotzdem Ordnungsverhältnisse. Der Cantorsche Einschnitt im Wissen bestand ja gerade darin, die "Geordnetheit" und das "Potential immer neuer Ordnungen" von "Wachstumsprozessen" als erster mathematisch dargestellt und das Transfinitum als Aufeinanderfolge von Ordnungen wachsender Mächtigkeit, welche die jeweils vorhergehende Ordnunge umfassen, konzeptionell ausgearbeitet zu haben. Während die klassische "mathesis" noch eine "Wissenschaft der Gleichheiten, also der Zuweisungen und Urteile" (Foucault, "Die Ordnung der Dinge", F.a.M. 1994, 110) war, die die Differenzen der begriffenen Identität und wahrgenommenen Ähnlichkeit unterordnete (DW, 180) und so den Dingen ihre Ordnung sicherte, kreierte das 19. Jahrhundert eine Theorie der "reine(n) Ordnung" (DW, 122). Nicht zufällig sprach deshalb der Begründer der Systemtheorie, Ludwig von Bertalanffy, von dieser als einer neuen "mathesis universalis". Vor dem Hintergrund der Mannigfaltigkeitstheorie erscheint der Möglichkeitsbegriff, der vom führenden Vertreter der neueren Systemtheorie, Niklas Luhmann, vorgetragen wird, als Rückschritt. Dieser scheint immer noch im Modell der Potentialität gefangen. Luhmann ist zwar Konstruktivist, doch geschieht die Konstruktion immer nur über Selektion. Deleuzes Konzept der Virtualität, wie es vor allem im Bergson-Buch ausgearbeitet wurde, bezieht sich letztlich nicht auf die Leitdifferenz marked/unmarked space (auch wenn uns die Luhmann-Schule dies neuerdings glauben machen will), sondern auf numerische vs. kontinuierliche Mannigfaltigkeiten (DW, 233). Das Ergebnis ist wesentlich das gleiche: die Umwelt ist komplexer als das System, die konstitutive Voraussetzung für die Abkopplung des Systems von der Umwelt.




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