Stephan von Wiese
Fluxus an der Akademie
Düsseldorf auf der biographischen Landkarte von Nam June Paik
Es waren einzelne Personen, die Nam June Paik an Düsseldorf gebunden haben. Jean Pierre Wilhelm hat ihm hier zu seinem Debut mit aufrüttelnder Aktionsmusik verholfen. Joseph Beuys öffnete für Paik und für Fluxus erstmals die Tore der Akademie. Norbert Kricke gab Nam June Paik eine Professur. Festen Fuß gefaßt in Düsseldorf hat Paik trotzdem nie. Er wohnte anfangs aus dem Koffer im preisgünstigen Studentenheim oder im billigen Hotel. Als Lehrer suchte er sich Wohnungen auf der sonnigeren Rheinseite in Neuss, später in Bad Neuenahr, wo sich das Nützliche – die Kur – mit dem Angenehmen – den Konzerten verbindet. Und doch waren die Düsseldorf-Visiten kräftige Impulsauslöser – ein Geschenk für die rheinische Landeshauptstadt, die hier mit fremdem Denken aus der Ruhe gerissen wurde. Fluxus war ja das Vorbeben der späteren internationalen Studentenbewegung. Zwei auf den ersten Blick so verschiedenartige Phänomene wie Anarchie und Technologie hat Paik in die Düsseldorfer Kunstszene hineingeschmuggelt.
Anfang 1963 zeichnete Paik für Wolf Vostells Zeitschrift "dé-coll/age" die imaginäre Landkarte einer Insel Fluxus. Mit Beschriftungen eng übersät, liest sich die Karte wie eine Lebenspartitur. Die Geschichte und das persönliche Leben sind mitsamt satirischen Kommentaren untrennbar miteinander vermischt. Die Schreckensstätten des Jahrhunderts liegen neben den sonderbarsten Orten, Institutionen, Monumenten, die eine Verbesserung der Menschheit versprechen. Zwei Fixpunkte auf dieser phantastischen Karte, die vom 38. Breitengrad, Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea, durchzogen wird, liegen auf rheinischem Boden: der Kölner Dom und die Düsseldorfer Galerie 22.
Von Köln aus - wo er das "Studio für Elektronische Musik" am WDR frequentierte - hatte Paik bekanntlich in der räumlich eher bescheidenen Düsseldorfer Galerie 22 an der Kaiserstraße sein Weltdebut. Dieses erste öffentliche Auftreten als Komponist und als Aktionsmaler führte zu einer Kettenreaktion von Ereignissen: zu einer weiteren Aktionsmusik im Kölner Atelier der Malerin Mary Bauermeister, im Oktober 1960, zur Beteiligung an Karl Heinz Stockhausens Musikalischem Theater "originale" mit dem Stück "Simple", im Oktober/November 1961 im Theater am Dom, Köln, zum gemeinschaftlichen Konzert "NEO-DADA" in der Musik, im Juni 1962 in den Kammerspielen Düsseldorf, Prototyp aller späteren Fluxus-Konzerte und - unmittelbar damit verbunden - zur Begegnung mit Joseph Beuys und damit zum Ereignis "FESTUM FLUXORUM FLUXUS, Musik und Antimusik - das Instrumentale Theater", in der Aula der Kunstakademie Düsseldorf, Anfang Februar 1963.
Die spätere Lehrtätigkeit von Paik an eben dieser Institution fünfzehn Jahre danach hatte hier ihre frühen Wurzeln. 1978 war Beuys die Lehrbefugnis an der Akademie durch Gerichtsbeschluß endgültig entzogen worden. Damals wurde mit Paik somit nicht nur die Videokunst und -technologie, die auf der documenta 6, 1977, Furore gemacht hatte, in die Akademie gebracht. Gewollt oder ungewollte wurde - an Stelle von Beuys - auch Fluxus neu rekrutiert.
Den Ursachen und Folgen all dieser Zufallsverknüpfungen mit innerer Logik am selben Ort soll hier nachgegangen werden.
Vorgesehen war das Weltdebut von Paik zunächst durchaus nicht für Düsseldorf, sondern für Darmstadt. Paik hatte sich dort im Mai 1959 bei den Ferienkursen für Neue Musik - der damals progressivsten musikalischen Adresse in der jungen Bundesrepublik Deutschland - mit einer "Antimusik ’Hommage à John Cage‘" beworben. Ein Jahr zuvor hatte er Cage auf diesen international renommierten Kursen persönlich kennengelernt. Bekanntlich war Cage einer der großen Inspiratoren der Fluxusbewegung, indem er nicht nur die Stille, sondern auch die nicht vorherbestimmbaren außermusikalischen Geräusche des täglichen Lebens als Grundelement in seine Kompositionen einbezog. Paik hat mit seiner "Anti-Musik", obwohl als "Hommage" an Cage deklariert, sich von diesem passiven Gewährenlassen des Alltäglichen damals deutlich distanziert: In seine Aktionsmusik wurden aktive, aggressive, aufrüttelnde Ereignisse, bis hin zum Umwerfen des Klaviers als Klimax des Konzerts, in die Komposition eingeführt. Seine Aktionsmusik war von Anfang an nicht nur musikalisch, sondern mehr noch bildhaft gedacht. Ganz hegelianisch wurde hier jeder Erwartungshaltung - auch derjenigen von Cage - antithetisch widersprochen. Im Brief an Wolfgang Steinecken, Begründer der Ferienkurse, nach Darmstadt wurde von Paik eine politische Begründung geliefert. Die ständige "Überraschung und Erwartung", vor allem im dritten Satz der Komposition, sei eine "Verwarnung" gegenüber dem Wirtschaftswunder der Deutschen: "Wo Fleißigkeit und Dummheit in Eins gebunden ist".
Diese kämpferischen Worte, diese Proklamation einer bildhaft aufgebauten Aktionsmusik (Paik verweist in seinem Schreiben ausdrücklich auch auf den acte gratuit, der sowohl im Surrealismus wie in der Existenzphilosophie eine Rolle gespielt hatte) stieß jedoch nicht in Darmstadt auf offene Ohren, wohl aber in Düsseldorf. Der Galerist Jean Pierre Wilhelm, auch ein renommierter Übersetzer französischer Literatur, etwa der Gedichte René Chars, hatte hier als entschiedener Verfechter interdisziplinären Denkens einen gut informierten Freundeskreis von Literaten, Musikern, Bildenden Künstlern und Theoretikern um sich geschaft, darunter aus Köln den Schriftsteller Hans G.Helms und den Komponisten und Musikautor Heinz-Klaus Metzger, beide mit der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und mit der Denunziation des herrschenden Kulturbetriebs durch Adorno/Horkheimer gut vertraut. Damit stand das Werk von Paik von Anfang an einmal – durch die Örtlichkeit der Galerie 22 - in einem Kontext der bildenden Kunst und zugleich in einem philosophischen Rezeptionsgefüge kritischen Denkens.
Jean Pierre Wilhelm hatte seine Avantgardegalerie, die erste ihrer Art im Nachkriegsdüsseldorf, am 2. Mai 1957 im zweiten Stockwerk der Kaiserstraße 22 eröffnet. Die Galerie bestand bis 1960. Von Fautrier bis Rauschenberg und Twombly gab Jean Pierre Wilhelm vielen internationalen Künstlern zum ersten Mal ein deutsches Forum. Der Paik-Abend am 13. November 1959 war kombiniert mit der Ausstellungseröffnung der "Bildschreine" von K.E.Kalinowski. Als besondere Bereicherung des Abends war am Rande der Einladung - in Zusammenarbeit mit der Galerie Daniel Cordier, Paris - vermerkt: "’Hommage à John Cage‘ Musik für Tonbänder und Klavier von Nam June Paik (Korea) ausgeführt vom Komponisten". Paik hat sich über seinen ersten Galeristen und Promotor im Katalog "Beuys Vox 1961-85" (Seoul 1990) ausführlich geäußert und dabei vor allem die Verbindung Wilhelms zur französischen Résistance hervorgehoben. Als Jude war Wilhelm aus Nazi-Deutschland nach Frankreich geflohen, wo er mit Daniel Cordier, dem Sekretär des Résistance-Chefs Jean Moulin, befreundet war. Bei einem engagierten Kosmopoliten also hatte der Kunstnomade Paik sein Debut – und dabei blieb es nicht: "He provided me with three turning points in my career", schreibt Paik über Wilhelm in "Beuys Vox". Das Zustandekommen des ersten genuinen Fluxus-Konzerts 1962 in den Düsseldorfer Kammerspielen und die erste künstlerische Einzelausstellung Paiks, "Exposition of music. Electronic television" im März 1963 in Rolf Jährlings Galerie Parnass in Wuppertal sind damit gemeint. Am Zustandekommen dieser Ereignisse war Wilhelm jeweils entscheidend beteiligt.
"NEO-DADA in der Music" wurde am 16. Juni 1962 ab 23 Uhr in den Düsseldorfer Kammerspielen abgehalten. 1958 hatte eine "DADA"-Ausstellung im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen erstmals wieder auf die als künstlerische Oppositionsbewegung gegen den Ersten Weltkrieg hervorgegangene kulturkritische Bewegung ausdrücklich hingewiesen.
Auf DADA rekurrierten dann Anfang der 60er Jahre verschiedenste künstlerische Richtungen bis hin zum Pop. Der anscheinend von Paik gewählte Titel "NEO-DADA in der Music" ist ein deutlicher Hinweis auf die ideologische Verankerung Paiks im Dadaismus, die auch von Beuys herausgehoben wurde. DADA als internationale Bewegung hatte bekanntlich bis nach Asien, insbesondere Japan, Wellen geschlagen.
Nach einem mehr oder weniger improvisierten Vorlauf eine Woche zuvor in der Wuppertaler Galerie Parnass war der Konzertabend "NEO-DADA in der Music" die erste größere Gemeinschaftsveranstaltung zwischen Paik und George Maciunas, der im Oktober 1961 nach Deutschland übergesiedelt war, nachdem er seine kleine AG Gallery in New York aus finanziellen Gründen nicht weiterführen konnte. Als Designer der US-Army in Wiesbaden konnte er sich nun seinen Lebensunterhalt sichern und zugleich als Organisator eines weit verzweigten künstlerischen Netzwerkes hervortreten. Der Name "Fluxus" war von Maciunas zunächst für eine Zeitschrift geplant, die nicht zustandekam. Als Geburtsstunde von Fluxus gilt in der Kunstgeschichte deshalb das für das Städtische Museum in Wiesbaden im September 1962 von Maciunas organisierte Konzert. Von der Dramaturgie der Musik- und Szenenfolge her gesehen, entspricht auch der von Paik und Maciunas gemeinsam konzipierte Düsseldorfer "NEO-DADA"-Abend dem Ur-Verständnis von Fluxus als einem offenen Ereignis ohne jede symbolische Bedeutung. Die Programmfolge sollte eine Auflösung der klassischen passiven Rezeptionshaltung des Publikums herbeiführen. So wie sich der Autorenbegriff bei den gemeinsam und in wechselnden Rollen vorgetragenen Fluxus-Partituren und -stücken mehr und mehr auflöste, war auch an eine Sprengung der trennenden Barriere zwischen dem aktiven künstlerischen Produzenten und dem passiv beobachtenden Rezipienten gedacht.
Jean Pierre Wilhelm verlas erneut einen "Vorspruch", bei dem die Internationalität der neuen Bewegung und ihre Position zwischen Musik und Antimusik hervorgehoben wurde. Paik’s Aktionen standen dabei im ersten Block der Veranstaltung noch ganz im Vordergrund. Der Abend setzte so mit einer neuen Aktionsmusik ein: "One for Violin Solo", bei dem Paik eine Geige zerschlug.
Fluxus und die Fluxus-Konzerte können hier nicht eingehend beschrieben werden, wohl aber die Düsseldorfer Folgen. Der Abend endete mit dem ersten bewußten Zusammentreffen zwischen Paik und Beuys und der Verabredung eines großen weiteren Konzerts im Frühjahr 1963 in der Düsseldorfer Kunstakademie. Damit war die Verbindung Beuys-Paik- Maciunas-Fluxus vollzogen. Beuys hatte übrigens schon 1959 vermutlich dem Paik-Debut in der Galerie 22 als Zuschauer beigewohnt. Aufeinandergestoßen waren beide Künstler - ohne sich namentlich zu kennen - bei der "ZERO-Demonstration" im Juni 1961 in der Galerie Schmela.
Die Fluxus-Konzerte hatten ihre oppositionelle Kraft in der Verweigerung von jedwedem verordneten Sinn. Hier war ohne Hierarchie alles gleich geordnet – Joseph Beuys’ späteres Postulat "Jeder Mensch ist ein Künstler" mag hiervon inspiriert gewesen sein. Antiautorität und anarchisch wurden die herrschenden Strukturen in nicht repressiv geregeltem, lustvollem Agieren außer Kraft gesetzt. Das Fluxus-Denken hatte eine utopische Dimension, indem es dem Menschen neue Entfaltungsmöglichkeiten, erweiterte Kreativität erschloß. Ob Fluxus ein politisches Programm haben sollte, darüber zerstritt sich die Bewegung bereits 1964.
Das von Beuys mit Hilfe von Maciunas und Paik zusammengestellte Programm für "FESTUM FLUXORUM FLUXUS" in der Kunstakademie erstreckte sich über zwei Tage. Wiederum hielt Jean Pierre Wilhelm die Einführungsrede. Diesmal fehlte in der Szenen- und Musikfolge ein neuer Beitrag von Paik, der jedoch als Akteur in zwei Stücken anderer Fluxusautoren auftrat. Paik hatte inzwischen eine Wendung fort von der Aktionsmusik vollzogen. Er bereitete seine Einzelausstellung im folgenden Monat in Wuppertal vor, bei der manipulierbare elektronische Geräte - also Fernsehbildschirme - ganz im Vordergrund stehen sollten. Seit kurzem hatte sich Paik in seinem Kölner Atelier ganz auf die Erforschung dieser neuartigen Bildsprache, die zur Video-Kunst führen sollte, konzentriert. Dennoch bekannte er sich mit seiner Beteiligung am Düsseldorfer Fluxus-Ereignis weiterhin zu dieser Bewegung.
Hielt sich Paik bei dieser Veranstaltung also eher im Hintergrund, so brachten sich umso stärker Beuys selbst sowie Maciunas als Akteure in den Vordergrund, ein Vorpreschen, das übrigens von der Mehrheit der Fluxus-Künstler eher kritisiert wurde. Soche individuelle Darbietung war insbesondere die Aufführung der "Sibirischen Symphonie" durch Beuys, mit deren individueller Symbol- und Materialsprache das Gefüge des Fluxuskonzertes im Grunde gesprengt wurde. Ein Metagefüge inhaltsbeladener Zeichen und Aktionen wurde in den Raum gestellt. Maciunas, von Beuys darin ausdrücklich bestärkt, ließ Flugblätter mit einem Manifest verteilen, in dem erstmals eine Politisierung der Fluxus-Bewegung gefordert wurde: "Purge the world of bourgois sickness, ’intellectual‘, professional & commercialized culture … PURGE THE WORLD OF "EUROPANISM"! … PROMOTE A REVOLUTIONARY FLOOD AND TIDE IN ART … graped by all peoples, not only critics, dilettantes and professionals". Hier wurde – spätere Parolen vorwegnehmend – erstmals Politik in die klösterliche Abgeschiedenheit der akademischen Lehrstätte hineingetragen.
Nur einen Monat später eröffnete Nam June Paik seine Ausstellung mit dem aufschlußreichen Titel "Exposition of music. Electronic television" in der Galerie Parnass in Wuppertal (11. bis 20. März 1963). Da Paik alle Kräfte hierauf konzentrierte, muß auch diese Ausstellung - als offene Antithese - im Zusammenhang mit dem Düsseldorfer Fluxus-Konzert gesehen werden. Zumindest Joseph Beuys hat dies sofort begriffen, indem er unaufgefordert und unabgesprochen in die Eröffnung zerstörerisch eingriff und eines der präparierten Klaviere von Paik zerschlug. Dies war weniger eine Hommage an den - im übrigen darüber eher verschnupften - "Aktionsmusiker" Nam June Paik, sondern die Antithese zur Antithese, Archaische Zerstörungsrituale, wie sie ja gerade auch Paik praktiziert hatte, sollten ein besonders radikales Denken, die Herstellung einer tabula-rasa-Situation demonstrieren. So wurde dieses wohlbedachte Impromptu ein erstes ungewolltes Duett Paik-Beuys. Über solche archaischen Darbietungsformen wollte Paik nun allerdings hinaus.
In seine Fluxus-Insel-Karte hatte Paik ironisch noch ein "Entwicklungs-Ministerium für deutsche Musikkritiker"eingezeichnet. Die Musikkritik mag damals in Borniertheit gefangen gewesen sein, das war aber nicht das wahre Problem. Die Fluxus-Konzerte selbst, auch die Aktions-Musik, ignorierten die Möglichkeiten, die sich der Kunst im postindustriellen Zeitalter mit seiner neuen Kommunikationsindustrie bieten sollten. Es hieß also zum Transport der anarchischen Botschaft das Medium, die hardware, zu wechseln. So erforschte Paik, instinktiv auf der Höhe der Zeit, seit dem Verlauf des Jahres 1962 den elektronischen Bildschirm als neues Feld der Malerei. Durch Manipulation des Innenlebens zuerst - etwa mit Hilfe von Magneten - erschloß sich ein neues visuelles Vokabular. Während Paik bei seinen Musikaktionen auf insider-Kreise eingeschränkt blieb, öffneten sich mit der Bildelektronik viele neue Kanäle, um in die Bewußtseinsindustrie einzudringen. Das Kölner Studio für elektronische Musik war zwar bereits technisch fortgeschritten, aber auch hier war Paik noch auf kleine Zirkel, Liebhaber von Nachtprogrammen, eingegrenzt. Noch mehr gingen die Fluxus-Konzerte unter, wirkten nur noch im Reiche der Legende fort, wenn nicht zufällig dokumentierende Photographen anwesend waren. Mit der Bildelektronik, das hat Paik früh erkannt, gelang dagegen eine Potenzierung der traditionellen Malerei. Fernsehbilder brennen sich lichtstark ins Auge des Betrachters ein und kommen insofern dem mystischen Effekt lichterfüllter Glasfenster nahe. Paiks Vorstellung einer sowohl "heiligen", wie "anarchischen", wie technisch hochentwickelten Kunst fand also im zweiten Teil der Wuppertaler Ausstellung Gestalt. Die Zuschauer waren als Akteure eingebunden. Als magisches Zeichen für diese Demonstration des neuen künstlerischen Produktionsmittels hing Paik den Schädel einer frisch geschlachteten Kuh über den Galerieeingang. Dieses initiierte Schockerlebnis nannte Paik eine "klare Referenz an Schamanismus". So wurde der Ausstellungsbesucher auf den Kultursprung eingestimmt.
Paik konnte aufwendigere technologische Experimente auf deutschem Boden danach nicht weiterführen. Die Verfügungsberechtigten erwiesen sich als experimentierunmutig, die Intellektuellen dagegen übernahmen die bürgerliche Technikfeindlichkeit. Hans Magnus Enzensberger hat auf diese Situation 1970 im "Kursbuch 20" hingewiesen: Durch die Ablehnung der neuen technischen Möglichkeiten habe sich die Neue Linke damals von der Partizipation an der Technologieentwicklung ausgeschlossen, habe dieses Feld dem Underground überlassen, der seinerseits durch kommerzielle Versuchungen leicht verführbar erschien. Unter dem Titel: "Baukasten zu einer Theorie der Medien" schlug Enzensberger stattdessen, auf Brechts Radiotheorie aufbauend und Benjamins Analyse von Film und Fotografie ("Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit") fortführend, eine neue Medientheorie der Linken vor. Im Sinne einer Kulturrevolution verwies er auf den "selbststeuernden und massenhaften Lernprozeß, den die neuen elektronischen Medien ermöglichen".
Ohne solche marxistische Belastung gingen Paiks elektronische Erkundungen damals in eine ähnliche Richtung und mündeten später in eine Theorie einer humanisierten elektronischen Superhighway ein. In Japan und in den USA, vor allem zunächst in Tokio und in Boston, fand Paik ein professionelles Umfeld, in dem kreative Forschung und Erprobung möglich war. Deutschland - zumal Düsseldorf - war nur noch für wenige Gasttourneen interessant, so wurde Paik 1965 mit Charlotte Moorman von Jörg Immendorff an die Kunstakademie Düsseldorf eingeladen. Dabei demonstrierte er einen weiteren Befreiungsschlag, nämlich die Einführung der Sexualität in die Musik. Im Sinne einer visuellen Droge schien diese Reizsteigerung, mehr noch als die vorausgegangene Aktionsmusik, die Kunstgattung Musik von ihren letzten repressiven Schlacken zu befreien. Wie bereits mehrfach bemerkt, geschah so "Die Geburt der Videokunst aus dem Geiste der Musik", wenn man einen Nietzsche-Titel paraphrasiert. Ganz im Sinne des Philosophen wurden in der Tat die dionysischen Kräfte in der Musik nun der Bildhauerkunst - für Nietzsche eine ursprünglich apollinische Kunstform des passiven Betrachtens - dienstbar gemacht. Das Ergebnis war die Videokunst in all ihren Erscheinungsformen als Tape, Videoskulptur, Videoinstallation.
Das erste Signal, das den Eintritt Paiks in den Lehrkörper der Akademie nach außen demonstrierte, war am Abend des 7. Juli 1978 das gemeinsam mit Joseph Beuys abgehaltene Klavierduett "In memoriam George Maciunas 1931-1978". Maciunas war im Alter von 47 Jahren gestorben. Auf dem Veranstaltungsplakat wurde der Fluxuskünstler mit Gorilla-Maske gezeigt. Maciunas verhöhnte mit diesem Gestus die New Yorker Administration, die monatelang vergeblich versucht hatte ihn ausfindig zu machen, um einen Verhaftungsbefehl wegen finanzieller Schulden zu erwirken. Vor die Veranstaltung war also wiederum ein anarchisches Signal gesetzt. Ganz bewußt knüpfte das Duett nach einer Zäsur von 15 Jahren an das nun schon legendäre Fluxuskonzert FESTUM FLUXORUM FLUXUS von 1962 an. Damals hatte ja für verschiedenste Aktionen und Akteure - nicht nur bei der "Sibirischen Symphonie" von Beuys - der Flügel im Zentrum gestanden. Die Veranstaltung nun, 1978, war neben der Hommage aber auch eine Art Rehabilitation von Beuys, der an diesem Abend erstmals wieder offiziell die Akademie betreten durfte. Paik holte also demonstrativ den Geist von Beuys - im Zeichen von Fluxus - an die Akademie zurück. Paik - Beuys - Fluxus - Maciunas verbanden sich erneut in einem offenen Aktionsfeld. Dementsprechend trat der Video-Künstler Nam June Paik noch bewußt in den Hintergrund. Das Konzert wurde allerdings durch den Veranstalter René Block auf Video festgehalten.
Die Aktion war nur in ihrem Grundgefüge abgesprochen: Zwei Flügel waren Kopf an Kopf gestelllt, ein Wecker begrenzte die Zeit des Konzerts auf 74 Minuten - in Umkehrung der Ziffern der Lebensjahre von Maciunas. Beuys saß mit Rucksack und Kupferstab am Flügel, ließ durch einen Kassettenrecorder unidentifizierbare Sprachgeräusche ins Konzert einfließen, ansonsten beschränkte er sich - im Zeichen des an an eine Tafel gemalten Wortes "Continuum" - auf unablässiges improvisiertes Klavierspiel. Paik gab neben der Wiedergabe bestimmter musikalischer Zitate hingegen zurückhaltende Aktionseinlagen, zündete eine Kerze an, präparierte die Saiten, hantierte mit dem Wecker. Dieser Abend erscheint im Nachhinein als Reminiszenz. Er war aber zugleich vorwärtsweisend, indem er in der Konfrontation der beiden "Sender" Beuys und Paik ein Modell abgab für spätere, live vom Fernsehen übertragenen Gemeinschaftskonzerte via Satellit. Ein solches Satelliten-Duett zwischen Beuys in Köln und Paik in New York scheiterte 1982 kurz vor dem Ziel allerdings aus finanziellen Gründen. Das Projekt "Good Morning Mr. Orwell", simultan in New York, Paris, Seoul und Köln ausgestrahlt, am Neujahrstag 1984, trat später an seine Stelle. Höchstens der Wecker, als unerbittlicher Zuweiser von "Sendezeit", war 1978 im Düsseldorfer Maciunas-Konzert äußerlich ein Indikator für solche technologische Erweiterung von Fluxus. Mehr und öffentlich unbemerkt, war Paiks Arbeit mit den neuen Medien dagegen in das, eine Woche zuvor, ebenfalls in der Aula vorgeführte erste und einzige Gemeinschaftsprojekt mit Studenten "Video-Venus" eingeflossen.
Die Tätigkeit von Nam June Paik als Lehrer an der Kunstakademie Düsseldorf wird hier in unserem Katalog von Susanne Rennert beleuchtet. Ein Nebenaspekt der Lehrtätigkeit soll aber nicht unbeachtet bleiben. Durch seine Tätigkeit in Düsseldorf verstärkte sich nun auch die Kooperation zwischen Paik und den Düsseldorfer Kulturinstituten, d.h. mit der Kunsthalle und dem Kunstmuseum. Paiks erste große Retrospektive - noch vor New York - hatte 1976 der Kölnische Kunstverein veranstaltet. Der zweite große europäische Überblick - "Video-Time - Video Space", 1991/92 - war eine Kooperation zwischen Basel/Zürich und Düsseldorf (Kunsthalle). Dazwischen lag eine der ersten Multi-Monitor-Installationen im Malhaus des Kunstmuseums ("Videogate") und eine Video-Laser-Installation in der Kunsthalle (beides 1982, Kooperationen mit Horst H.Baumann), lag der "TV-Trichter" für die Ausstellung "von hier aus", 1984, in den Messehallen, hardware-Grundlage für den Video-Himmel "Fish flies on Sky", 1985 im Kunstmuseum mit 88 Monitoren eingerichtet. 1982 war - anläßlich der ersten Ausstellung des Photographen Manfred Leve - Charlotte Moorman mit einem Performance -Abend zu Gast in der Kunstmuseums-Depandance Pempelforter Straße. Paik beteiligte sich sowohl an der Ausstellung "Rheingold" in Turin (mit einem Raum mit dem Maciunas-Konzert), einer Köln-Düsseldorfer Gemeinschaftsproduktion, wie an den "Brennpunkten" 1 und 2 des Kunstmuseums. Paiks Klasse war in den genannten Instituten zu Hause, die Kuratoren der Institute wurden ihrerseits in die Paik-Klasse eingeladen.
Durch die Galerie Hans Mayer zunächst, später auch durch den Achenbach Kunsthandel, fand Paik schließlich in der Distribution in Düsseldorf einen starken Stützpunkt.
Daß dies alles nicht möglich gewesen wäre ohne die erste Aktions-Musik, 1959 in der Galerie 22, darauf hat Paik immer wieder hingewiesen. Sein erster deutscher Einzelkatalog, aus Anlaß der Retrospektive im Kölnischen Kunstverein 1976 herausgegeben, war ausdrücklich Jean Pierre Wilhelm gewidmet.
Damit schließt sich zugleich der Kreis dieses kurzen Rückblicks, der zugleich zeigt: Nichts, was wie Zufall aussieht, ist der Willkür anheimgegeben. Sollte auf der Insel Fluxus je ein Lehrbuch gedruckt werden, sollte dies ein Merksatz sein.