Vittoria Borsò
Moderne der Jahrhundertwende(n)
Internationaler Kongress an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1998

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Helga Finter

Kunst des Lesens, Kunst des Lachens: Zum Theater in einer Gesellschaft des Spektakels

Unsere Jahrhundertwende scheint fast identisch eine Frage zu wiederholen, die schon Dichter und Dramatiker gegen Ende des letzten Jahrhunderts stellten: Was soll, was kann Theater in einer Gesellschaft, die selbst zum allumfassenden Theater wird?

Während das letzte Fin de Siècle das Heraufziehen der Mediengesellschaft und das mögliche Ende der Buchkultur nur ahnen konnte, befinden wir uns heute auf dem Gipfel dessen, was Guy Debord als Gesellschaft des Spektakels analysiert hat. Die traditionellen Funktionen des Theaters scheinen vom Spektakel absorbiert und von Fernsehen und Internet wahrgenommen zu werden. Zumindest wird dies von weltweiten Medienereignissen, wie zum Beispiel dem Sündenbockritual mit Präsident Clinton als Hauptdarsteller nahegelegt. Auch die ästhetischen Revolten der Theateravantgarden sind heute in das Spektakel integriert. Was könnte da noch die Funktion des Theaters sein?

Mit Guy Debords Werk - nicht nur der Theorie, sondern auch seiner künstlerischen und schriftstellerischen Praxis - sollen in einem ersten Schritt Antworten auf die Herausforderung durch das Spektakel diskutiert und mit zeitgenössischer Theaterpraxis konfrontiert werden.

Sie sollen in einem zweiten Schritt zeigen, daß die Kunst des Lachens und die Kunst des Lesen, die respektive Stéphane Mallarmé und Alfred Jarry vor hundert Jahren als Theaterutopien formulierten, auch heute als Strategien des Widerstands gegen die Homogenisierung durch das Spektakel nicht obsolet geworden sind, schlagen sie doch gerade die Auseinandersetzung mit dem Anderen in Form der Schrift und des Lächerlichen als Utopien eines Theaters des subjektiven Raumes vor. Mallarmés Théâtre du Livre und Jarrys Theater des anderen Schauplatzes antizipieren mit der Kunst des Lesens und der Kunst des Lachens Strategien der Auflösung fixer Repräsentationen und Utopien von Gemeinschaft in der Singularität.

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Biographische Daten

Helga Finter, Professorin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen seit 1991, Gastdozentin an den Universitäten Venedig und Straßburg.

Publikationen

hat Bücher zum italienischen Futurismus (1980), zu den Theaterutopien Mallarmés, Jarrys, Roussels und Artauds (Der subjektive Raum, 2 Bde. (1990) und zum Werk Georges Batailles (Bataille lesen. Die Schrift und das Unmögliche (1992), veröffentlicht.
Zahlreiche Aufsätze zur Literatur und zum Theater des 20. Jahrhunderts, zuletzt "Artaud and the Impossible Theatre" in: The Drama Review, 41,4, 1997, "Le Livre de Mallarmé ou le rite du Livre" in Perspectives, Revue de l'Université Hébraique de Jérusalem, 4, 1997, "Theater als Lichtspiel des Unsichtbaren" in: Girshausen/ Thorau (Hrg.), Theater als Ort der Geschichte, (1998) sowie "Primo Levi's Version of Se questo è un uomo" in: Claude Schumacher (Hrg.), Staging the Holocaust. The Shoah in Drama and Performance (1998). Dramaturgien für Produktionen am TAT (Elke Lang und Frida Parmeggiani) und am Marstall, München (André Wilms). Theaterkritiken in verschiedenen Zeitschriften in Deutschland, Frankreich und Italien. Neben dem Avantgardetext und -theater gilt ihr besonderes Interesse der Ästhetik der Stimme und der Theatralität des Buches.