Im Jahr 1899 publizierte der Inhaber des
Genfer Lehrstuhls für Psychologie physiologique et expérimentale,
Théodore Flournoy, einen fantastischen Roman mit dem Titel Des
Indes à la Planète Mars. Diesen aus mehreren Zyklen bestehenden
Roman samt der 'automatischen Schriften' aus Indien und vom Mars hatte
das Medium Hélène Smith produziert, die Flournoy als einen
Fall von "Somnambulismus mit Glossolalie" (Untertitel des Buches) beschrieb.
Für die Untersuchung seines "Falls" konsultierte Flournoy auch andere
Gelehrte der Fakultät, darunter Ferdinand de Saussure, um schließlich
zu dem Ergebnis zu kommen, daß Hélène Smith ein bewundernswertes
"Pastiche-Genie" sei.
Hundert Jahre später: Im "Spiegel"
vom 26.10.1998 wird die "Multiple Persönlichkeit" als eine "Betrügerei"
der Psycho-Wissenschaften entlarvt: "Die 16 Persönlichkeitsabspaltungen
im Paradefall 'Sybil', auf den sich die Psycho-Zunft gern berief, waren
die Erfindung einer Therapeutin und einer Autorin."
"Hélène Smith" bietet nur
einen "Fall" im Korpus der Fälle von "Doppel-und Mehrfachpersönlichkeiten",
die an der vergangenen Jahrhundertwende beschrieben wurden, so wie "Sybil"
nur einen Fall des respektiven Korpus der Aktualhistorie darstellt. Ich
möchte in meinem Vortrag anhand dieser Fallbeispiele die beiden Korpora
zweier Jahrhundertwenden konfrontieren und auf ihre verschiedenen medialen
Bedingungen hin befragen. Die Spezifik der literaturwissenschaftlichen
Perspektive liegt in der Relationierung von multipler Persönlichkeit
und Pastiche. Aus dieser Relationierung kann eine kulturmodellierende Sicht
des Phänomens gewonnen werden, die auch die Rolle der Massenmedien
zwischen Sensationismus (im April 1994 hatte "Der Spiegel" noch den Aufmacher,
daß "rund 40.000 Deutsche unter Multipler Persönlichkeitsstörung
leiden") und Entlarvung als Betrügerei oder irrationalen Unfug beleuchtet.
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