Hauptthesen
Der Hiat zwischen empirischer Fundamentalität
des Normalen und seiner diskursiven Verworrenheit war der Anlaß für
mich, eine systematische und historische Rekonstruktion der Kategorie in
Angriff zu nehmen, und mein Resultat war u. a. dies, daß wir es bei
dem Normalen und der
Normalität (bzw. den Normalitäten)
erstens nicht bloß mit einer beliebigen Sprechblase, sondern mit
einem tatsächlich kultur- und subjektkonstitutiven Netz, das ich in
seiner Gesamtheit als "Normalismus" bezeichne, um ein spezifisch und ausschließlich
modernes und okzidentales Phänomen handelt. Damit stehe ich gegen
in der Soziologie verbreitete Auffassungen, denen zufolge das Normale entweder
ein Teil des Normativen oder identisch mit dem Alltäglichen sei: in
beiden Fällen würde es sich dann konsequenterweise um ein ubiquitäres
und sozusagen zeitloses Phänomen handeln.
Mir scheint dagegen zunächst historisch plausibel, daß das Normale sich vom Normativen seit dem 18. Jahrhundert signifikant abgespalten und getrennt hat, und ich möchte behaupten, daß wir es bei "Normalität" und bei "Normativität" im ersten Fall mit einer ultramodernen und im zweiten mit einer uralten und wahrscheinlich bereits im wörtlichen Sinne vorsintflutlichen Erscheinung zu tun haben. "Normen" und "Normativität" besitzen und besaßen nach übereinstimmenden Auffassungen von Ethnologie, Anthropologie und Soziologie alle menschlichen Gesellschaften. Es sind explizite oder implizite, durch Sanktionen verstärkte Regulative, die material oder formal bestimmten Personengruppen ein bestimmtes Handeln vor-schreiben. "Normen" sind daher stets dem Handeln präexistent: Sie sind mindestens einigen Professionellen der Norm bereits vor dem Handeln bekannt. In der großen Mehrheit der genannten einschlägigen Diskurse wird "Normativität" als generelle abstrakte Kategorie für den Gesamtbereich der so verstandenen "Normen" verwendet. Dabei hat "Normativität" also einen im weiteren Sinne juristischen Beigeschmack.
Demgegenüber ist "Normalität", so meine These, eine historisch-spezifische 'Errungenschaft' moderner okzidentaler Gesellschaften, die zuvor niemals existierte und auch heute in zahlreichen Gesellschaften bzw. Kulturen nicht oder bloß in Ansätzen existiert. "Normalität", so meine weitere These, setzt nämlich ganz wesentlich statistische Dispositive voraus und wird in Bezug auf "Durchschnitte" und andere statistische Größen definiert. Wenn man mit diesem Definitionskriterium Ernst macht, gibt es — anders formuliert — "Normalitäten" stricto sensu nur in verdateten Gesellschaften, nur in Kulturen, die sich selbst kontinuierlich, routinemäßig, flächendeckend und institutionell statistisch transparent machen.
Verdatete Alltage sind gänzlich neue Emergenzen: In ihnen passen wir uns den durchschnittlichen Geschwindigkeiten massenhafter Verkehrsströme an und respektieren Grenzwerte oder auch nicht, wir arbeiten entsprechend Normalarbeitstagen in Normalarbeitsverhältnissen oder existieren, wenn wir arbeitslos sind, von Versicherungsgeldern, die auf der Basis mathematischer Statistik errechnet sind usw.; unser Gewicht bzw. unsere "Linie" versuchen wir nach Daten wie "Normal-" und "Idealgewicht" zu adjustieren, und selbst wenn wir und scheiden lassen oder eine späte Erstgeburt planen, orientieren wir uns mindestens subdominant auch an den jeweils einschlägigen statistischen Kurvenlandschaften. [...]
Was man bei Comte aber insgesamt als exemplarisch konstatieren kann, gilt auch allgemein, unbeschadet verschiedener Strategien: Normalisierung und Normalismus sind die response auf den challenge der Moderne, sind sozusagen bremsende Ver-Sicherungen gegen die Denormalisierungsangst angesichts symbolisch exponentieller Dynamiken. Um es selbst ganz symbolisch zu formulieren: Normalismus ist die Bremse für den explosionsgefährdeten Motor Moderne.
Systematischer gesagt, erweist sich der Normalismus im Sinne eines Ensembles aller diskursiven Dispositive und kulturellen Instanzen bzw. Institutionen, die Normalitäten produzieren, als die vermutlich wichtigste regulierende Instanz moderner Dynamiken, und zwar setzt er die möglichst vollständige Verdatung der Gesellschaft voraus, um die Trends aller Wachstumskurven möglichst prognostisch bestimmen und durch Interventionen privater und staatlicher Instanzen jeweils präventiv oder mindestens reparierend normalisieren zu können. [...]
Ich möchte nun abschließend exemplarisch auch auf die Funktion der Literatur im weitesten Sinne, d.h. andere narrative Formen wie Film und TV einbegreifend, für den Normalismus zu sprechen kommen. Wenn die Literatur in diesem Sinne vor allem für die Subjektivierung, d.h. die Produktion und Reproduktion von Subjektivitäten funktional ist, dann sind zuvor in aller Kürze einige Kriterien normalistischer Subjektivität zu skizzieren. Die Normalisierung der Massenatome nach statistischen Prämissen befreit die einzelnen Atome nicht von ihrer jeweiligen Psyche und Subjektivität. Wie nimmt das einzelne Atom die normalistischen Prozesse subjektiv wahr? Mehr noch: Wie lebt es sie? Offensichtlich kann das einzelne Massenatom die normalistischen Kurvenlandschaften als Lebenslandschaften erfahren und sein Leben nach ver-sichernden normalen Mittelzonen und nach riskanten Übergangszonen zu den Normalitätsgrenzen einrichten, jenseits derer die Rand-Zonen der Anormalität beginnen. Dabei sind sowohl Normalität wie Anormalität ambivalent: Die Denormalisierungsangst stattet den Durchschnitt mit überwältigender Attraktionsangst aus und die Ränder (margins) zur Anormalität mit Repulsionskraft. Gleichzeitig stößt aber die inhärente Tendenz des Durchschnitts zur Langeweile von der symbolischen Mitte ab und üben die Ränder Faszination aus. Insbesondere unter ästhetischen Gesichtspunkten ist Anormalität interessanter als Normalität. Daraus ist der literarische Faszinationstyp der (nicht) normalen Fahrt entstanden, in dem der Weg eines Massenatoms durch die Kurvenlandschaften erzählt wird, häufig aus der Ichperspektive und im coolen Ton des alltäglichen Slang. Dieser Weg beginnt typischerweise in der Normalität und geht dann gleitend in denormalisierende Bewegungen über, endet häufig im Unfall, in der Katastrophe der irreversiblen Denormalisierung. Idealtypisch handelt es sich um Fahrten im Wortsinn, Fahrten in den Technovehikeln der Moderne, in modernen Booten, Eisenbahnen, Trams, Autos und Flugzeugen (in der SF Raumschiffen), deren Bewegungen durchgängig mit den wichtigsten subjektiven Normalfeldern enggeführt werden, die auch in der normalistischen Psychologie und Soziologie von Anfang an dominierten, also Psychostreß der Karriere bis zu Kriminalität und Wahnsinn, Sex, Einsamkeit des Massenatoms bis zum Selbstmord und Sehnsucht nach As-Sociation. [...]
Ich möchte konkret mit einem Blick auf die Schlußepisode eines in seiner literarhistorischen Bedeutung kaum zu überschätzenden Romans des 20. Jahrhunderts schließen — ich meine das Autodrama in Célines Reise ans Ende der Nacht, von der sich sowohl die existentialistischen Romane wie — über Kerouacs On the road — auch die Road Novels und Road Movies wie in vieler Hinsicht auch die Trip- Narrationen abzweigen.
Audio/Video
Fragen und Antworten - Audio
Alois Hahn / Jochen LinkFotografien
Ausgewählte Daten
Arbeitsschwerpunkt
"Jochen Links Normalismustheorie - wie er sie in seinem Buch Versuch über den Normalismus darlegt - fasst den Diskurs der Normalität als ein typisch modernes Dispositiv auf, das sich vor allem in den letzten Jahrzehnten auf allen gesellschaftlichen Ebenen konsolidiert hat. Normalität zeigt sich in wissenschaftlichen Spezialdiskursen ebenso wie im interdiskursiven Kontext, d.h. in Alltagspraktiken und -diskursen." (Wikipedia)
Literaturempfehlung
Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (1996)