Die Kunst der Fuge
Thomas Braschs unveröffentlichtes Brunke-Material als Leseinstallation im Jüdischen Museum Berlin
von Thomas Wild
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 30. August 2005
Auf das Drängen der Zeit antwortete er mit der Kunst der Fuge. Fast zehn Jahre lang hatte er nach dem Mauerfall geschwiegen. Thomas Brasch, der 1976 die DDR verlassen und mit Stücken wie "Rotter" (1977), Filmen wie "Engel aus Eisen" (1981) oder Prosabüchern wie "Vor den Vätern sterben die Söhne" (1976) die literarische Szene der Bundesrepublik im Sturm erobert hatte. Ein Autor, für den das Politische nie in politischen Reden bestand, sondern in einer Kunst, die in der Strenge ihr anarchisches Potential freilegt. Im Westen bot man ihm die bequeme Rolle des Dissidenten an. Er lehnte ab und blieb unbequem. Auch als es Ost und West über Nacht nicht mehr gab und nun jeder von ihm, "der größten Begabung seiner Generation", wie Heiner Müller einmal sibyllinisch urteilte, ein passendes Wort zum neuen Deutschland erwartete.
Die Gegenwart lag für Brasch, der im November 2001 verstorben ist und dieses Jahr seinen 60. Geburtstag gefeiert hätte, nicht in der Nähe des Aktuellen, er suchte sie im Weiten des Vergangenen. Eine Zeitungsnotiz brachte ihn auf den Fall des Mädchenmörders Karl Brunke aus dem Jahr 1905. Eine fixe Idee, die er programmatisch wuchern ließ. Mehrere tausend Seiten Prosa über "Die Liebe und ihr Gegenteil" entstanden, ein gigantisches Erzählwerk, aus dem knapp hundert schmale, kristalline Seiten 1999 bei Suhrkamp erschienen. Seither ranken sich Mythen um den großen poetischen Entwurf, in dem Braschs Fluchthelfer aus der literarischen Wendegeschwätzigkeit als hautloses, blankes Wesen in den Schädelkammern des Erzählers wohnt und im Rhythmus der Bachschen Fuge vielstimmig den Ton angibt.
Als "LeseFuge" wurden am vergangenen Wochenende Teile des unpublizierten Materials in Berlin präsentiert. Hartmut Fischer von "Juliettes Literatursalon", der mit Brasch befreundet war und seit einem Jahr an wechselnden Orten aus dem Brunke-Konvolut vorliest, verwandelte gemeinsam mit den Philosophen Andreas Hofbauer und Daniel Tyradellis den Konzertsaal des Jüdischen Museums gleichsam in das Schädelinnere der Textstimme. Sieben Schauspieler blickten und sprachen, projeziert mit Videobeamern, von den Wänden des Raumes: Angela Winkler las gemäß des Fugen-Prinzips als 'Dux' die Grundgeschichte, begleitetet von Varianten und poetologischen Kommentaren der 'Comes' Blixa Bargeld, Braschs Schwester Marion, Herbert Fritsch, Lars Rudolph, Otto Sander und Anna Thalbach.
Eine leibhaftige Lesung von fünf der sieben Glorreichen hörten rund zweihundert Besucher. Während der "Langen Nacht der Museen" konnte man die Installation am Samstag noch einmal sehen. Gegenwärtig war nun vor allem die Sprache Thomas Braschs, unerbittlich und klar, dunkel und schön, spielerisch und verzweifelnd. Was Brasch mit "Brunke" verfolgte, verdeutlichte der Raum mit den Libeskindschen Schrägen, Verschachtelungen und leeren Ecken auf besondere Weise: die Geschichte des 1989 zu Ende gegangenen Jahrhunderts zu erzählen. Etwas, wofür wir wahrscheinlich noch immer keine Worte haben. So beschreibt das Brunke-Material auch ein Scheitern. "Die Geschichte des B. ist vielleicht keine Geschichte, die erzählt werden muss", heißt es einmal, "aber eine offene Tür, in die man den Fuß stellen kann und hinter der sich die eigene Geschichte verbirgt."