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Cornelia Saxe über Juliettes Literatursalon

Cornelia Saxe, geb. 1967 in Berlin (Ost), studierte Germanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und Amsterdam. Literatur- und Reisestipendien führten sie nach Griechenland und in die arabische Welt. Buchveröffentlichungen u.a.: „Das gesellige Canapé – Die Renaissance der Berliner Salons“, Quadriga Verlag by Ullstein, Berlin, 1999. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Radio-Sendungen für Deutschlandradio Kultur, RBB, WDR. Cornelia Saxe lebt als Autorin, Journalistin und Online-Redakteurin in Berlin.

Auszug aus

Cornelia Saxe, „Bouvarine“. Vom Buch als Droge, der Frau als Leserin und dem Luxus des Vorlesens,
in: Bibliotherapy, hg. von Rémy Markowitsch und Andreas Baur,
dreisprachiges Lesebuch zur gleichnamigen Ausstellung (dt./eng./franz.): Luzern, 2002

Der Luxus des Vorlesens

Im Berliner „Juliettes Literatursalon“ ist an den Vorlese-Abenden die Luft oft zum Schneiden dick. Diesmal ist der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Durs Grünbein an der Reihe, vor dem ausverkauften Salon aus der achtbändigen Gesamtausgabe von de Sades „Justine und Juliette“ vorzutragen, und bemerkt eingangs entschuldigend, der Buchhändler und Salonbetreiber Hartmut Fischer habe ihm hier um den Vortrag eines besonders heftigen Kapitels gebeten. In dieser Juliette gewidmeten Passage, die im Gegensatz zu ihrer bigotten Schwester Justine keine noch so abwegige sexuelle Erfahrung auslässt und die die Namenspatronin des Ladens ist, geht es tatsächlich heftig zur Sache: In der Szenerie eines Klosters wird nicht nur auf alle erdenkliche Arten kopuliert, sondern zur Freude der brünstigen Mönche auch schwangeren Frauen der Bauch aufgeschlitzt. Das Salonpublikum lauscht ergriffen. Niemand verlässt protestierend den Raum.

Mit den Veranstaltungen, die ein breites Publikum anlocken, will der Initiator Hartmut Fischer das seiner Meinung nach zu Unrecht in Verruf geratene pornografische Werk wieder ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Bis jetzt haben über siebzig Vorleserinnen und Vorleser aus der Berliner Künstlerprominenz de Sade ihre Stimme geliehen wie die Schauspielerin Katharina Thalbach oder der Musiker Blixa Bargeld, der mit einer Handpuppe auftrat, da von den Rezitatoren eine möglichst ungewöhnliche Gestaltung der Darbietung erwartet wird. Aufsehen erregender Vorläufer dieses Projekts war die neun Tage und neun Nächte währende Dauerperformance eines Schauspielers bei „Juliettes“, der seinen Wohnort hinter die Schaufenster des Buchladens verlegte, um eine nach draußen übertragene Non-Stop-Lesung der wiederaufgelegten „Essais“ von Montaigne zu zelebrieren.

Die ritualisierten Abende vergleicht der Buchhändler mit der Zeremonie von Mönchen, die sich auf ein Glas Tee zurückziehen. Im besten Falle wolle er den Besucherinnen und Besuchern den Luxus eines magischen Raumes verschaffen, der über die Stimme der Vortragenden Ruhe und Geborgenheit schaffe, die an das wohlige Märchen vorgelesen bekommen aus der Kindheit anknüpft. Die Stimme, sagt Hartmut Fischer, gibt dem Text eine zusätzliche Form und bleibt so stärker im Gedächtnis.

Der Gründungsboom von öffentlichen Lesebühnen und literarischen Salons in der Hauptstadt, in denen Autorinnen, Autoren und professionelle Rezitatoren nicht nur neue literarische Werke vorstellen, sondern auch, wie in den alten Berliner Salons der Rahel Levin-Varnhagen oder Henriette Herz, aus Klassikern vortragen, hat derzeit in Berlin Hochkonjunktur und spricht mit der Renaissance der Salons für eine Renaissance der Vorleserinnen und Vorleser (vgl. Cornelia Saxe: Das gesellige Canapé – Die Renaissance der Berliner Salons, Berlin, 1999).

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Auszug aus

Cornelia Saxe „Das gesellige Canapé – Die Renaissance der Berliner Salons
Quadriga Verlag by Ullstein, 1999, Kap. "Juliettes Literatursalon" im Scheunen-Viertel

"Lieber der erste Mann im Dorf, als der zweite Mann im Staate", ist einer der nicht ganz ernst gemeinten Leitsprüche von Hartmut Fischer. Das Dorf ist in seinem Fall das Berliner Scheunenviertel, der Lebensmittelpunkt des Buchhändlers sein dort existierender Salon-Buchladen. Die Gegend wurde schon früher von einer Mischung aus Intellektuellen, Künstlern, Halbwelt und Boheme bevorzugt. Aus diesen Kreisen kennt er heute fast alle im Karree. In der Mulackstraße Otto von der "Sushi-Bar", in der Alten Schönhauser die Restaurant-Betreiber vom Italiener "Canta Maggio", von der Volksbühne Christoph Schlingensief und einige Schauspieler, die abends auf einen Wein bei ihm vorbeikommen. Die Komödiantin Annika Krump, bekannt als "Palmakunkel - die singende Tellermiene", wohnt ein paar Häuser weiter und stöbert manchmal in Fischers Bücherregalen nach vertonbaren Gedichten.

"Juliettes Literatursalon - Buchhandlung Galerie" steht dezent an der Eingangstür. Es gibt keine Ladenaufschrift und kein Schild mit den Öffnungszeiten. Die regelmäßigen Besucher bemerken bald: die Buchhandlung ist eigentlich ein Wohnzimmer, der gesellige Ort ein Salon. Denn hier riecht es nicht nur nach Papier, sondern auch nach Zigarettenrauch und Wein. Läuft man am Laden vorbei, sieht man durch die großen Schaufenster Fischer und seinen Compagnion Hendrik Rohlf oft noch am Abend und auch an den Wochenenden mit Gästen auf dem rosafarbenen Canapé sitzen. Von draußen wirkt dieses Bild sehr einladend. Sitzt man selber in der Runde, fühlt man sich den Blicken der vorbeieilenden Passanten bisweilen preisgegeben.

„Wenn man einmal bei mir drin war, dann genießt man den Blick auf die Bäume, die selten sind in Berlin-Mitte, und vor allem auf den Himmel, der eine wichtige Rolle spielt für freie Gedanken", philosophiert der junge Inhaber über seinen Laden, während wir im „Canta Maggio“ sitzen und Soave trinken. Im weichen Tonfall seiner Stimme schwingt noch eine Spur seiner süddeutschen Heimat mit. Der Buchhändler, der sich zu Hause schon die ersten Sporen als erfolgreicher Literatur-Veranstalter verdient hatte, ist vor vier Jahren aus Tübingen hierher gezogen. Er wollte weg aus dem beschaulichen Hölderlin-Städtchen, wo man ihm und seinem damaligen Mitstreiter mitunter in den Gassen hinterhertuschelte: "Da sind die seltsamen Typen aus dem Club mit dem Sex-Café."

In Berlin ist "Juliettes Literatursalon" keine unbekannte Adresse mehr. Der Laden wurde inzwischen in den Zeitungen besprochen und ist im Hauptstadt-"Marco Polo" als Insider-Tip unter den neuen Salons verzeichnet. "Durchschnittlich einmal im Monat kommen hier Touristen vorbei, setzen sich aufs Sofa und wollen bei mir Kaffee trinken", sagt Fischer und schüttelt verständnislos den Kopf. Für bestimmte Stammgäste, gibt er zu, würde er dagegen sogar ein ganzes Frühstück auftischen. Für Blixa Bargeld zum Beispiel, dem Bandbegründer der "Einstürzenden Neubauten" und Tourbegleiter von Nick Cave. Für den Ex-Schillertheater-Regisseur und Schauspieler Peer Martiny. Oder für den Clochard Bruno S., der in Werner Herzogs Film den Kaspar Hauser spielte.

Nach seiner Ankunft in Berlin hatte sich Fischer zunächst am kulturwissenschaftlichen Institut an der Humboldt-Universität eingeschrieben. Die meiste Zeit suchte er aber nach einem großen Laden mit Galerie-Raum, bis er nach zwei Jahren, im Frühling 1997, in dem denkmalgeschützten, restaurierten Haus Nummer 25 in der Gormannstraße endlich das Richtige gefunden hatte. Hier gründete er seinen Buchladen, in dem er Lesungen und Ausstellungen organisiert.

Die Welt als Publikum und seine Salonbuchhandlung als Bühne, so betrachtet er gern dieses Projekt. Die halböffentliche Bühne seines Bücherzimmers nutzt er auch für seine eigenen Inszenierungen als Künstler, als Schriftsteller, als Bohemien. Mit seinen dunklen Locken, dem schwarzen kunstvoll rasierten Bart und einer gepflegten Unausgeschlafenheit erinnert er entfernt an einen russischen Dichter, einen Nachfahren von Puschkin vielleicht, der in den zwanziger Jahren als Emigrant hier im Viertel gelebt haben könnte. Der eher wortkarge Fischer, der während unserer Begegnung jede Menge filterlose "Citanes" aus der quadratischen blauen Schachtel raucht, unterstützt die Wirkung eines Poeten gern mit romantischen Hemden und einem eingetragenen Nadelstreifen-Anzug. Das Spruchband, das auf dem Bildschirm-Schoner seines Buchladen-Computers endlose Schleifen dreht, verkündet programmatisch: "Monsieur Teste sagt: Mein Mögliches verläßt mich nie. Und der Dämon spricht zu ihm: Gib mir einen Beweis. Zeig mir, daß du immer noch bist, der du zu sein glaubtest."

Das, was in seiner Buchhandlung Salonhaftes geschieht, sind die Gespräche und Begegnungen spät nach Lesung oder Ladenschluß. Nachdem der Volksbühnen-Schauspieler Herbert Fritsch zum Beispiel Texte von Geisteskranken aus der "Prinzhorn-Sammlung" in „Juliettes Literatursalon“ gelesen hatte, saßen noch nachts um halb Drei ein paar Gäste mit Fischer und Fritsch beim Wein zusammen. Vor dieser kleinen Runde und weil er guter Stimmung war, deklamierte der Schauspieler aus dem Stand Gedichte des Wieners Konrad Bayer. "Das war mit das Beeindruckendste, was ich hier so erlebt habe", sagt mein Gesprächspartner und fällt wieder in Schweigen.

Der Zweiunddreißigjährige ist kein leicht zugänglicher Mensch, denn nicht nur in seinem Laden, sondern selbst im überfüllten „Canta Maggio“ strahlt er Unnahbarkeit aus und es kostet einige Mühe, mit ihm ein Gespräch zu führen. Doch gerade durch diese Mischung aus Introversion, Arroganz und einem unerwartet hervorbrechenden Lächeln scheint es ihm zu gelingen, aus seinem heterogenen Publikum von Studenten, Künstlern, Theaterleuten und Wissenschaftlern einen kleinen fast hermetischen Salon-Kreis zu vereinen. Männer mit einer ausgewiesenen Künstler-Existenz haben bei der Aufnahme Heimvorteil, Künstlerinnen und intellektuelle Besucherinnen haben es schwerer. Deutlich läßt der Salonièr die Gäste spüren, wer hier dazugehören soll. Wenn man von ihm aufgefordert wird, auf dem Canapé Platz zu nehmen, kann das ein Zeichen für die Eignungsprüfung sein. Wird man dann später von ihm in der Runde vorgestellt und bekommt gar kostenlos ein Glas Wein, ist die Probe bestanden. "ELITESTIRN U. ULTRA SALO JET" dichtete die Künstlerin Christina Thomas ein Anagramm aus der Zeile "Juliettes Literatursalon" bei ihrer Ausstellung im vergangenen Jahr. "120 Tage von SALO" nannte Passolini seinen Film nach de Sades Buch-Vorlage "120 Tage von Sodom", eine Enzyklopädie von sechshundert sexuellen Perversionen.

Vor mehr als zehn Jahren, noch als Abiturient, war Hartmut Fischer einer unter Hunderten Bewerbern, der sich im renommierten Buchladen "Gastl" am Holzmarkt gegenüber der Tübinger Stiftskirche als einziger erfolgreich um die Stelle als Buchhändlerlehrling bewarb. Die betagte Inhaberin des Ladens, Julie Gastl, verstand sich in der Nachfolge der amerikanischen Buchhändlerin Sylvia Beach und ihrer Pariser Verlagsbuchhandlung "Shakespeare and Company". Dort hatten Lesungen mit Breton, Gide, Hemingway, Valéry, Eliot und Joyce stattgefunden und der Laden war zum Treffpunkt der wichtigsten Literaten jener Zeit geworden. Bei Julie Gastl in Tübingen waren Walter Jens, Ernst Bloch, Paul Celan und Hans Mayer eingeladen. Bloch, der auf beharrliches Betreiben von Gastl in den sechziger Jahren aus Leipzig an die Tübinger Universität gekommen war, hielt nach seinen Hauptseminaren kleine Privatissima in der oberen theologischen Abteilung des Ladens ab. Ein Stamm-Besucher schrieb über die Gastlsche Gast-Stätte: "Hier streckte der Weltgeist mitunter die Beine unter das Teetischchen und machte sich's bequem."

Angeregt durch dieses Vorbild initiierte Fischer nach seiner Lehre 1992 in dem alternativen Tübinger Kulturzentrum "Club Voltaire" eine eigene Reihe unter dem Titel "Juliettes Literaturcafé". Der erste Band von de Sade's "Juliette und Justine" war gerade erschienen. Die libertine Juliette, schriftstellerische Phantasiefigur, die keine noch so abwegige sexuelle Erfahrung ausläßt und Ehre, Moral, Gesetz und Religion verachtet, hatte es Fischer angetan. "Ich interessiere mich eigentlich schon immer für Erotik", sagt er und nimmt genießerisch einen Schluck vom Soave. Deshalb sei Juliette schon damals zur Patronin und Namensgeberin des von ihm ins Leben gerufenen Treffpunkts geworden.

Im Programm dieses Literaturcafés wollte er vor allem "Mini-Verlage" präsentieren. Den Auftakt bildete die in Tübingen ansässige und dort umstrittene Verlegerin moderner erotischer Kunst, Claudia Gehrke, und der Lektor Michael Farin vom "Schneekluth"-Verlag, der gerade die Bibliothek der klassischen erotischen Romane neu edierte. Die regionale Presse besprach die Eröffnungs-Veranstaltung zwiespältig als "Erotik-Club Voltaire". Auch der Herausgeber von "Justine und Juliette" wurde zu Lesung und Diskussion eingeladen. Später waren einmal Charlotte von Mahlsdorf mit ihrem Buch "Ich bin meine eigene Frau" oder der Berliner "Maas"-Verlag mit den Schreiber-Haudegen Erich Maas, Peter Wawerzinek und Harry Hass zu Gast. "Das sind so drei kleine Männle, die versucht haben, sich als Poeten in der behäbigen gediegenen Atmosphäre von Tübingen richtig gut zu betragen", erzählt Fischer und lächelt in der Erinnerung daran. "Abends sind wir dann in Fahrt gekommen. Je länger sie gelesen haben, desto lustiger wurde es." Auch in seinem Literaturcafé gab es schon einen festen Besucherkreis. Nach der Lesung ging man zum Stamm-Italiener um die Ecke und danach wieder zurück in den Club, Fischer hatte die Schlüssel. An der Bar konnte weitergetrunken und diskutiert, konnten Texte oder Stücke ausprobiert werden. Schon damals, sagt Fischer, habe er zeitweise im "Club Voltaire" gewohnt und seine selbstgewählte Funktion als Lesungs-Veranstalter und Initiator eines salonartigen Treffpunkts zu einem Teil seines Lebensentwurfes gemacht.

Auch heute verschickt Fischer zu seinen Veranstaltungen keine Einladungen. Man muß schon selbst Kontakt halten und im Laden vorbeischauen. Mal finden dort zwei, mal zehn Lesungen im Monat statt. Mal sind es zehn, mal hundert Leute, die kommen. In gewisser Weise ist Fischer seinem alten Programm in Berlin treugeblieben. Neben bekannten Literaten, wie Pavel Kohout und dem jungen Suhrkamp-Autor Johannes Jansen, stellt er weiterhin Kleinverlage vor, wie den Klagenfurter "Ritter"- oder den Berliner "Aviva"-Verlag. Und nach wie vor lädt er Autorinnen aus dem heimatlichen Claudia-Gehrke-Verlag wie Yoko Tawada oder Dagmar Fedderke ein. Auch Peter Wawerzinek hat hier wieder gelesen ebenso wie unbekanntere Autoren aus dem Berliner Avantgarde-Umfeld. Lesung und Ausstellung, die oft thematisch zusammenhängen, sollen laut Fischer Abseitiges und an den Rändern Stehendes präsentieren. Die Vortragenden sollen nicht berühmt, sondern einen eigenen Kosmos und als Personen eine Authentizität in Zusammenhang mit ihren Texten haben. Beeindruckend war die Lesung von Ulrike Draesner aus ihrer Erzählung „Reisen unter den Augenlidern“, in der es um die Geschichte einer magersüchtigen Frau geht. Weniger gelungen dagegen die "Ausstellung zur Erratischen Architekturkritik: Verbotene Graffiti - Nazi/Porno" von dem selbsternannten Gründer des "Erratik Institut Berlin", Heinrich Dubel, der Geschlechtsteile, Hakenkreuze und Naziparolen, die an Häuserwände gesprüht waren, abfotografiert hatte und mit einer nichtssagenden aufwendig mit Diaprojektionen unterstützten Lesung in den Raum stellte. Auch wenn der Buchhändler immer wieder betont, daß er mit seinen Veranstaltungen eine klare Linie verfolge und keine qualitativen Kompromisse mache, verfährt er letzlich nach dem subjektiven Salonièr-Prinzip, die Künstler zu sich einzuladen, die er näher kennenlernen möchte.

Neu ist in seinem Hauptstadt-Salon, daß auch Wissenschaftler referieren, wie der Medientheoretiker Friedrich Kittler oder der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek, und daß professionelle Rezitatoren, wie schon in den alten Berliner Salons, Texte von Klassikern vortragen. Ein aufsehenerregendes Ereignis war die neuntägige Lesung des Schauspielers Peer Martiny, der seinen Wohnort in den Buchladen verlegt hatte und hinter dem Schaufenster der Galerie eine nach draußen übertragene Non-Stop-Lesung der gerade wiederaufgelegten "Essais" von Montaigne zelebrierte. Eine Frau kam immer erst nachts um zwei von der Arbeit und ließ sich noch auf einem der vor dem Fenster stehenden Stühle nieder. Ein Bauarbeiter, der sich zuerst abfällig im Vorbeigehen über die Aktion geäußert hatte, kehrte in den nächsten Tagen wieder und legte eine regelmäßige Zigarettenpause am Schaufenster ein.

Neues ehrgeiziges Projekt ist die Lesung der acht Bände umfassenden Gesamtausgabe von de Sades "Juliette und Justine", die sich über zwei Jahre erstrecken wird. Bekannte Künstler und „Juliette“-nahe Autoren und Autorinnen lesen der Reihe nach alle zwei Wochen immer dienstags aus dem pornografischen Werk, wobei von der Vorleserin bzw. dem Vorleser eine möglichst ungewöhnliche Gestaltung der Darbietung erwartet wird. Den Anfang machte Blixa Bargeld mit einer Handpuppe als Sprecherin, nach ihm las Katharina Thalbach.

Das Darstellende, das Schreibende und das Gastgebende, sagt Fischer im Lokal, seien die Dinge, die ihm am meisten Spaß bereiteten, und die er nur in der Verbindung von Buchladen, Galerie, Salon und Wohnzimmer verwirklichen könne. Als Rezitator tritt er dort auch selbst in Erscheinung. Zuletzt mit einem "wiener gruppe abend" gemeinsam mit Annika Krump, die hier als charmante Chanteuse brillierte. Zum Thema Theater gibt er im Moment bei Claudia Gehrke ein Buch heraus. Die meisten Autoren, die in der Anthologie veröffentlichen, sind seine Salongäste wie Bargeld, Schlingensief und die Sozialwissenschaftlerin und Philosophin Gerburg Treusch-Dieter. In seinem dritten Element als Gastgeber tritt er während der Veranstaltungen kaum in Erscheinung. Nach einer knappen Begrüßung überläßt er dem Autor oder der Autorin das Gelingen des Abends. Statt einer Diskussion danach, die er „immer eher quälend“ findet, möchte er, daß sich in Privatgesprächen der Salon entfaltet. Einmal hat er sich allerdings schon aufgeschwungen, mit einem silbernen Tablett herumzugehen und Schokoladen-Täfelchen von Merci-Vielfalt zu verteilen.

Entschließen sich die Gäste zu später Stunde den Ort für einen letzten Nachttrunk zu wechseln, ist der Buchhändler nur selten zum Mitkommen zu bewegen. Sein Laden scheint ihm der angenehmste und sicherste Ort zu sein. Schon die berühmte Salonière Henriette Solmar, die im 18. Jahrhundert einen vielbesuchten Salon führte, erklärte scherzhaft, man brauche in Berlin nur in seiner Stube zu bleiben, um alle Welt kennenzulernen.

Fischers Verdienst ist es, als Förderer von Literatur und Salon-Initiator dem alten Berufsbild des Buchhändlers als künstlerischer und intellektueller Profession zu neuem Leben zu verhelfen. Mit seinem Laden hat er einen kleinen Kontakthof im Herzen der Stadt zur Blüte gebracht. Schon im 18. Jahrhundert gab es in Berlin einen berühmten Vorgänger: den Verlagsbuchhändler Georg Reimer, der in seiner Buchhandlung Manuskripte verlegte und einen Salon führte, der mit Schleiermacher befreundet war und auch verschiedene Salons, wie den von Henriette Herz, besuchte.

Für Fischer ist das ausgediente Modell der Verlagsbuchhandlung heute wieder attraktiv geworden. Mit einer kleinen Broschüre unter dem Titel "serialbathroomdummyrun" hat er dafür schon einen Anfang getan. Sie ist in Zusammenarbeit mit Blixa Bargeld zu dessen Ausstellung von Hotel-Badezimmern bei „Juliettes“ entstanden, die der fahrende Musiker auf seinen verschiedenen Tourneen u.a. in Chicago, Kopenhagen, Budapest und Milano mit einer Wegwerfkamera fotografiert hat. Für die Zukunft liebäugelt Fischer mit einem "Juliettes Taschenkalender" mit Kalendarium, Ausstellungs-Fotos und einem kurzen Text von allen Autoren, die bei ihm gelesen haben, doch aus finanziellen Gründen kann er dieses Vorhaben im Moment nicht verwirklichen. Während sich die Salon-Geselligkeit vorn auf dem Canapé in alltäglichem Klatsch oder intellektuellen Diskursen ergeht, telefoniert Fischer hinten im Kämmerlein mit Gläubigern, wie den Banken oder auch mal mit dem Sozialamt. Seine langen Öffnungszeiten und die Veranstaltungen sind nicht nur dem Salon, sondern auch dem finanziellen Druck geschuldet. Im dritten Jahr der Existenzgründung kann er vom reinen Bücher-Verkauf noch immer nicht leben. Neuerdings wird für die Lesungen auch ein Eintritt erhoben. Daß die Buchhandlung dennoch eher ein Bücherzimmer ist als ein kommerzielles Geschäft, erkennt man auch an der speziellen Auswahl des Angebots. Es gibt keine Lebensratgeber, Reiseführer und Kochbücher, die den Umsatz steigern könnten. Statt dessen französische Philosophen, Antike, Gedichtbände, Kunst- und Fotobände, Psychoanalyse, Kulturwissenschaft und Gegenwarts-Literatur. De Sades programmatischer Schwestern-Roman hat einen Ehrenplatz unter der dezent beleuchteten Guillotine. Sie gehört in die Zeit Juliettes, doch möglicherweise symbolisiert sie auch die ständig drohende Finanzmisere des Buchhändlers und der Mehrzahl seiner Salongäste.

Für den Kunstkatalog "serialbathroomdummyrun" hat Hartmut Fischer ein Vorwort geschrieben, das in komprimierter Form für ein gutes Schlußwort taugt: "Nun bin ich wahrscheinlich derjenige, der am meisten Zeit mit diesen Räumlichkeiten verbracht hat. Von einer bestimmten Position hat man von der Buchhandlung vier verschiedene Einblicke in den Galerierraum: den direkten und drei gespiegelte. Der Tag übernimmt die Rolle des Vexierbades: Umrisse werden scharf und zusätzlich auf die gespiegelten Fotos aus der Galerie legen sich immer deutlicher die Buchregale auf jene, vermischen sich, bis das Entwicklungsbad im zunehmenden Tageslicht seine Wirkung zu verlieren beginnt; nach und nach taucht der Schriftzug über dem Eingang der Galerie auf, die Dichter warten wieder geduldig, alphabetisch geordnet in Buchdeckeln, da öffnet sich die Tür ..."

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