Ursula Link-Heer

Ursula Link-Heer
Pastiches und multiple Persönlichkeiten
als Kulturmodelle an zwei Jahrhundertwenden

Vortrag anlässlich der Tagung Moderne der Jahrhundertwende(n)
Heinrich-Heine-Universität Duesseldorf, November 1998

Ursula Link-Heer

Exposé

Im Jahr 1899 publizierte der Inhaber des Genfer Lehrstuhls für Psychologie physiologique et expérimentale, Théodore Flournoy, einen fantastischen Roman mit dem Titel Des Indes à la Planète Mars. Diesen aus mehreren Zyklen bestehenden Roman samt der 'automatischen Schriften' aus Indien und vom Mars hatte das Medium Hélène Smith produziert, die Flournoy als einen Fall von "Somnambulismus mit Glossolalie" (Untertitel des Buches) beschrieb. Für die Untersuchung seines "Falls" konsultierte Flournoy auch andere Gelehrte der Fakultät, darunter Ferdinand de Saussure, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, daß Hélène Smith ein bewundernswertes "Pastiche-Genie" sei.

Hundert Jahre später: Im "Spiegel" vom 26.10.1998 wird die "Multiple Persönlichkeit" als eine "Betrügerei" der Psycho-Wissenschaften entlarvt: "Die 16 Persönlichkeitsabspaltungen im Paradefall 'Sybil', auf den sich die Psycho-Zunft gern berief, waren die Erfindung einer Therapeutin und einer Autorin."

"Hélène Smith" bietet nur einen "Fall" im Korpus der Fälle von "Doppel-und Mehrfachpersönlichkeiten", die an der vergangenen Jahrhundertwende beschrieben wurden, so wie "Sybil" nur einen Fall des respektiven Korpus der Aktualhistorie darstellt. Ich möchte in meinem Vortrag anhand dieser Fallbeispiele die beiden Korpora zweier Jahrhundertwenden konfrontieren und auf ihre verschiedenen medialen Bedingungen hin befragen. Die Spezifik der literaturwissenschaftlichen Perspektive liegt in der Relationierung von multipler Persönlichkeit und Pastiche. Aus dieser Relationierung kann eine kulturmodellierende Sicht des Phänomens gewonnen werden, die auch die Rolle der Massenmedien zwischen Sensationismus (im April 1994 hatte "Der Spiegel" noch den Aufmacher, daß "rund 40.000 Deutsche unter Multipler Persönlichkeits-störung leiden") und Entlarvung als Betrügerei oder irrationalen Unfug beleuchtet.

Audio-Dokumentation des Vortrags