Stefan Thielke

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Texte 2009

Jaisalmer Radjasthan, 19.-20.02.2009

Bahnfahrt (Indian Railways)

Wenn die Sonne über der Wüste flirrt, Fußschweiß die stickige Luft in den Wagons für zahlreiche, westliche Nasen bis zum Magengrummeln reizt, liegen die Menschen auf ihren Bänken oder hocken still mit zufallenden Augen. Nicht ein Kartenspieler schleudert Buben und Damen auf eine Acktentasche, die sie auf ihren Knien halten, nicht eine lautstarke Diskussion ist zu hören. Selbst die ausladenden Gesten sind mit dem Herabfallen der Arme eingeschlafen, die blitzenden Augen erloschen. Leises Schnarchen, zuweilen der lang anhaltende Schrei unserer Zugsirene, während Dörfer lautlos vorbeigleiten, jedes Geräusch vom Rattern auf Schienen geschluckt wird.

Hereinwehende, trockene Luft vertreibt jegliche Feuchtigkeit von den Schleimhäuten,während feinster Sand die schweißgeränderten Poren verstopft, die Bänke bedeckt, sich in Haaren, Bärten, dem Gewebe bunter Saris und leuchtender Turbane festsetzt.

Es ist noch nicht Sommer. Die Männer mit den zerklüfteten Gesichtern, meist versteckt hinter dichtem Bartgestrüpp, aus dem majestätische Nasen hervorspringen, diese Männer tragen Westen, Pullover und Pullunder über ihren Hemden und Kurtas. Die Frauen sind noch immer in bunte, dick gewebte, warme Tücher gehuellt. Jedes Kindergesicht ist bis zum Mittag von Wollmützen halb verdeckt, und der hagere Alte trägt eine überdimensionale, leuchtend gelbe Babykappe mit Ohrenklappen und Bändchen an den Seiten.

Verspätet um Stunden rattert der Zug durch den Frühling, dessen Temperaturen unser Hochsommer kaum erreichen wird. Verspätet, weil die schnaufende Lock nicht mehr rennen wollte, der tonnenschwere Koloss, dessen feine Jahresringe kaum mehr zählbar sind, dessen Auspuffwolken, in den Himmel gerotzt, den vereinzelten Dampflocks arge Konkurrenz machen...

So schwitzt ein jeder vor sich hin, von den Füßen bis zum Hirn, das mit Träumen gefüllt ist. Mit Träumen, bunt wie die Hinduhochzeit, der Tempel, die Visitenkarte der Händlers, das Handydisplay. So bunt, dass Fußgeruch dem Paradieshauch gewichen ist, bis harte Bremsen alle zurückholen in diese Welt.
Und wenn es Abend wird, gleitet ein Mann durch die Gänge, die kaum erwachende Menge und fragt, ob man „Dinner“ wolle, das Bahnmenü, Reis und Dal (Linsen), gemischtes Gemüse, in Folie eingeschweißte Fladen. Und fast jeder schüttelt den Kopf.

Die Familien packen ihre Tüten und Taschen aus, holen Edelstahlbehälter, übereinandergestapelt in sechs, acht Stockwerken hervor, öffnen die Dosen, die Tücher mit Brot, bis Duft, unbeschreiblicher Duft den Wagon durchzieht, Wellen von Speichel durch den Mund wallen lässt. Mit kleinen Fladenstückchen in geschickten Fingern fahren sie durch die geöffneten Dosen, greifen geschickt die Stückchen, tunken die Saucen und lassen sie rasch in die Münder mit blitzend weissen Zähnen fahren, bis lautes Rülpsen nach ausgiebigem Schmatzen die Sättigung ankündigt.

Und als die kleinen Alu- und Kunstoffschüsselchen der Bahn vor mir stehen, ernte ich mitleidige Blicke. Hände strecken mir die Edelstahlbehälter entgegen. Ein Winken, zwei, das kleine Kind lächelt. Ein aufforderndes Winken, die duftenden Saucen, das aromatische, bunte Gemüse in scharfem Saft. All das überschwemmt den Reis von Indien Railways. Die Plastickschüsselchen bleiben unberührt. Mein Bauch füllt sich langsam, wird wärmer, bis Schweissperlen von der Stirn rinnen, nichts mehr hineinpasst. Ich lehne mich zurück, so warm, so satt, während stetig kühler werdender Wind durch die Ritzen pfeift.
Das Band wird sorgsam entknotet, der rot-gelb-grünbunte Deckel hebt sich von der Schachtel. Aufforderndes Kopfnicken, - wackeln, lächelnde Blicke. Ich nehme orangefarbene Brezelkringel, einen babyfaustgroßen, beigen Klumpen und einen etwas mehr braunen-. Beide wie ungeschliffener Bernstein leuchtend im kalten Neonlicht. Zuckersüß zergeht der Kringel auf meiner Zunge. Der eine Klumpen eher Kokos, der andere Krokant. Süß und fett und unbekannt. Hoffentlich habe ich kein Geschenk für die Eltern angeknabbert. Gut, sehr gut und wieder Speichelwellen auf der Zunge – süß, kokos, nusskrokant, bis später die Zahnbürste dawischen fährt, mit süß-minziger Meswakpaste alles hinwegwischt.

Doch als ich dann liege, wadenabwärts ragen die Beine in den Gang, die Pritsche hart, das Rattern der Räder auf den Gleisen unter mir, da sackt so ein kleiner, feiner Tropfen aus meinem Rachen, netzt meine Zunge und trägt mich in die traumlose Nacht.

Und als später unter mir das Kind weint, das lächelnde von vorhin, ist das nur kurz, nur für einen Moment, bis es still geborgen liegt, am Körper der Mutter, Herzschlag und Rattern, Rattern und Herzschlag. – Bewegung und Träume gehen Hand in Hand, wahrend die blaue Bahn unter den leuchtend sternenübersaeten Himmel durch die Wüste gleitet, nach Jaisalmer, der alten Handelsstadt, dem Herz der Thar. Dorthin, wo die Kamele der Wüste Wasser und Essen fanden, dorthin, wo das Träumen noch immer zum Leben gehört. Dorthin, wo Freunde warten, mit einem Herz so groß wie das Universum...

Stefan


Jaisalmer Radjasthan, 23.02.2009

Markt und Bazar

Ein lärmender, verstaubter Platz. Menschen wieseln durcheinander. Der fette Diesel rotzt Qualmwolken in Staub und Luft. Leuchtend bunt gekleidete Frauen, Männer in weißen, langen Hemden mit farbenprächtigen Turbanen auf dem Kopf - Kinder auf den Armen, an der Hand. Sie alle krabbeln in den blauweißen, verbeulten Bus, schieben und drängen. Stimmen wirbeln durcheinander. Barfuß, Füße in Badelatschen, Schuhen, Schlappen, Sandalen bewegen sich über den staubigen Blechboden mit faustgroßen Löchern im Inneren.

Halt, da führt ein Junge in langem, blauen Hemd und hauchdünner Hose der gleichen Farbe einen alten, gebeugt gehenden Mann zum Einstieg. Vorsichtig greifen Hände nach den knochigen, dürren Armen, umfassen sie völkommen, halten und ziehen ihn vorsichtig die ausgetretenen Stufen hinauf. Fast heben sie ihn, dessen wache, klare Augen unter buschigen Brauen hervorblitzen, die der rote, leuchtend rote Turban beschirmt. Sein gezwirbelter Schnurrbart wippt an den Enden auf und ab. Der Alte ist leicht, ausgetrocknet von der Wüstensonne,vom Leben da draußen in Ruhe und Bescheidenheit.

Der Motor schlägt an, als der Gang eingelegt wird. Das Vibrieren der Bleche weicht lautstarkem Scheppern, als der Fahrer aufs Gas tritt. Durch die Fenstergitter winken gedrängte Menschen, als der Bus spotzend anruckt und, in eine Staubwolke gehüllt, auf die nah gelegene Straße scheppert.

In der Seitenstraße, ein Feldweg kaum, stehen die Händler mit ihren Karren, voll beladen mit bunten Früchten, schreien den Vorbeigehenden etwas zu, während eine Kuh einen Rettich vom Karren stiebitzt, als der Händler mir mit herabgefallener Kinnlade nachstarrt. Recht so, recht so. Er zetert und rennt los, doch die Kuh hat den ersten Bissen getan. Auf der anderen Seite lachen die unrasierten Barbiere aus ihren winzigen Büdchen mit mir hinüber. Der Weg zum großen, staubigen Platz ist voller Menschen an diesem Morgen. Sie kommen vom Busbahnhof, aus weit entfernten Dörfern, sind oft Stunden gefahren oder steigen aus Jeeps, Autos, Tuctucs, von Fahrrädern, Motorrädern, allesamt staubig nach wenigen Metern, denn der Wind greift die feinen Körner von der Strasse, wirbelt sie ihnen entgegen.

Auf flachen Bänken sitzen die Männer, schauen unter Turbanen und Mützen auf die Ankommenden, schlürfen genüsslich Tee mit Milch und Unmengen Zucker, schlürfen lautstark aus kleinen, grünlich leuchtenden Gläsern, reden miteinander, bis der nächste Bus ankommt, die nächste Welle Menschen hineinrollt, in die goldene Stadt, deren stolzes Fort mit den 99 Bastionen majestätisch auf dem Felsen über der Stadt thront. Die Menschen fluten in die Gassen, lange weisse, graue, hellgrünblaue Kurtas wehen, Tücher zu Hosen gebunden, um dürre, ausgetrocknete Beine. Füße in spitzen Lederschuhen Radjasthans, die stolzen Schritte, die gerade aufgerichtete Männer den Felsen hinauf in die kühlen Gassen tragen. Bunt gekleidete Frauen hocken in Schmuck- und Stoffläden, feilschen lautstark, probieren Armreifen, bunt schimmernd aus Kunstoff und manchmal auch aus edelem Metall.

Die Gassen tragen mich, kaum ein Laden hier. Ruhe, düster und kühl. Zu beiden Seiten gesäumt mit Häusern, Erkern, Balkonen, deren reiche Steinmetzkunst fast an zieseliertes Silber erinnert, so fein in goldenem Stein. Ich gleite hindurch, bis wieder ein Bekannter auftaucht, aus vergangenen Jahren, ein Händler mich zum Tee einlädt, mir Geschichten erzählt wie einem Freund, dem Bruder. Denn Tourist ist man beim ersten Mal, beim zweiten Besuch Gast, beim dritten Freund, jedenfalls bei den nicht ganz so Reichen, Ängstlichen. Und Freund sagt nicht „Danke“, nicht „Entschuldigung“, Freund ist Freund, gibt und nimmt.

Stefan


Jaisalmer, 24.02.2009

Morgens bei den Manganyiar

Morgens, bevor die Sonne aufgeht, kriecht beißende Kühle in die goldene Stadt, schlängelt sich den Hügel hinauf durch unzählige Ritzen in die Lehmhütten, wandert über dicke Steppbetten, unter denen die Familien dicht aneinander geschmiegt schlafen und wird langsam von der Sonne gefressen, die über die Linie des Horizonts klettert. Ziegen beginnen zu meckern, Schafe zu blöken, Hunde zu bellen, Hühner zu gackern.

Die Goldene Stadt liegt noch im Schlaf, während die Bewohner des Artist-Dorfes am Hang gegenüber, mit Blick auf die Festung, Feuer aus Kuhdung und Stroh anfachen. Den ersten Chai kochen sie, hocken mit dampfenden, kleinen Gläsern oder Tassen um den Lehmherd, die Feuerstelle, stehen an den Eingängen ihrer mit Schilf und Astwerk gedeckten Hütten.

Der Morgen graut, als ein kleiner Junge in verstaubter europäischer Kleidung seinen Morgenurin plätschernd auf den Vorplatz entlässt. Kurz darauf kommt seine Schwester, kämmt ihr langes, frisch gewaschenes dunkles Haar aus, ölt es, bindet einen Zopf nach hinten, bevor sie hockend, mit einem Reisigbesen in der Hand den Vorplatz der Hütte kehrt.

Schlanke Kinder in leuchtenden Saris, T-Shirts und dunklen Hosen gehen in die staubigen Gassen, spielen Hüpfspiele wie Käsekästchen, mit Glasmurmeln oder Stöckchen. Die kleinen Geschwister mit ihren nackten Ärschen werden mitgeschleppt. Einige sammeln Kuhdung, helfen bei der häuslichen Arbeit und andere wiederum sind besonders gründlich gekämmt, gekleidet, teilweise sogar mit Krawatte für die Schule, die ruft, während erste Trommeln geschlagen werden, die Manganyiar ihrem Beruf nachgehen, der Musik, die sie seit Jahrhunderten spielen, der Musik, die nicht mehr so gefragt ist, seit Bollywood, Fernsehen und MP3 die Welt überschwemmt haben. Es ist die Musik, die in ihren Texten verrät, wo Brunnen gegraben, Hütten oder Zelte errichtet werden sollen. Die Texte verraten, wo es dieses und jenes Material gibt, sie zählen die Ahnenfolge auf und verbinden so die Generationen. Sie erzählen die Geschichten der Vorfahren, ihre Sagen, Mythen, Gebräuche und Alltagsweisheiten. Sie künden von Kämpfen und Kriegen, der Wüste Thar, dem Leben hier und lassen das unwirtliche Land lebendig werden.

Es ist die Musik, die mich in den Schlaf trägt, alle Wellen glättet, mich eintauchen lässt in Träume weit weg von Euopa und doch so nah.

Stefan