Rollin Beamish
„Palliative Measure“
Welche Funktion hat Kunst in der heutigen Kultur? Kann sozial-kritische Kunst etwas verändern? Oder funktioniert sie nur als Linderung? Die Kunst von Rollin Beamish befindet sich in einer problematischen Position, weil sie einen Spiegel des kulturellen Diskurses aufzeigen will. Die Problematik liegt darin, dass die Kritik des kulturellen Diskurses in der Tat wiederum nur ein Produkt dieses Diskurses selbst ist. Wie kann man diesem Kreis entkommen? Wie kann aus dem Linderungsmittel ein Änderungsmittel werden? Kann Kunst überhaupt solch einen Anspruch haben? In der Ausstellung „Palliative Measure“ bei Greusslich Contemporary finden wir Zeichnungen und kleine Installationen. Vorrangig handelt es sich um Porträt-Zeichnungen, für die Beamish frei im Internet zugängliche Vorlagen nutzt. Er zieht diese Vorlagen aus dem abstrakten, unlebendigen Web-Raum und erweckt diese hyperrealen Subjekte, welche nur wie Informationen, wie ein mediales Konstrukt existieren, zum Leben. Damit verleiht er ihnen mit seinen Zeichnungen einen neuen Körper. Es entwickelt sich hier eine hochgradige Spannung zwischen den abstrakten hyperrealen Subjekten aus den Massengräbern des medialen Raums und ihren neuen Verkörperungen in Beamishs Zeichnungen, und den realen Subjekten, die sie darstellen.
Wer sind diese Subjekte, die sich im Medien-Raum befinden? Sind sie nur ein künstliches Konstrukt? Haben sie reale oder hyperreale Existenz, werden sie unabhängig von ihrem realen Leben konstruiert? Wie entsteht oder entwickelt sich ihre Identität? Was für eine Rolle haben sie in sozialen und kulturellen Prozessen? Was ist eigentlich der Diskurs der westlichen globalen Kultur? Ist es ein Monstrum, das autark von sich selbst lebt? Beherrschen wir dieses Monstrum oder leben wir mit der Illusion, dass wir es unter Kontrolle haben. Ist diese Illusion der Kontrolle unsere „Palliative Measure“? Erleben wir diese Illusion natürlich oder nur aus Angst vor uns selbst, vor der Realität?
Schon im Konzept von Beamishs künstlerischem Ausdruck zeigt sich ein Spiegelbild der heutigen kulturellen Prozesse. Es wird noch mit der Form seiner Zeichnung potenziert. Die ist ebenso hyperrealistisch und in Details surrealistisch wie der Medien-Raum selbst und erweckt bei uns den Eindruck von etwas Fremdem und unklar Bekanntem gleichzeitig. Die Porträts sind meist auf weißem Hintergrund, sie hängen im leeren Raum, der ebenso wie der Medien-Raum schwierig zu definieren ist. Haben die Subjekte einen Hintergrund, einen Grund? Oder sind sie einfach aus dem Nichts gekommen?
Der Kontrast zwischen perfekt detaillierten, hyperrealen Zeichnungen und den groben undefinierten weißen Feldern, bringt eine spannende Dynamik. Die Porträts wirken meistens wie Fragmente, wobei nur die Köpfe eine Ganzheit bilden. Der Körper geht unharmonisch in weiße Fläche über und wir fühlen, dass da etwas fehlt, etwas unbeendet oder unbegonnen ist. Bei einigen Porträts, die auf den Kopf gestellt sind, wurde sogar auch der Kopf fragmentiert. Darstellung von Zerfall, Tod, Verlust? Wenn Subjekte tot sind, bleibt nur eine fragmentierte Erinnerung. Ihre Gesichter sind dabei schon nicht mehr in unserem Blickfeld. Wir müssen zuerst unseren Blick umdrehen, um ihnen ins Auge schauen zu können.
Eine noch wichtigere Rolle als die Form spielt bei Beamish der Inhalt. In der Bilderserie, die sich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt bezieht, finden wir eine Porträt-Zeichnung mit Islam Greagea, einem fünfjährigen Jungen, der 2011 bei einem israelischen Luftangriff in Gaza, getötet wurde. Über diesem Bild hängt eine Lichtspiegel-Installation mit dem Namen des Jungen. Das Spiegelbild ist ebenso wie sein Porträt auf den Kopf gestellt. Sein Tod demonstriert etwas und man muss wieder den eigenen Blick wenden, um seinen Namen lesen zu können. Auf einem anderen Bild aus dieser Serie sehen wir einen Stein, beschriftet mit den Worten: „Wait for it“. Worauf soll man warten? Was soll man erwarten? Das gleiche Schicksal wie Islam Greagea? Es klingt wie ein Hinweis, wie eine Warnung, die eine Angstatmosphäre ausrufen soll. Eine Angst, die wie ein raffiniertes Instrument der politischen Macht wahrgenommen werden kann.
Text hat bei Beamish eine ganz besondere Rolle. Es ist auch bei der nächsten Bilderserie zu erkennen, die drei Rollenporträts des Schauspielers Chiwetel Ejiofor aufzeigt. In der Mitte befindet sich ein längerer Text, der mit Wörtern „Where is she“ betitelt ist. Die Verbindung zwischen Wort und Bild eröffnet eine neue Ebene der Interpretation des Kunstwerks. Diese Verbindung entwickelt ein hermeneutisches Gespräch, wobei das Verständnis neue Horizonte bekommt. Darin steht etwas Existenzielles, etwas, was all unseren inneren Prozessen gemein ist. Das Arbeiten mit dem Verhältnis von Wort und Bild erinnert uns an die intimen Aussagen von Tracy Emin. Aber ich denke, dass die Kunst von Rollin Beamish diese Intimität des Wortes überschreitet und zu etwas Allgemeinem führt, zu etwas Kollektivem. Bei Beamish wird eine subjektive Aussage zu einer kollektiven und umgekehrt.
In den Filmen, auf die sich die Porträts von Chiwetel Ejiofor beziehen, befinden sich die Figuren mehr oder weniger in verzweifelten Situationen, in Konflikten innerhalb unterschiedlicher politischen Systeme, im Zentrum derer Gewalt und Machtspiele. Verkörpert she in dem Text eine Idee der alten und verlorenen Weltordnung, eines verlorenen Heims? Oder ist der Text die Beichte eines Künstlers, der in der Mitte eines Meeres den Kurs zu einem verlorenen Land sucht und dabei von Anweisungen beeinflusst wird, die ihm von dem „Grossen Anderen“ aufgezwungen werden?
„…suddenly the intensity of her desire which destroys her, terrifies me…”
Ist she ein Objekt unserer nicht versiegenden Sehnsucht? Sehnsucht nach dem verlorenen Land, nach Befreiung, nach der Verschmelzung mit her, nach Ganzheit, Sehnsucht nach etwas unanfassbarem? Oder nach etwas Anfassbarem, aber uns Versagtem?
„She is no longer the one who prepared meals, washed herself, or bought small articels.”
In Beamishs Werk bildet sich ein eigenartiges Bedeutungsnetz, das voll von Symbolen und intertextuellen Hinweisen ist. Bei den anderen Bildern und den Installationen in Greusslich Contemporary sehen wir, wie er die für ihn typischen Symbole, immer in einen neuen Kontext setzt. Wir finden hier wieder das Symbol „Gorgo Medusa“ oder eine Zeichnung von „Defecating duck“. Jedes Detail hat bei Beamish eine Bedeutung und ist Teil seiner komplexen Mythologie – einer Mythologie, in der die Helden entweder Träger oder Opfer des gesellschaftlichen Diskurses sind, einer Mythologie, die ein großartiger Spiegel heutiger Kulturprozesse ist, die eine Beunruhigung über die Entwicklung der westlichen Gesellschaft weckt, einer Mythologie, die uns ganz eigenartig zeigt, wie sich der berühmte Ausruf Rimbauds „ICH ist ein anderer!“ mit dem heutigen Ausruf: „WIR ist ein anderer!“ vertauscht.