Dokumentarfilm
SCHLITTEN SCHENKENEine dokumentarische Illusion
82 Min., Farbe, Stereo, 2001
Regie: Erwin Michelberger, Oleg Tcherny
in Koproduktion mit dem bayrischen Rundfunk, Redaktion Simone Stewens, gefördert vom BKM und dem Filmbüro NW in Zusammenarbeit mit der Filmwerkstatt Düsseldorf.
Erstausstrahlung: 26.4.2001 BR3 • Wiederholung: 8.11.2003 ARTE
Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung zeichnen rückblickend ein Porträt aus ihren persönlichen Eindrücken und Meinungen. Freundinnen aus der Liebesbeziehung, der Schulzeit, der Literaturszene, die Eltern, die befreundete Ärztin sprechen von ihren Erinnerungen, Gefühlen, Verstrickungen und demjenigen, was ihnen bis heute unverständlich geblieben ist.
Der Film 'Schlitten schenken' von Erwin Michelberger und Oleg Tcherny wurde mit dem ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschen Dokumentarfilm ausgezeichnet. Begründung der Jury: Der Film über die ermordete Schriftstellerin Renate Neumann zeige das Leben eines Menschen, ohne diesen anmaßend zu vereinnahmen.
FILMKRITIK
Film-Anmerkungen zu 'Schlitten schenken' von Erwin Michelberger
Brilliant, provokativ und lebenssehnsüchtig das war Renate Neumann
Selbst der bestialste Mord schützt eine Frau nicht davor, bei ihr nach Opfermotiven zu suchen. So leider auch in dem Film "Schlitten schenken" von Erwin Michelberger, das andere Porträt der Dichterin Renate Neumann.
Statt den brillianten Intellekt, die Wissensfülle, die Artikulationsklarheit, die bestechende Analysefähigkeit und die lebenssehnsüchtige Lust von Renate Neumann (Dr. phil.) in den Vordergrund zu stellen, wird sie stark auf eine psychisch kranke, ungewöhnlich, selbst todessuchende Dichterin reduziert, dargestellt aus Sicht ihrer "Freundinnen". Sogar ihr literarisches Werk wird in dem Film auf vereinzelt zitierte Textpassagen verringert, die keinerlei Gesamteindruck entstehen lassen.
Renate war zu Lebzeiten eine Querdenkerin, eine wache Provokateurin, intelligent und ausdrucksstark, die nicht nur an vielen Friedensaktivitäten teilnahm, dem Rechtsextremismus mutig entgegentrat, sondern gerade das alltägliche Mit- und Gegeneinander der Menschen unter die Lupe nahm.
Sie fragte bei Ausländerfeindlichkeit, Krieg, Mord und Erniedrigung nach den gesellschaftlichen Hintergründen. Dafür wollte sie leben, agieren und schreiben, um Fragen zu stellen, vielleicht auch zu unbequeme, und ihre Lebenssehnsucht war keine Todessehnsucht.
Usch Neumann
BRIEF an RENATE
Liebe Renate,
als ich erfahre, dass fast acht Jahre nach Deinem Tod ein Film über Dich erscheint, erfüllt mich das mit Freude. (...)
Natürlich ist die große Frage, was eine Filmwürdigung leisten kann, will, sollte: biografisches Material ist kaum vorhanden: es gibt Deine literarische Hinterlassenschaft, die mit Bildern hinterlegt ewrden muss, und es gibt Deine Freunde und ihre erinnerung an Dich. Das Konzept des Filmemachers, Leute, die Dich kannten, zu interviewen und Deine Texte mit Bildern und Texten aus Israel und Palästina zu begleiten, hätte Dir vermutlich gefallen - aber auch das Ergebnis?
Heraus kommt ein Film, der so schön allgemein menschelt, das Klischeebild von einer Literatin zeichnet in ihrer Zerrissenheit zwischen Leben und Tod, im Bewusstsein der existentiellen Bedrohung des menschlichen Lebens an sich und überhaupt. Damit der film seine "Geschlossenheit" erhält, bewegt sich Dein leben hier fast konsequent auf Deine ermordung zu, Deine angebliche Todessehnsucht erfüllend. Deine vermeintliche Selbstmordgedanken sozusagen überflüssig machend.
Deine vielen Texte, die dieser Deutung widersprechen, fehlen. Deine vielen Freunde, die Dein politisches Bewusstsein und Engagement, Deinen Sinn für Gerechtigkeit und dein menschliches Mitfühlen schätzten, fehlen im film oder fielen der Schere zum Opfer oder wurden gar nicht befragt.
Mit ihnen hätte der film eine andere Aussage bekommen: ein Leiden and er Welt, das krank macht, wenn man zerstörerische Strukturen so klar erkennt wie Du, ohne sie ändern zu können, wenn man bei aller Erkenntnis Machtlosigkeit erleben muss. Aber das wäre ja ein kritischer, ein politischer Film geworden - und der scheint momentan nicht in den Kulturbereich zu passen, wäre womöglich nicht förderungswürdig.
Und noch was fehlt mir: Deine Lebendigkeit, Deine Intensität, Deine Lebenslust. Kurz: Ein Film über dich sollte Widersprüche aufzeigen und aushalten können; er müsste den Mut zu Brüchen und zur Unfertigkeit haben, um Dir gerecht zu werden. Ich bin eigentlich froh, dass du diesen Film nicht sehen konntest.
Doris Erlach in: Wir Frauen 1/2002