Christian G. Pätzold @ CultD

Inhalt Vorwort Teil I.1-2 Literatur

Christian G. Pätzold
Von der menschlichen Arbeit

Dissertation am FB Wirtschaftswissenschaft der FU Berlin, 1988


Teil I
Über die Motive des menschlichen Verhaltens

Es ist üblich, einen Begriff zu definieren, indem erstens der nächst umfassendere Begriff, die nächst höhere Kategorie festgestellt wird, und indem zweitens einige Eigenschaften, die ihn näher charakterisieren, genannt werden. Während die zweite Anforderung eine ausführlichere Behandlung erfordert und daher an späterer Stelle erfüllt werden wird, lässt sich der ersten sofort nachkommen: Arbeit gehört zur Gruppe der menschlichen Tätigkeiten, wie auch Spiel, die kriegerische Tätigkeit oder Fortpflanzung; sie ist ein aktives Verhalten, das zusammen mit den Zuständen der Passivität das menschliche Verhalten als ganzes bildet. Und zwar ist Arbeit Tätigkeit mit dem besonderen Zweck, das bestehende Leben zu erhalten. Über die verschiedenen Probleme, die mit Arbeit verbunden sein können, wird sich daher nur etwas aussagen lassen, wenn über die Grundlagen des menschlichen Verhaltens das Nötigste zusammengefasst ist. Die verschiedenen Seiten des Problems treffen sich in dem subjektiven Phänomen der Arbeitszufriedenheit, in der Summe der Emotionen, die sich für den Einzelnen aus der Arbeit ergeben und die gleichzeitig sein Arbeitsverhalten bestimmen. Am Beginn müssen daher die Emotionen und ihr Zusammenhang mit dem menschlichen Verhalten stehen. Aus diesen Überlegungen werden sich die Quellen der menschlichen Verhaltensweisen und damit auch die Ebenen des Arbeitsproblems ergeben.




Teil I.1
Emotionen und Verhalten

Mit dem Wort Emotion ist jene Stimmung der Psyche gemeint, die auch Gefühl oder Affekt genannt wird. Emotionen sind Auslöser des Verhaltens, indem sie, wie das Wort sagt, ein Lebewesen erschüttern und aus seiner momentanen Lage herausbewegen. Über die menschliche Seele, das Funktionieren unseres Gehirns und Nervensystems ist so wenig bekannt, dass sich nicht genau sagen lässt, was körperlich in uns vorgeht, wenn wir Emotionen haben. Es ist noch ziemlich unklar, was Emotionen materiell sind und wie sie gespeichert werden; es muss sich, allgemein gesprochen, um nervliche und hormonale Prozesse handeln. Da aber jedem die Existenz und der Charakter von Emotionen aus Erfahrung bekannt sind, ist es für eine Argumentation über ihre Bedeutung kein großer Nachteil, wenn sich die mit ihnen verbundenen körperlichen und seelischen Prozesse nicht mit naturwissenschaftlicher Exaktheit beschreiben lassen.

Sämtliche Emotionen lassen sich zwei Gruppen zuordnen, nämlich den Gefühlen der Freude oder Lust einerseits und denen von Schmerz oder Leid andererseits. Auf eines dieser grundlegenden Gefühle lassen sich alle Emotionen letztlich zurückführen. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass die eine Klasse von Gefühlen gesucht während die andere gemieden wird. Da das Dasein seinem Wesen nach Streben nach Lust ist, wirkt das Angenehme anziehend und das Unangenehme oder Schmerzhafte abstoßend. Das menschliche Verhalten, wie das aller anderen Lebewesen, ist Reaktion auf die jeweiligen Gefühle von Lust und Schmerz. Im Streben nach lustvollen Gefühlen und im Vermeiden von Schmerzen liegt so die Quelle der Handlungen und Unterlassungen, oder allgemein des menschlichen Verhaltens, das sich als Bewegung oder Ruhe unseres Körpers gegenüber der Außenwelt beschreiben lässt. Jemand begeht oder unterlässt eine Handlung, wenn dieses Verhalten zur Erhöhung seines Glücks beizutragen scheint, entweder positiv, indem seine Freude vermehrt wird, oder negativ, indem es ihm Schmerzen, sowohl körperliche als auch Furcht und Sorge der Seele, erspart. Je nachdem die entsprechenden Emotionen angenehm und anziehend oder unangenehm und abstoßend sind, entsteht ein Verhalten des Sichannäherns oder Wegstrebens. Die dabei wirksamen Affekte setzen sich aus der Wahrnehmung des Gegenwärtigen, der Erinnerung des Vergangenen und der Erwartung des Zukünftigen zusammen.

Neben der Gefühlsqualität, die zwischen Schmerz und Lust unterscheidet, haben die Stimmungen der Psyche eine zweite Dimension in ihrer Intensität, der jeweiligen Stärke der Gefühle. Die Gefühlsintensität lässt sich mit Wörtern wie gering, leicht, stark, heftig, übermäßig beschreiben. Eine dritte Dimension bildet der Gefühlswert, von dem es so viele Arten gibt, wie es das Spektrum der Gefühle zulässt. Erleichterung und Kummer, Genuss und Beschwerde, Frohsein und Trauer, Hoffnung und Angst, Entzücken und Entsetzen, Bewunderung und Empörung, Vergnügen und Ärger, Heiterkeit und Schwermut sind einige der zahllosen Gefühle, die sich jeweils in ihrem Wert voneinander unterscheiden. Für negative Gefühle scheint die Sprache mehr Wörter zu haben als für positive, vielleicht weil Schicksalsschläge stärker beeindrucken, weil das Leben intensiver wahrgenommen wird, wenn man Schmerzen hat. Die verschiedenen Gefühlswerte entsprechen den jeweils anderen, oft nur leicht variierenden Bedeutungen der Wörter. Zum Beispiel die Wörter für die Gefühle gegenüber Gefahr, die die deutsche Sprache zur Verfügung stellt: Angst bezeichnet lediglich die diffuse Erwartung einer Unlustempfindung, während Furcht die konkretisierte Erwartung der Gefahr wiedergibt; sie ist Furcht vor etwas. Schrecken dagegen entspricht einer plötzlichen Unlustempfindung, der die Erwartungshaltung der Angst und Furcht fehlt. Aber im ganzen betrachtet scheint die Sprache ein relativ armes INstrument zu sein, um die Vielzahl der möglichen Gefühlswerte zu symbolisieren. Sie lassen sich auch mit anderen Mitteln, wie der Musik oder der Kunst im allgemeinen, ausdrücken.

Der normale psychische Zustand ist sicher relativ unbewegt. Weder lustvolle noch schmerzhafte Gefühle stehen im Vordergrund. Emotionen treten vor allem auf, wenn sich die Realität als ungünstiger oder erfreulicher als erwartet erweist. Das Moment der Überraschung spielt oft eine Rolle. Die Existenz der Emotionen lässt sich aus dem Vorteil erklären, den sie für die Sicherung des Lebens haben: Sie dienen als Bewertungsmaßstab für die Ergebnisse des Verhaltens und damit als Wegweiser des Verhaltens aufgrund der gewonnenen Erfahrungen. Ihre Existenz ist der Person teils bewusst und sie können dann in die Kalkulation des Verhaltens einbezogen werden. Oft sind sie aber auch unbewusst.

Der Wirkung der schmerzhaften und lustvollen Gefühle scheinen alle Lebewesen ausgesetzt zu sein. Sogar von Pflanzen ist das behauptet worden. Jedenfalls ist bei ihnen ein elementarer Drang zu beobachten, der sie zum Licht oder von ihm weg zu bewegen scheint. Darüber hinaus reagieren sie auf Einwirkungen der Schwerkraft, auf Temperatur, auf chemische Reize und Berührung. Wahrnehmungen dieser Art lösen offenbar, ähnlich wie die Gefühle, bei ihnen Reaktionen aus, die als Bewegungen der Annäherung oder des Wegstrebens verstanden werden müssen. Bei den Tieren ist das Vorhandensein von Emotionen offensichtlich, da wir bei vielen Arten die entsprechenden Äußerungen, Laute, Gesten und Mimik, ohne weiteres unterscheiden können. Die Tiere können sich dadurch ihre Gefühlslage gegenseitig mitteilen. Da ihnen aber Bewusstsein und Sprache fehlen, können sie allerdings, im UNterschied zum Menschen, nicht über ihre Gefühle argumentieren und auch nicht über die Berechtigung und den Nutzen ihres Verhaltens streiten. Aus der Verhaltensforschung ist bekannt, dass Tiere in bestimmtem Umfang fähig sind zu lernen, das heißt dass sie ihr Verhalten relativ dauerhaft an neue Umweltverhältnisse anpassen, und dass sie daher eine Fähigkeit zeigen, die man intelligente Reaktion nennen könnte. Sie können sich erinnern und besitzen daher eine Art Gedächtnis. Die menschliche Fähigkeit zur Erinnerung vergangener und zur Vorstellung zukünftiger Ereignisse scheint aber viel größer zu sein, so dass man annehmen muss, dass beim Menschen eine größere Bereitschaft zur Entwicklung von Emotionen angelegt ist. Die Lebewesen unterscheiden sich also nicht in der Existenz von Gefühlen voneinander, sondern vielmehr in ihrer Emotionalität und vor allem in ihrem unterschiedlichen Reagieren entsprechend den Voraussetzungen ihrer biologischen Evolution und, beim Menschen, der kulturellen Entwicklung.

Die körperliche Quelle der Emotionen sind die Sinneswahrnehmungen. Emotionen können ihre Ursache innerhalb wie außerhalb des Körpers von Lebewesen haben. In beiden Fällen lassen sie sich auf Eindrücke oder Reize zurückführen, die von den nach außen oder nach innen gerichteten Sinnen aufgenommen und über die Nerven oder andere Systeme zum Gehirn und zu anderen Teilen des Körpers gelangen. In stark gefühllosen Zuständen, wie im Schlaf oder unter Narkose, sind die Sinne weitgehend ausgeschaltet. Die Sinne der verschiedenen Lebewesen haben ihre jeweils artspezifische Bandbreite der Empfindlichkeit. Aufgrund ihres Bewusstseins können die Menschen diese Beschränkung im Fall der äußeren Sinne durch außerorganische Hilfsmittel in großem Umfang überwinden und damit die SChranken der natürlichen Ausstattung sprengen. Dieses Überwinden der naturgegebenen Beschränkung ist eine der wichtigsten Folgen der kulturellen Arbeit.

Als Apparat, der bei den Gefühlen nach Schmerz und Freude unterscheidet, lässt sich ein Teil der Psyche annehmen, den man Ich-Instanz, Persönlichkeit, Selbstbewusstsein oder Eigenliebe genannt hat. Die Lebewesen haben einen ererbten Mechanismus, der sie für sich selbst sorgen lässt, indem er ihr Verhalten nach den Gefühlen ausrichtet. Dieses Ich verarbeitet die innerpsychischen und innerkörperlichen Impulse sowie die von außerhalb kommenden Eindrücke und bewirkt das entsprechende Verhalten der Individuen. Aufgrund der Lust- und Schmerzempfindungen der Sinne sind Begehren und Meiden, Erstreben und Fliehen die möglichen Reaktionen des Ich. Die biologische Grundlage des Ich ist vielleicht ein Selbsterhaltungstrieb oder Daseinsdrang, aus dem sich im Lauf der individuellen Entwicklung, in einem Lern- und Reifungsprozess, die Persönlichkeit herausbildet. Was das Ich physiologisch betrachtet genau ist und wie es funktioniert, weiß niemand. Es ist nur eine Konstruktion, die dazu dient, die psychischen Vorgänge gedanklich und sprachlich in den Griff zu bekommen.

Die Annahme einer solchen Ich-Instanz bedeutet aber nicht, dass man die Menschen für rein egoistisch und selbstsüchtig halten müsste. Für wie egoistisch man die Menschen auch immer einschätzen mag, es bleiben doch Reaktionen, die sich nicht aus den zahlreichen Spielarten der Selbstliebe erklären lassen. Oft ist zwar ein scheinbar altruistisches Verhalten nur eine Form von verkapptem Egoismus, von verkleidetem Eigennutz, um leichter ans Ziel zu gelangen. Die Liebe von La Rochefoucauld galt diesem Gedanken: "Der Eigennutz spricht jede Sprache und spielt jede Rolle, selbst die der Uneigennützigkeit" (Maximen und Reflexionen 39). Aber das menschliche Verhalten an sich, wenn man die Begrenzung wegdenken könnte, die die Moral auf den Egoismus ausübt, ließe sich wahrscheinlich nicht allein aus egoistischen Motiven erklären. Denn bei vielen in Gesellschaft oder in Gruppen vereinigten Lebewesen lässt sich ein Verhalten beobachten, bei dem Individuen ihr Leben aufs Spiel setzen, um andere Mitglieder der Gruppe zu schützen. Dieses rein altruistische Verhalten ist offenbar von der Natur ausgelesen worden, weil schon allein die Existenz der Gruppe und ihre Solidarität im Fall der Gefahr einen Überlebenswert für die Art hat. Die Evolutionstheorie hat daher weder Schwierigkeiten, den Altruismus als solchen zu begreifen, noch den Egoismus. Schwierig zu verstehen ist allein die Koexistenz beider in ein und demselben Individuum. Jedenfalls zeigen sich im menschlichen Verhalten neben dem Motiv des Eigennutzes auch andere, vielleicht ebenso naturgegebene Motive, das der Liebe, das des Mitleids, die sich nicht bequem auf den Egoismus, den individuellen Nutzen zurückführen lassen.

Die Unterscheidung, die das Ich zwischen den Empfindungen des Schmerzes und der Freude trifft, und damit der Inhalt des Glücks oder Unglücks, variiert von Individuum zu Individuum - und bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten je nach den Bedürfnissen -, so dass sie rein subjektiv ist. Dennoch werden die Gefühle, die sich gewöhnlich in bestimmten Situationen einstellen, als normale Reaktionen angesehen. Das heißt aber, dass sie bei manchen Individuen nicht entstehen. Die Ursache des Gefühls des Schmerzes bei einem Menschen kann für einen anderen Freude bedeuten. Man kann das Unbehagen genießen oder Freude am Schmerz haben, wie bei der Melancholie. Normalerweise wird man unter Schwermut leiden. Es ist aber auch denkbar, dass diese pathologische Form von Trauer eines narzisstischen Genuss an der Selbstdestruktion enthält. Derselbe, gegen die eigene Person gerichtete, lustvolle Zerstörungsprozess wird Masochismus genannt, wenn er auf sexuellem Gebiet auftritt. Beim Sadismus dagegen entsteht der Genuss aus der Zerstörung des Objekts im sexuellen Verhalten. Er stellt aber kein so großes Problem der Erklärung wie der Masochismus, bei dem die Lust am eigenen schmerzvollen Empfinden das wesentliche ist, während es beim Sadismus um den Schmerz des anderen geht. Beide sind Arten lustvoller, libidinisierter Zerstörung. Sie können im einzelnen Fall Genuss bereiten, obwohl die mit ihnen verbundenen Praktiken in der Regel, allerdings wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen, Schmerzen verursachen würden. Ein ähnlicher Fall ist die Askese, die Freude an Entbehrungen. Meist steht hinter dieser Neigung zum Verzicht aber die Erwartung einer größeren Freude, wie in der religiösen Askese, bei der die Leiden und Entbehrungen dieses Lebens als nur gering angesehen werden im Verhältnis zu den ewigen Freuden der jenseitigen Welt, mit denen sie schließlich belohnt werden würden. Hinter dieser Neigung zum Schmerz steht ein stärkerer Antrieb, der Lust verspricht. Die Menschen suchen also nicht den Schmerz an sich, aber sie können einen bestimmten Schmerz anstreben, der ihre Lust an sich erhöht.

Das Ich strebt danach, die Freude des Individuums zu vergrößern oder den Schmerz zu verringern. Wenn man Schmerz und Freude als komplementäre Größen ansieht, das Leid als negative Freude und die Lust als negativen Schmerz, dann heißt Maximierung von Freude dasselbe wie Minimierung von Schmerz. Die Strategien, die zu diesen beiden Zwecken verfolgt werden, werden sich aber voneinander unterscheiden. Der Grundsatz, nach dem die Menschen die Lust an sich anstreben, wird Lustprinzip oder hedonistisches Prinzip genannt. Danach verhalten sich die Menschen so, dass die Freude für sie überwiegt, wobei offengelassen ist, worin konkret die FReude für sie besteht. Denn die Bewertung der Empfindungen ist wie gesagt eine rein subjektive Angelegenheit. Die Annahme des Lustprinzips beinhaltet lediglich die Aussage, dass die Menschen die Lust an sich anzustreben scheinen.

In der Vergangenheit war man sich zwar darin einig, dass das Ziel des Lebens oder das Gut, wonach die Menschen streben, das Glück sei, und diese Lehre wurde, nach dem sokratischen Begriff eudaimonia, der den Zustand der Glückseligkeit bezeichnete, Eudämonismus genannt. Aber die Meinungen gingen in der Frage auseinander, wie man sich verhalten solle, um dieses Glück zu erreichen, und worin dieses Glück konkret bestehe. So entstanden verschiedene Ethiken, verschiedene Empfehlungen der Lebensführung. Der hedonistische Eudämonismussah im Streben nach Lust den Weg, das Glück zu erlangen. Für die kontemplative Ethik lag das höchste Glück in der Betrachtung der Ideen, in der reinen Erkenntnis oder in der Anschauung Gottes, für die stoische Ethik in der Leidenschaftslosigkeit und für die aretologische Ethik in einem tugendhaften Leben. Alle diese Lehren lassen sich aber mit dem hedonistischen Grundsatz vereinbaren, nach dem die Menschen nach Vergrößerung ihrer Freude streben, denn dieser Satz lässt offen, worin die Freude besteht. Die Freude kann in der Theorie, der Leidenschaftslosigkeit, der Tugend, in Reichtum, Macht oder Ansehen, in der Schönheit, in körperlichen Vergnügungen und so weiter gefunden werden. Immer geht es um die Frage, ob eine Empfindung angenehm oder unangenehm ist. Das Lustprinzip enthält die Aussage, dass die Menschen ihr Glück in verschiedenen Dingen und auf verschiedenen Wegen suchen. Man würde vergeblich fragen, in welcher Freude das höchste Gut, das summum bonum liege, denn dabei handelt es sich um eine Geschmacksfrage. Das größte Glück besteht im Besitz der Dinge, die die größte Lust bereiten. Diese Dinge sind aber für verschiedene Menschen jeweils andere.

Um das Ziel der größtmöglichen Freude zu erreichen, ist es für das Individuum notwendig, die Konsequenzen der möglichen Alternativen seines Verhaltens, Nutzen und Risiko, gegeneinander abzuwägen. Jeder ist gezwungen, für sich zu schätzen, welche der Alternativen ihm am vorteilhaftesten erscheint, mit welchem Verhalten die Balance des Glücks wahrscheinlich ins Positive ausschlägt. Aufgrund seiner Begabung mit Bewusstsein ist der Mensch gezwungen, sich dieser Wahl zu stellen und Setzungen vorzunehmen. In dieser Wahl liegt gleichzeitig die Freiheit, sich für die eine oder andere Art des Verhaltens zu entscheiden. Die jeweiligen Ergebnisse der Bilanzierungen lassen sich nicht ohne weiteres voraussagen, da die Vorlieben immer persönlicher Art sind. Der Einzelne ist immer mit Unsicherheit konfrontiert, da er nicht mit völliger Sicherheit weiß, wie andere auf sein Verhalten reagieren werden. Es spricht nur eine größere Wahrscheinlichkeit für die Annahme eines gewohnheitsmäßigen Verhaltens, wodurch die Prognose aber nichts von ihrer wesentlichen Unsicherheit verliert. Ist schon die Vorhersage der unmittelbaren Reaktionen der anderen sehr schwierig, so ist es ganz unmöglich, sämtliche Konsequenzen eines Verhaltens vorherzusehen. Denn Handlungen und Unterlassungen können Kettenreaktionen auslösen, die ins Unendliche gehen und irgendwann unüberschaubar werden müssen. Aus einem logischen Grund ist es daher unmöglich, alle Konsequenzen eines Verhaltens abzuschätzen. Trotzdem würde jeder zurecht die These für widersinnig halten, dass man nicht mit Konsequenzen rechnen solle. Die Erfahrung zeigt, dass Abwägungen das Verhalten leiten. Die Möglichkeit und der Sinn dieser Abschätzung ergeben sich aus der Tatsache, dass im alltäglichen Leben die Konsequenzen mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersehbar sind. Besonders wird berücksichtigt, ob ein gegenwärtiger Vorteil durch seine Folgen in der Zukunft aufgehoben werden oder ins Gegenteil umschlagen könnte. Denn das schlichte Streben nach Lust kann später viel größere Nachteile mit sich bringen, sei es im Verhalten anderen Menschen gegenüber, oder gegenüber dem eigenen Körper, indem augenblicklichen Genüssen zuliebe die Gesundheit ruiniert wird, oder gegenüber der äußeren Natur. In diesen Fällen wäre es letztlich schädlich für das Individuum, den sofortigen Genuss einer anderen Strategie vorzuziehen.

Folglich wird das Individuum sein Verhalten so einrichten, dass sich die positiven, lustvollen Ergebnisse seines Erachtens nach auf etwas Größeres belaufen als die negativen, oder dass die negativen Ergebnisse weniger heftig ausfallen, als es bei einem anderen Verhalten der Fall gewesen wäre. Da die menschliche Existenz eher zahlreichen Möglichkeiten des Leidens denn der Freude ausgesetzt ist, geht es meist um das zweite Problem. Ein Nachteil lässt sich nie vermeiden, ohne sich einem andern auszusetzen. Das Problem besteht also darin, das geringere Übel herauszufinden. Die Abwägung der Konsequenzen des Verhaltens ist eine Fähigkeit der Person, die sich in der individuellen Entwicklung, wie in der der Menschheit als ganze, erst mit der Zeit herausbildet. Sie kann nie perfekt sein, da immer Täuschung und Unsicherheit im Spiel sind, wenn es darum geht herauszufinden, welche Nachteile hinter Verlockungen stehen könnten oder welche Früchte gegenwärtige Schwierigkeiten später nach sich gezogen hätten. Diese kritische Abwägung, die aus Erfahrung und Bildung erwächst und sich bemüht, den Maßstab der Objektivität an die Wirklichkeit anzulegen, wird Klugheit oder Vernunft genannt. Vernunft ist also die Fähigkeit der Person, mit den Folgen des Verhaltens zu rechnen. Sie ist eine Funktion des Ich, die kurzfristige, geringere gegenüber längerfristigen, größeren Vorteilen, oder größere gegenüber geringeren Nachteilen unterdrückt. Indem sie dem Individuum Vorschriften macht und sein Verhalten diszipliniert, wird sie zur gesetzgebenden Instanz des individuellen Verhaltens. In der alten Definition des Menschen als eines animal rationale wurde die Vernunft zu seinem besonderen Kennzeichen. Sie befähigt ihn, sich von der Macht seiner Triebe und Gewohnheiten zu lösen und sich gegen sie zu verhalten. Der Verhaltensablauf anderer Lebewesen scheint demgegenüber einen eher instinkthaften, mechanischen, getriebenen Charakter zu haben. Vernunft ist also gleichzeitig die gegenüber den Trieben und Gewohnheiten repressive Tätigkeit der Person. Sie kann die Energien der unmittelbaren Impulse aufhalten und umleiten, wenn ihr Ausleben Folgen mit sich brächte, die die hedonistische Balance zur Schmerzseite ausschlagen lassen würde. Sie ist damit das kalkulierende Bewusstsein gegenüber der eigenen inneren Natur, wie das Wissen gegenüber der äußeren Natur.

Die Zustände der Abwägung einerseits und der Spontaneität andrerseits wurden von Sigmund Freud durch die Begriffe Realitätsprinzip und Lustprinzip charakterisiert. Beim Verhalten nach dem Lustprinzip in dieser Bedeutung erfolgt die Befriedigung sofort, während dem Realitätsprinzip ein die Befriedigung aufschiebendes Verhalten entspricht. Es lässt sich annehmen, dass die Menschen, nachdem sie mit dem Verhalten nach dem Lustprinzip schlechte Erfahrungen gemacht hatten, ihr Verhalten mit der Zeit nach dem Realitätsprinzip ausrichteten, wodurch die Befriedigung der Bedürfnisse entweder aufgehoben, auf später verschoben oder abgeändert wurde, um zukünftiges größeres Leid zu vermeiden. Das Lustprinzip modifizierte sich zum Realitätsprinzip, indem das Ziel der Lustgewinnung zwar nicht aufgegeben aber doch zur Leidvermeidung verringert wurde. Damit änderten sich die Strategien des Verhaltens. In dieser vernunftmäßigen Abänderung des Verhaltens besteht die Sublimierungsleistung der Kultur, die Umleitung der TRiebenergie von der direkten Befriedigung weg auf die ernsteren Tätigkeiten der Arbeit und der Herstellung von Dingen, die das Leben dauerhafter sichern. Im wilden Zustand wie in der Kindheit neigen die Menschen dazu, ihren Bedürfnissen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, unmittelbar und sofort zu folgen. Der Vorteil des Verhaltens nach dem Realitätsprinzip liegt in der größeren Sicherheit. Sie ist aber erkauft durch das Unwohlsein, das auftreten muss, wenn die unmittelbaren Impulse aufgrund der Ansprüche, die das zivilisierte Leben stellt, verschoben oder unterdrückt werden müssen.

Stets wird die individuelle Abwägung des Verhaltens durch eine gesellschaftliche berührt, die sie bereits als festes Datum vorfindet. Es kommt zur alten Antithese von individuellem Glücksanspruch und gesellschaftlicher Vernunft, ein Gegensatz, der allerdings schon im menschlichen Wesen selbst angelegt ist, indem in ihm Trieb und Vernunft aufeinandertreffen. Die gesellschaftliche Tradition entscheidet, welche Strategien den Individuen erlaubt sein sollen und unterdrückt so ihr autonomes Luststreben ein gutes Stück weit. Diese gesellschaftlichen Abwägungen werden zu Systemen von Geboten und Verboten, deren Befolgung vom Einzelnen bei Strafandrohung erwartet wird und die er daher in sein individuelles Kalkül einbeziehen muss. Ob es nun Tabus, religiöse Gebote, gesellschaftliche Spielregeln oder staatliche Gesetze sind, immer droht die Gesellschaft mit Strafen, magischer oder realer Art, um die Respektierung dieser Normen, die vor dem Einzelnen bereits da sind, zu erzwingen.

Die Gründe für die Existenz einer gesellschaftlichen Abwägung sind vielfältig. Allgemein lässt sich sagen, dass die Lust an sich erstrebenswert und gut ist, dass aber das Streben nach einer bestimmten Lust im Einzelfall pervers und böse sein kann, indem es anderen Schmerz bereitet. Da die Menschen von Natur in Gesellschaft leben, müssen die Ansprüche der Einzelnen miteinander harmonisiert werden, was sich nur über die Einschränkung des individuellen Verhaltens, auf eine freiwillige oder erzwungene Art, erreichen lässt. Ein Zweck der Vorschriften und Verhaltensregeln liegt demnach darin, den Einzelnen vor den negativen Wirkungen des Verhaltens anderer zu schützen. Aber selbst wenn alle Individuen ihre Lustmaximierung verfolgen könnten und den anderen nicht inmittelbar schaden würden, wäre es denbar, dass eine Situation entsteht, in der sie als Kollektiv bedroht wären. Es handelt sich dabei um das Problem der negativen externen Effekte. Wenn beispielsweise die natürlichen Grundlagen exzessiv ausgebeutet werden, können die Lebenschancen zukünftiger Generationen verringert werden. Besonderes und allgemeines Interesse, individuelles Glück und gesellschaftliche Vernunft stimmen in der Regel nicht überein, weswegen das Luststreben der Individuen gebremst und kanalisiert werden muss. Die Gesellschaft hat zur Sicherung ihrer Existenz die Moral entwickelt, die den Kompromiss zwischen dem besonderen und dem allgemeinen Interesse darstellt und den Antagonismus beider in sich aufnimmt. Ein weiterer Zweck von Normen liegt also darin, das Zusammenleben aller langfristig aufrechtzuerhalten und zu sichern. Diese beiden Gründe lassen sich allgemeiner ausdrücken in dem Satz: Die Menschen brauchen Regeln, weil ihr Verhalten nur in geringem Maß biologisch festgelegt ist, weil sie kulturelle Lebewesen von Natur sind. Schließlich gibt es auch ein weiteres Motiv, das der Erleichterung des Verhaltens: Dem Individuum wird die Sorge um eine Reihe von Entscheidungen abgenommen, und zwar in Zweifelsfällen oder bei Zeitdruck, indem die Gesellschaft ihm das vorschreibt, was sich als Strategie zur Erzielung von Glück bewährt hat, oder, wie es meist der Fall ist, ihm das verbietet, was zum Unglück zu führen scheint. Das Individuum wird so vom Entscheidungsdruck ein Stück weit entlastet. Gleichzeitig wird das Verhalten aller berechenbarer, wodurch die gesellschaftliche Stabilität erhöht wird.

Ein solches System der Bahnung des individuellen Verhaltens ist ein zentrales Kennzeichen der Kultur. Es gehört zur Summe der zivilisatorischen Einrichtungen, die der Regulierung der Verhältnisse der Menschen untereinander und damit dem Schutz des menschlichen Lebens gegenüber der Natur dienen. Die kulturellen Normensysteme erreichen durch das Aufdistanzhalten der Triebansprüche des Einzelnen eine größere Stabilität und Sicherheit des ganzen, dies allerdings auf Kosten einer ursprünglicheren Freiheit des Individuums. Die herrschende Meinung, die sich in Institutionen und Normen verkörpert, fällt ein Urteil über das richtige und falsche Verhalten. Sie befindet sich in ständigem Fluss und verändert sich fortlaufend, sowohl in ihren Inhalten als auch in der Intensität, mit der sie die individuelle Freiheit der Entscheidung beschränkt. Genauso wenig wie die Meinungen der Individuen hat sie ein Anrecht auf Wahrheit oder die Gewissheit auf ihrer Seite, dass ihre Bewertungen und die auf dieser Grundlage vorgeschriebenen Strategien die richtigen oder nützlichsten seien. Auch die jeweilige Rationalität einer Gesellschaft ist immer nur eine mehr oder weniger lichtvolle Annäherung an die Vernünftigkeit an sich und kann nicht mehr sein. Dass aber der Einzelne, der seinem wohlverstandenen Egoismus folgt, stets die im allgemeinen Interesse besten Entscheidungen treffe, lässt sich genauso wenig erweisen wie die entgegengesetzte Ansicht, dass nur Gruppen oder Kollektive von Menschen klarsichtig handeln könnten.


Teil I.2
Die Formulierungsebenen des Arbeitsproblems

Hinter jeder Emotion und damit hinter jedem Verhalten, das aus den Emotionen folgt, müssen eine oder mehrere Ursachen stehen, aus denen das Verhalten erklärt werden kann. Das menschliche Verhalten lässt sich letztlich auf sechs Quellen zurückführen, die von einem gedachten Ort unserer Psyche aus, der Ich genannt wurde, gesehen werden können. Da das Ich die Eindrücke, die es empfängt, entweder als leidvolle oder als lustvolle Empfindungen wahrnimmt, können diese Quellen als Leidquellen oder Lustquellen, als Ursprünge der Emotionen und damit des von ihnen gesteuerten Verhaltens betrachtet werden. Die Quellen des Verhaltens lassen sich danach unterscheiden, ob sie außerpsychischer oder innerpsychischer Art sind. Außerpsychische Quellen des Verhaltens sind die Natur, die gesellschaftlichen Einrichtungen und der menschliche Körper. Die innerhalb der menschlichen Psyche angelegten Quellen des Verhaltens sind die ererbte Triebstruktur, das Funktionsbedürfnis des Ich sowie die im Lauf des individuellen Lebens erworbenen moralischen Anschauungen und Bewertungen der Menschen. Da Arbeit eine besondere Art von Verhalten ist, ergeben sich aus diesen sechs Quellen entsprechende und ebenso viele Formulierungsebenen oder Dimensionen des Arbeitsproblems.

An erster Stelle ist die uns umgebende Natur eine Quelle des Verhaltens. Zu ihren Einflüssen gehören



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