Gertrud M. Lettau

Gertrud M. Lettau
Kunst und Täuschung – Der Zauber Penelopes[1]

erschienen in: Stadt Wahn Kunst. Psychoanalyse und Philosophie, Jahrbuch 2020, hg. v. Christoph Weismüller, Düsseldorf: Peras Verlag, 2020, S. 109-120.

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank, dass Sie offensichtlich gewillt sind, meinem kleinen Vortrag über Penelopes Tun zu lauschen und damit auch mir die Chance geben, meine Gedanken, die tatsächlich der Spartanerin Produktion gemäß, nicht ohne die jeweilig entstandenen Fragmente immer wieder zu löschen und neu zu gestalten, allein in meiner kleinen ‚Kammer‘ zu einem Text ‚gewebt‘ wurden, hier vor Ihnen zu entfalten.
Mit einer kurzen Darstellung der Geschichte Penelopes aus Homers Odyssee möchte ich Ihr Wissen auffrischen, um Sie einzustimmen in die mythologische Gedankenwelt:

Während Odysseus, König von Ithaka und ein tapferer Kämpfer der Griechen im Trojanischen Krieg, schon seit Jahren – am Ende werden es zwanzig Jahre gewesen sein – die Weltmeere per Schiff durchsegelt, wartet seine treue Ehefrau Penelope, eine spartanische Prinzessin, sehnsüchtig auf seine Heimkehr.
Zahlreiche Freier, zu denen vor allem Antinoos und Eurymachos gehörten, waren schon in den Palast eingedrungen und harrten dort mehr oder weniger geduldig aus, um die Stelle von Odysseus, den sie für tot hielten, einzunehmen.
Penelope verstand jedoch, sie immer wieder zu vertrösten, indem sie vorgab, sie müsse erst ein Totentuch für ihren Schwiegervater Laërtes [2] weben. Allerdings trennte sie in der Nacht immer wieder auf, was sie am Tag gewebt hatte. Über drei Jahre ließen sich die Männer hinhalten, bis die treulose Dienerin Melantho sie verriet und die Freier sie bei ihrem nächtlichen Treiben überraschten. So war sie genötigt, ihre Taktik des Aufschubs zu ändern und eine andere List anzuwenden, indem sie die Freier in einen Wettkampf schickte, um den Sieger zu ermitteln, der sie ehelichen dürfte. Ihre List bestand darin, dass sie ihnen eine unmöglich zu lösende Aufgabe stellte: Die Bewerber sollten mit Odysseus’ Bogen zwölf Axtringe durchschießen. Keiner der Freier konnte den Bogen spannen. Nur dem inzwischen zurückgekehrten und von Athene als Bettler verkleideten Odysseus gelang dies, woraufhin er alle Freier tötete.
Mit der Heimkehr des Odysseus im zwanzigsten Jahr nach seiner Abfahrt in Richtung Troja sowie der Bestrafung der Freier und der treulosen Dienerin endet die Odyssee.
Gemäß der Telegonie heiratete Penelope nach dem Tod des Odysseus Telegonos, den Odysseus mit der Zauberin Kirke während seiner Irrfahrt gezeugt hatte. Penelope erhielt von Kirke die Unsterblichkeit. Nach einer späteren Überlieferung wurde Penelope durch Telegonos die Mutter des Italos.

Immer wieder geht es im Mythos um Zauber und Kunstfertigkeiten, um Zauberkraft und Zauberinnen. Der Zauber der Zauberinnen bestand allerdings meines Erachtens mehr im Anwenden ihres Wissens vom Übergang des Mythos zum Logos als im Logos selbst, mehr in der Metamorphose, die sich ja besonders Zeus zu Nutze machte, als in der Wirkung der Worte einer Rede.

„Besäß ich eine solche Zauberkraft der Rede wie Orpheus, daß Steine mir gehorchten“, lässt Euripides seine Iphigenie sagen...
Ursprünglich waren Baum und Stein kultisch verehrte Göttermale/-stätten, an denen das Numen der Gottheit beschworen wurde beziehungsweise in Erscheinung trat.
Nicht zuletzt denke man auch an die mächtige Zauberin Kirke, die eine wichtige Rolle in der Odyssee einnimmt, und zwar nicht nur für Odysseus, sondern auch später für Penelope.

Um es direkt eingangs zu sagen, Penelopes Zauber, der tatsächlich wirkt, also ‚wirkmächtig‘ ist, was den Schutz ihrer Person, aber wohl auch den ihres seit zwanzig Jahren verschollenen und durch die Weltmeere irrenden Ehemanns Odysseus betrifft, hat vielleicht etwas mit Täuschung, aber de facto nichts mit Betrug zu tun, auch wenn die ungebetenen, unerwünschten Freier, die schon in ihrem Palast sitzen mit der sich sicher auch selbstüberschätzenden Meinung eines Anspruches auf sie, dieses so sehen, vielleicht gar so sehen müssen. Immerhin garantiert die Einnahme der Position des Ehemanns von Penelope Anerkennung, Macht und Besitz und die nicht zu unterschätzende narzisstisch hoch wertvolle Genugtuung in der Identifikation mit dem totgeglaubten Helden Odysseus.

Aber im Unterschied zu Kirkes Zauber, der die Männer, die in ihren Palast eindringen, allesamt in Schweine verwandelt und in Ställe sperrt, ist Penelopes Zauberei eher eine magisch wirkende List, die ihr die Freier vom Leib hält, ohne ihnen etwas anzutun.

Inwieweit die konträren Thesen über Penelopes Webelist zwischen der Akzentuierung eines „Dissoziierens“ im Sinne Deleuze’ und „Synthetisierens“ im Sinne Serres’ (nicht) zutreffen, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Auf beide Denker geht Uta Caroline Sommer in ihrer Abhandlung: Penelopes Weben als Flucht an Ort und Stelle ein.[3]

Weder bin ich in meinem inzwischen veröffentlichten Text im Jahrbuch 2018 des Vereins Psychoanalyse und Philosophie, noch in meinem zweiten Vortrag zur Flucht, der von der Jahrbuchveröffentlichung abwich, auf die Arbeit von Frau Sommer eingegangen. Warum nicht? Weil ich Penelope einen gesonderten Vortrag widmen wollte, der ihre Kunst und deren Zauber, der – soviel mag hier schon verraten sein – Analogiezauber ist, in den Mittelpunkt stellt.

So möchte ich dem Impuls folgen, der von Penelopes ausgefallener und nicht zuletzt sanfter und doch effektvoller Art und Weise ihres Abwehr-Tuns ausgelöst wird. Speziell werde ich hier nur auf ihre spezifische Webelist eingehen und meiner Vorliebe getreu ihr Tun beleuchten und befragen und Analogien und funktionale Phänomene aus verschiedenen Fachbereichen aufzeigen.

Was das Weben und das Gewebe selber angeht, fragte ich mich in Anlehnung an die Marx’schen Termini Produktion, Konsumtion, Distribution, welcher Terminus wohl für das wiederholte Rückgängigmachen vor der Fertigstellung des Produkts, hier für das Auftrennen des Gewebes, zur Verfügung stände. Vielleicht der Terminus „Regression“ oder gar „Destruktion“? Es kamen mir Gedanken wie: Was Penelope in mythologischen Zeiten trennt, nämlich die Produktion am Tag und die Regression oder Dissoziation (Deleuze) in der Nacht, ist normalerweise ungetrennt im Produkt vorhanden, die Auflösungstendenz scheint letztlich jedem Produzierten, jedem Produkt selbst innezuwohnen. Dabei muss man nicht gleich an die (Atom-) Bombe denken, sondern an jegliche Kultur-Dinge und ihre Rettungsaber auch (Selbst-)Zerstörungsmacht.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist das, was Penelope macht, ein reines Verlustgeschäft:
Ihre tägliche Produktion wird nächtens von ihr wieder rückgängig gemacht. Tagsüber webt sie und nachts zieht sie alles wieder auf. Immer und immer wieder. Das ist folkloristisch gesprochen „gaga“! Doch schauen wir mal entgegen der herkömmlichen Allerweltsmeinung genauer hin und fragen wertfrei nach dem tieferen Sinn, oder nach der mythologischen Funktion. In erster Linie kann ohne Umschweife gesagt werden, dass es sich bei dieser irre anmutenden Tätigkeit Penelopes um die Nachbildung der Irrfahrt ihres ‚irren‘ (Pardon!) Mannes handelt, der seit Jahren kreuz und quer das Meer beschifft und einfach nicht nach Hause zu finden scheint.[4]
Produktionsgenerierung im Sinne der gewinnbringenden, männlich dominierten Ökonomie darf – wegen der unbedingten Vermeidung von Verlust – nicht rückläufig sein. Regression und Retardierung sind nicht positiv bewertet innerhalb der ökonomischen Logik, sie sind weder gewünscht, noch vorgesehen. Stetiges Wachstum und Gewinnmaximierung sind kapitalorientiertes Logistik-Programm.
Zudem hat produzierte Ware nach ökonomischen Gesichtspunkten auch zur Konsumtion und zur Distribution zur Verfügung zu stehen. Mit anderen Worten, das Produkt muss angepriesen, also beworben werden, damit es gebraucht, benutzt, genossen, kurz gesagt konsumiert werden kann.
Das ist bei Penelope nicht der Fall, ihr Produkt widersetzt sich geradezu dieser Prostitutionsfunktion, indem es einfach nicht fertig werden will und damit weder zur Konsumtion, zum Gebrauch, noch zur Distribution geeignet ist.
Obwohl die Produktion, besser gesagt Teil-Produktion zwar täglich geschieht, wird das Ende – und damit auch der mögliche (wessen?) Tod – immer wieder hinausgeschoben, das gewebte Kunstwerk jede Nacht aufgelöst. Das Gewebte erhält somit als potentielle Ware im abgeschlossenen Raum des kleinen Kämmerleins keine Öffentlichkeitswirksamkeit, keine Einsetzbarkeit. Käuflichkeit und Gebrauchbarkeit sind supprimiert. Der Warencharakter des gewebten (Kunst-) Objekts dementiert sich nicht nur in der Einbehaltung, Nichtpreisgabe, sondern auch und besonders in der nächtlichen Zerstörung.
Das scheinen die Kriterien weiblicher Hervorbringung von Kunst, wohl auch Schrift, in der Verbindung mit der Natur zu sein. Eine Art geistiger, vorrationaler, mythischer, Körper inkludierender, weiblicher Logos, mit Opferausgleichseinbeziehung.
Tatsächlich wird diese spezielle Besonderheit, ja pathologisch anmutende Anomalie, die sich allen Regeln einer fortschrittsorientierten Produktionslogik widersetzt, ja, sie geradezu zu verspotten scheint, wiedergefunden werden können in kosmischen, planetaren Zusammenhängen und im Körper der Frau.
In der (ursprünglich) weiblichen Logik allgemein und in der Logik Penelopes insbesondere machen sowohl die Regression als auch das Retardieren überlebenswichtigen Sinn. Nicht zuletzt weil das Weben und das Rückgängigmachen des Gewebten Aufschub und damit Zeit gewähren und zudem Raum geben zur Möglichkeit der Rückkehr ihres Gatten und Landesherrn. Weil ihre spezielle krank oder gar betrügerisch anmutende Webaktion das strukturell analoge Prozedere der Irrfahrt ihres Gatten darstellt, da sie in ihrem Tun seine Irrfahrt in Szene setzt, ihn in der Immanenz des Webens in der Transzendenz seiner mythologischen Reise begleitet, versucht sie ihn und sich zu schützen.
Die Analogie des Webens, die, genau betrachtet, ein „funktionales Phänomen“[5] des Traums der Mythologie zwischen ‚natürlicher‘ und ‚künstlicher Symbolik‘ zur Abenteuerreise des Odysseus darstellt, kann man sich vor Augen führen, indem die Technik des Webens näher angeschaut wird. Das ‚Web-Schiffchen‘, das beim Weben wellenförmig mit seinen Schussfäden die Kettfäden über- und unterschifft, bewegt sich wie das Schiff des Odysseus auf den Wellen des Mittelmeeres und gibt ihm im vorgegebenen Rahmen Struktur. Immer aber, wenn das Schiff des Odysseus in die Irre führt, was seit Jahren der Fall zu sein scheint, so ist die Vorgabe des exakten Weges zurück nach Hause gegeben durch die korrekte Rückgängigmachung des Gewebten, was nur möglich ist durch die umgekehrte Führung des Schiffchens in der entgegengesetzten Bewegung der Fadenführung.[6] Das heißt, immer wieder wird damit der Weg zum Ausgangsort, also nach Hause aufgezeigt, wo das Leichentuch des Vaters von Odysseus gewebt wird, auf dass er beerdigt werden kann. Ödipus lässt grüßen.
Ökonomisch, im Sinne eines gewinnmaximierenden wirtschaftlich bedeutsamen Nutzens, ist die Webarbeit Penelopes sicher nicht. Jedoch auf die Zeit bezogen, die Odysseus braucht, um nach Hause zu finden, ist der ökonomische Nutzen ihrer Weblist Gewinn und zwar Zeitgewinn.
Es ist also tatsächlich durch die Gewinnung von Zeit nicht nur ein Versuch des Hinhaltens der Belagerer, sondern auch ein mimetischer, magisch-mystischer Akt des ideellen, immanent dinglichen und wie sich zeigen wird auch körperlichen Begleitens der abenteuerlich gefährlichen Reise des Odysseus. Nicht umsonst also wird Penelope als die treue Gattin gehandelt. Nur, dass diese Charakterisierung zu wenig vermittelt von dem, was Penelope tatsächlich ist und leistet.

Wer Zeit mythologisch denkt, kommt nicht umhin, an die drei Schicksalsgöttinnen zu denken, seien es die Moiren aus der griechischen – oder die Nornen[7] aus der nordischen Mythologie und an ein wunderbares Zitat von Friedrich Schiller:
„Dreifach ist der Schritt der Zeit.
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.“[8]



Gertrud M. Lettau
Nornerne, Constantin Hansen (CC0)



De facto sind in Penelope, oder besser gesagt in Penelopes Tun, alle drei, ich sollte sagen: alle sechs Schicksalsgöttinnen vereinigt. An dieser Stelle sei nur auf die Nornen verwiesen, die einen spezifischen Bezug zur Zeit haben, und zwar nicht nur in der Funktion der Abstraktion oder Disponibilisierung der Zeit

– Urd ist die Norne der Vergangenheit!
Verdandi ist die Norne der Gegenwart!
Skuld ist die Norne der Zukunft! –,

sondern jeweils auch in der Funktion des Produzierens, des Werdens, dem moralischen Anspruch der Pflichterfüllung, des Sollens:

– Urd ist nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gewordene!
Verdandi ist nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Werdende!
Skuld ist nicht nur die Zukunft, sondern auch die werdend Sollende! –

Dieser zeitlich relevante und schicksalhafte Prozess des Werdens und Vergehens des Seienden und des Sollenden vollstreckt sich weniger in einem von Penelope autonom in Regie genommenen, planenden und geplanten Produzieren und Gestalten, als vielmehr mit ihr, an ihr und durch sie hindurch, fast könnte man sagen primärprozesshaft, vorbewusst, unbewusst bewusst, typisch ursprünglich zyklisch ontisch. Dass ein Mann, nämlich Ovid, dies geschrieben und Penelope in Szene gesetzt hat, zeugt von einem ungeheuren Verständnis und Wissen des Mannes über Frau! Ach… Seufz…!

Gertrud M. Lettau

Betrachtet man das Tun Penelopes unter dem Aspekt der Möglichkeit von Repräsentation als Erscheinung und Anschein, so werden die Fassetten der Sichtbarkeit, der Unsichtbarkeit und des mythologischen Geheimnisses spruchreif. Es ist das Adaptieren an die Natur, die Mimesis an den Tag-Nacht-Wechsel.

Wie die Nacht mit dem schwindenden Licht des Tages die Bilder und Dinge wegnimmt, so entfernt in der Nacht Penelope das Gewebte. Das Leichentuch als Hülle für den Schwiegervater und Vater von Odysseus, die ja beide verschollen, aber noch nicht tot sind, wie der Mythos zu erzählen weiß, wird in das Unsichtbare der Nacht eingegeben, indem das Gewebe ins Nichts zurückverwandelt wird. Das Leichentuch verschwindet quasi dialektisch in die dunkle Umhüllung der Nacht, wird synthetisch aufgehoben im dreifachen Hegel’schen Sinn: 1. aufgehoben im Sinne von Vernichten/Vergehen; 2. aufgehoben im Sinne von Erhalten in anderer Form und 3. aufgehoben im Sinne von erhöhen, inkrementieren, auf eine höhere Ebene gehoben, da die Nacht selbst sich wie ein dunkles Leichentuch auf die Welt legt und alles Sichtbare umhüllt.[9]

Der Tag lässt die Dinge, die Bilder wieder sichtbar werden, als würden sie aufs Neue sich aus der a-repräsentativen Umhüllung der Nacht entwickeln, so, wie das Gewebe Penelopes wieder neu entsteht.[10]

Gertrud M. Lettau

Von daher ist Penelopes Tun vordergründig destruktiv, bei näherem Hinsehen aber ein mimetischer Akt an den Tag-Nacht-Wechsel, der sich den Zauber der Natur zunutze macht. Eine Zauberei, die generell davon lebt, Dinge hervorzubringen und wieder verschwinden zu lassen, Präsentation und Repräsentation zu differenzieren, und damit Re-Präsentations-Irritationen zu demonstrieren oder schöner gesagt einen künstlichen Analogiezauber darzubieten, der aber den Tod – auch den der Dinge – nicht ausschließt, sondern mit berücksichtigt.

Nun, zu Beginn meines Vortrags wies ich darauf hin, dass diese Aktion Penelopes in kosmischen, planetaren Zusammenhängen und im Körper der Frau wiederzufinden sei.
Was zum Zyklus der Frau gewusst – und auch mittels modernster Technik inzwischen nachgewiesen werden kann, wurde noch in mythologischen, vorrationalen Zeiten in Verbindung gebracht mit den Wirkungen von Wasser, dem Licht der Sonne oder auch des Mondes.

Erst wesentlich später wurde die Empfängnis mit dem Samen des Mannes in Verbindung gebracht, der – so aber der Irrtum der Präformationslehre[11] – allein den Embryo enthalte, den die Frau beim Koitus als „fruchtbare Erde“ empfängt, ohne dass auch ihre Erbanlagen zur Entstehung des Kindes beitragen.[12]

Welch eine (Selbst-)Überschätzung der Potenz des Mannes. Was gibt der weibliche Körper als Erklärung dafür her? Was Penelope mittels ihres Webstuhls und des produzierten und reduzierten Leichentuch-Gewebes Tag für Tag entwirft, ins Leben ruft und Nacht für Nacht verwirft, rückgängig macht, kann als funktionales Phänomen wiedergefunden werden im monatlichen Zyklus der Frau.[13] Nein, umgekehrt, was die körperliche Vorgabe weiblicher Ökonomie ist bis hin zur Generierung des Lebens unter zugegebenermaßen geringster Mithilfe des Mannes kehrt wieder im mythologischen Prozedere Penelopes. Indem die Gebärmutter-Schleimhaut aufgebaut, gewebt wird, wie das Gewebe der Penelope, um sich nach nicht erfolgter Befruchtung des sich schon eingenisteten Eis wieder aufzulösen in der Menstruation. Die Menstruations-Blutung, das ist das Opfer des Weibes dafür, dass es produktiv vorbereitet war auf seine Eingabe und enttäuscht wurde als es nicht gelang. Zugleich aber ist dieses weibliche Opfer auch die weibliche Tötungspotenz, die Menstruation, die den unzähligen (wieviel?) ungebrauchten Samen des Mannes hinwegschwemmt.

Gertrud M. Lettau

Indem Penelopes Webeaktion im Wechsel von Konstruktion und Dekonstruktion ohne Frage verglichen werden kann mit diesem ureigenen weiblichen Zyklus, habe ich aber erneut ein Zeitproblem. Während der weibliche Zyklus etwa vier Wochen in Anspruch nimmt, dauert die Weblist Penelopes jeweils einen Tag, noch genauer einen Tag und eine Nacht. Der Zyklus der Frau besteht zwar auch grob gesagt in zwei Phasen des Aufbaus und des Abbaus. Tausend Jahre wie ein Tag? Mythologische Zeit? Penelope verdichtet, verengt den weiblichen Zyklus, der immerhin etwa vier Wochen Zeit in Anspruch nimmt auf 24 Stunden. Indem Penelope in ihrer speziellen Websituation ihren weiblichen Zyklus objektiviert und mit dem Tag-Nacht-Wechsel in Zeitrafferversion vorstellt, verkürzt sie die Zeit, die sie zugleich im Aufschub gewinnt. Wer denkt hier nicht an die drei Moiren, die einen Unterschied bedeuten zu den Weberinnen, Lachesis, Klotho und Atropos. Lachesis bedeutet Zuteilerin und ist in der griechischen Mythologie eine der Schicksalsgöttinnen. Sie hat die Aufgabe, die Länge des Lebensfadens zu bemessen, der von ihrer Schwester Klotho gesponnen und von Atropos durchtrennt wird.
Wie aber wäre die Analogie der beiden Zyklen von Werden und Vergehen, hier der Tag-Nacht-Zyklus des Webens und Auf-Trennens und dort der weibliche monatliche Zyklus des Bildens und der Rückbildung der Gebärmutterhülle, trotz so großer Zeitunterschiede aufrechtzuerhalten? Retten wir uns zu den Planeten!

Die Erde dreht sich viel schneller um ihre Achse als der Mond, ein Tag dauert hier etwa vierundzwanzig Stunden. Auf dem Mond vergeht dagegen von einem Sonnenaufgang zum nächsten ein voller Mondmonat, also etwa neunundzwanzig und ein halb Tage.

Penelope mythologisch auf dem Mond? Wohl besser gesagt, ist Penelope im Einklang mit ihrem und dem Erde-Mond-Zyklus. Wie schon oben erwähnt, wurde der Zyklus der Frau mit dem Mond in Verbindung gebracht.[14] Das, was anfangs mehr als zu irritieren schien in der Webeaktion Penelopes, bekommt bei der Betrachtung hoch komplexer Naturphänomene tatsächlich einen tiefen Sinn. Ihr Rückzug bis hin zur Auflösung ihres Produkts ist lebensrettend, lebensspendend und Gedächtnis-konstituierend zugleich. Gegen permanentes Wachstum ohne Reflektion und Regression setzt sie den Zauber der Natur, der überhaupt nichts mit Betrug zu tun hat.
Fragt man zum Schluss, die Frage der Titelfrage, die ja wohlweislich nicht als Frage gestellt ist, sondern als Konnexion formuliert, also keine Frage ist und somit schon zu Anfang offenbart: Kunst und Täuschung gehören auf wunderbare Weise zusammen, vielleicht in der Form, wie es Baudrillard in einem Interview einmal viel genauer mit dem Begriff der Illusion ausgedrückt hat, nämlich dass Kunst die Fähigkeit zur Illusion ist, wobei Illusion bedeutet, „etwas aufs Spiel zu setzen, sich der Magie des Scheins auszuliefern, dem Geheimnis. Simulieren ist immer ein Spiel mit dem Selben. Illusion dagegen ist ein Spiel mit dem anderen, mit der Andersheit, der Alterität. Illusion ist Verführung. Simulation ist zwar auch faszinierend, anziehend, aber nicht verführerisch, kein Duell, kein Ereignis.“[15]

Einen besseren Schluss kann ich mir nicht vorstellen.
Vielen Dank!


Anmerkungen

[1] In dieser Form schriftlich überarbeiteter Vortrag, den ich am 02. Februar 2019 im Haus der Universität in Düsseldorf auf einer Veranstaltung des Instituts für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gehalten habe.

[2] Manche antiken Schriftsteller bestritten auch, dass Laërtes der Vater von Odysseus war; dieser sei vielmehr in Wirklichkeit der Sohn des Sysiphos und der Antikleia gewesen, die dann als bereits Schwangere mit Laërtes vermählt worden sei. Die drei großen griechischen Tragödiendichter benutzten diese Sagenversion gern immer dann, wenn sie Widersacher des Odysseus das Wort ergreifen ließen. Siehe: Hyginus Mythographus, Fabulae 201 und andere.

[3] Uta Caroline Sommer, Penelopes Weben als Flucht an Ort und Stelle. Unter: (ES)CAPE, Strategien des Entkommens, Onlinepublikation zur Forschungstagung des tfm, Institut für Theater-, Film-und Medienwissenschaft der Universität Wien, escape.univie.ac.at/wp-content/uploads/2015/05/sommer-escape.pdf (20.06.2020)

[4] Dass Odysseus trotzdem besonders unter Literaturwissenschaftlern bis heute als Held gefeiert wird, während Penelope mit ihrer ebenfalls vordergründig irre anmutenden, aber äußerst kunst- und sinnvollen Weblist kaum Erwähnung beziehungsweise Beachtung findet, lediglich hinsichtlich ihrer Treue dem abwesenden Ehemann gegenüber, mag kaum verwundern.

[5] Siehe zum „funktionalen Phänomen“ Herbert Silberer und viele andere.

[6] Das Gewebte rückgängig machen, ist – anders als Gestricktes oder Gehäkeltes, das einfach aufgeribbelt werden kann – nur möglich durch die umgekehrte Bewegung des Schiffchens, das zum Ausgangspunkt zurückführt. Siehe auch: Sommer, Penelopes Weben.

[7] Die Namen der Nornen in der Edda, Urd, Verdandi und Skuld, sind relativ jung, scheinen aber auf eine alte germanische Vorstellung einer namenlosen Dreiheit von Schicksalsfrauen zurückzugehen. Die einstigen Namen sind nicht bekannt. Ebenso wurden die Nornen erst in jüngerer Zeit zu Abstraktionen der Zeit.

[8] Friedrich Schiller (1795), Spruch des Konfuzius (erste Strophe), in: Sämtliche Werke, Band 1, München 1962, 226.

[9] Siehe nebenstehend die Darstellung der Nyx von William-Adolphe Bouguereau (1883).

[10] Siehe nebenstehend die Darstellung der Hemera von William-Adolphe Bouguereau (1881). Hemera ist in der griechischen Mythologie die Personifikation des Tages. Hemera ist nach Hesiod die Tochter des Erebos und der Nyx („Nacht“).

[11] Siehe nebenstehend Nicolas Hartsoeker (1656 – 1725), Darstellung der Präformation.

[12] Vgl. François Jacob, Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum genetischen Code, Frankfurt/M.: Fischer 1972.

[13] Auch was die Mitose beziehungsweise die Meiose angeht, gibt es einen Aspekt der Auflösung, nämlich den der Spindel. Sie entsteht als Leitfaden, Leitfäden müsste man sagen, die die Zellteilung allererst ermöglichen. Das Interessante daran ist, dass diese Spindelfäden zum Zweck der Produktion der Zellteilung entstehen, wenn diese abgeschlossen ist, bilden sie sich zurück. Genauer gesagt, werden in der sogenannten Telophase zunächst die Chromosomenfasern, später auch die Polfasern wieder abgebaut.

[14] Siehe auch: Hyginus Mythographus, poetica astronomica.

[15] Die Magie des Scheins. Ein Interview mit Jean Baudrillard vom 23.06.1997;
www.spiegel.de/spiegel/kulturspiegel/d-8732998.html (20.06.2020)