Gertrud M. Lettau

Gertrud M. Lettau
Brief an einen Sohn

am 22.03.22

Lieber Wladimir Wladimirowitsch,

ich schreibe dir jenseits irgendwelcher strategischer Hintergedanken oder polit-ökonomischer Interessen. Dazu bin ich viel zu unbedeutend. Ich schreibe Dir so, wie es vielleicht eine Mutter tun würde, wenn sie das mit dir und dem Krieg erleben müsste.
Ich schreibe dir deswegen, weil ich im Rückblick auf die Geschichte und deine mir lediglich medial vermittelte Person eine Offenbarung erlebe. Eine Offenbarung hinsichtlich eines einstmals kleinen Jungen, der sich wirklich standhaft nach oben gearbeitet hat und dann erkennen musste, dass es nicht reicht.
Nicht reicht für den Respekt, den du verdient hättest.
Nicht reicht für die Anerkennung und Aufnahme in die Gemeinschaft der Welt.
Nicht reicht dafür, dass die permanenten Demütigungen durch die, die dir keinesfalls wirklich das Wasser reichen können, sich verwandeln in Beachtung, Wertschätzung und Anerkennung.
Nicht reicht für das eigene Volk, nicht reicht für so viele Dinge, die wünschenswert gewesen wären, obwohl du doch wirklich das flächenmäßig größte Land der Welt regierst, was dazu noch wunderschön ist, ich kenne es ja nur von Bildern und Filmen her.
Also hast du begonnen, dir deine eigene Welt zu schaffen, Kriegsdinge anzuhäufen, mit denen du dir Respekt verschaffen kannst, auch aufzurüsten - damit bist du ja wahrlich nicht alleine in der Welt – und weil alles nichts genutzt hat, einen Krieg zu beginnen, der tatsächlich endlich dein Krieg ist und nicht der der anderen. Und doch sterben die Anderen, die vielen Anderen. Aber es scheint ja nicht so zu sein, dass du es aus freien Stücken tust. Warum aber dann?
Warum machst du es? Weil du es kannst! Tatsächlich? Deswegen?

Weil du es kannst? Natürlich kannst du es, man kriegt es ja mit. Aber das ist es nicht alleine. Nein, das allein ist es nicht.

Scheinbar aber waren andere Mechanismen ausschlaggebend für den materiellen, technischen und politischen Erfolg als die, an die du geglaubt hast.

An was hast du geglaubt?

An Gerechtigkeit? An den Erfolg durch Arbeit daran? An Freundschaft und Loyalität? An Solidarität? An Respekt und Miteinander? An Trost und Schutz und Liebe?

Oder an Macht, Gewalt und Unterwerfung?

Dann musst du dich fragen, was bleibt denn dann noch übrig? Nur Jasager und Untertanen, die dir nicht die Meinung sagen, die dir auch deswegen nicht gewachsen sind.

Mir scheint es manchmal so, als hätte die Demokratie genau so versagt wie jegliche Autokratie.

Die Demokratie, wo noch der letzte Arsch meint, er hätte was zu sagen?

Die Autokratie, die permanent sich bedroht fühlen muss durch Menschen, die keine Schafe sind und sein wollen.

Es ist eine Spirale, aus der man nicht herauszukommen scheint. Am Ende ist man sehr isoliert und man hat nur noch die Möglichkeit, diese Isolation in Machtdemonstration und Macht-Ausübung zu transformieren.
Ich verstehe das sehr gut.

Aber ich weiß auch, dass alles seine Zeit hat und dass es jetzt Zeit zum Verhandeln ist auf Augenhöhe. Sie werden es schaffen müssen und du auch, mein Sohn, zeig ihnen, dass es geht.

In Liebe und im Namen der Frauen, die deine Mutter hätten sein können.

Maria Anne